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OLG Hamm Urteil vom 09.10.1992 - 9 U 14/92 - Zur Kollision eines von einer Bundesstraße nach links in einen Feldweg abbiegenden Treckers mit einem überholenden Pkw

OLG Hamm v. 09.10.1992: Zur Kollision eines von einer Bundesstraße nach links in einen Feldweg abbiegenden Treckers mit einem überholenden Pkw


Das OLG Hamm (Urteil vom 09.10.1992 - 9 U 14/92) hat entschieden:
Wer mit einem Treckergespann von einer Bundesstraße nach links in einen schwer erkennbaren Feldweg abbiegen will, muss damit rechnen, dass nachfolgende Kraftfahrer seine Absicht nicht erkennen, und daher auch noch nach Beginn des Abbiegevorgangs den rückwärtigen Verkehr beobachten.


Siehe auch Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger


Zum Sachverhalt: Der Bekl. wollte mit seinem Treckergespann von einer Bundesstraße nach links in einen Feldweg abbiegen. Hierbei kam es zur Kollision mit dem ihn überholenden, vom Zeugen W geführten Pkw des Kl. Die auf Ersatz von 75 % des am kl. Pkw entstandenen Schadens gerichtete Klage war in 2. Instanz erfolgreich.


Aus den Entscheidungsgründen:

1. Die Bekl. haben nicht bewiesen, dass der Bekl. zu 1) die ihm nach § 9 I StVO als Linksabbieger obliegen-den Sorgfaltspflichten erfüllt hat und der Unfall für ihn unvermeidbar war.

Der Bekl. zu 1) ist mit einer Geschwindigkeit von bereichsweise 10 bis 20 km/h gefahren, als er den Abbiegevorgang einleitete. Er befand sich mit dem Gespann bei Abbiegebeginn noch 15 m vor dem Unfallort. Bei einer Geschwindigkeit von 10 km/h benötigte er 5,5 sec bis zum Kollisionsort, bei 20 km/h ca. 2,7 sec. Zu diesen Zeitpunkten war das kl. Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von 77 km/h 55 m entfernt, bei 100 km/h 77 m. Der Zeuge W konnte von dem Bekl. zu 1) als Überholer zu diesen Zeitpunkten sicher erkannt werden, und zwar jedenfalls in einem Abstand von 77 m, unabhängig davon, ob das Überholmanöver scharf oder sanft, also in einen flachen Winkel eingeleitet war. Der Bekl. musste den Pkw des Kl. als überholendes Fahrzeug auch sehen, wenn er der ihm obliegenden Rückschaupflicht genügt hätte.

Grundsätzlich gilt zwar, dass vor Einleitung des Abbiegemanövers die doppelte Rückschaupflicht zu erfüllen ist. Liegen jedoch besondere Umstände vor, besteht die Rückschaupflicht auch da-nach, also während des Abbiegevorganges (vgl. OLG Frankfurt/ M., VerkMitt 1977, 46; Jagusch/Hentschel, StraßenververksR, 31. Aufl., § 9 StVO Rdnr. 25). Hier oblag es dem Bekl. zu 1), auch nach der Betätigung der Abbiegeabsicht den rückwärtigen Verkehr zu beobachten. Dies ergibt sich aus seiner besonderen nach § 9 I StVO normierten Sicherungspflicht gegenüber den nachfolgenden Verkehrsteilnehmern in der gegebenen Situation. Es muss nämlich berücksichtigt werden, dass der Bekl. zu 1) mit einem sehr langsamen Fahrzeug auf einer für schnellen Verkehr bis zu 100 km/h ausgelegten Straße in einen völlig untergeordneten, schwer erkennbaren Feldweg abbiegen wollte. Aus den dabei entstehenden hohen Geschwindigkeitsdifferenzen folgen besondere Gefahren, die insb. der Bekl. zu 1) zu bedenken und zu beherrschen hatte. Aus der Sicht eines Überholenden ist nämlich bei einem Trecker auf freier Strecke nicht ohne weiteres aus der geringen Geschwindigkeit auf ein bevorstehendes Abbiegen zu schließen, weil solche Fahrzeuge immer bedeutend langsamer sind, mithin dem objektiv äußeren Anschein nach die klassische Situation eines zulässigen Überholens gegeben ist. Das Treckergespann, die Zugmaschine und der Anhänger sind etwa 2,5 m breit. Auf dem 4,50 m breiten Fahrstreifen kann wegen dieser Breite – im Vergleich zur einfachen Pkw-Größe und -Breite – auch dann nicht unbedingt auf eine Abbiegeabsicht geschlossen werden, wenn der Abstand zum Mittelstreifen geringer ist. Umgekehrt musste der Bekl. zu 1) jeden nachfolgenden Pkw als potentiellen Überholer ansehen. Deshalb hatte er den nachfolgenden Verkehr ständig im Auge zu behalten.

Hätte der Bekl. zu 1) während der Einleitung des Abbiegens den rückwärtigen Bereich der B 70 beobachtet, hätte er bei einer Geschwindigkeit von 20 km/h zwar nicht mehr rechtzeitig bremsen können, weil er bei einer Bremsverzögerung von 5,5 m/sec'- ca. 5 m vor dem Kollisionsort zum Stehen gekommen wäre und in dieser Position die linke Fahrbahn für den Pkw des Kl. nahezu völlig versperrte. Er hätte jedoch - 1,7 sec vor dem Unfall - sein Gespann wieder nach rechts ziehen können und dem Zeugen W hinreichend Platz gelassen, links vorbeizufahren. Bei einer Geschwindigkeit des Treckers von 10 km/h wäre das Abbremsen bis zum Stillstand in der gleichen Position, die dem Zeugen W das Vorbeifahren gestattete, möglich gewesen.

Der Sachverständige hat ergänzend ausgeführt, dass bei der günstigsten Annahme für den Trecker - das ist eine Geschwindigkeit von 10 km/h - spätestens 3,3 sec vor dem Unfall der Pkw des Kl. als Überholer erkennbar gewesen sein muss, selbst dann, wenn der Zeuge W mit einer schroffen Lenkbewegung den Überholvorgang eingeleitet hätte. Denn auch dies wäre spätestens zu diesem Zeitpunkt erfolgt. Der Bekl. konnte folglich auch in diesem Falle wie dargelegt reagieren, nämlich bremsen oder das Linksabbiegen abbrechen und den Unfall vermeiden.

Der Bekl. zu 1) kann sich nicht damit entlasten, aufgrund der Bauart des Anhängers sei seine Sicht nach hinten eingeschränkt gewesen. Für diesen Fall oblag ihm die nach § 9 V StVO normierte höchste Sorgfalt, so dass er in der gegebenen Situation ohnehin nicht unbesehen hätte abbiegen dürfen.

2. Auch für das Fahrzeug des Kl. ist Unabwendbarkeit i. S. des § 7 II StVG nicht bewiesen. Der Kl. hat insb. nicht den Beweis geführt, bei Annäherung an das Treckergespann habe der Zeuge W nicht rechtzeitig die Abbiegeabsicht des Bekl. zu 1) erkennen können. Zwar hat der Zeuge bekundet, der Bekl. zu 1) habe nicht den linken Blinker ausgelegt. Der Senat bemisst den Beweiswert seiner Aussage jedoch nicht höher als den des Vorbringens des Bekl. zu 1). Denn er ist selbst unfallbeteiligt und müsste einen groben Fahrfehler zugeben. Der Senat geht zwar nicht davon aus, der Zeuge habe subjektiv falsch ausgesagt. Das Erinnerungs- und Vorstellungsbild eines Unfallbeteiligten wird bei Verkehrsunfällen jedoch in der Regel wesentlich von der sich sofort stellenden Schuldfrage geprägt, so dass bei einem Kraftfahrer, der möglicherweise einen wesentlichen Umstand aus Unachtsamkeit übersehen- hatte, die Überzeugung gebildet wird, der übersehene Umstand habe auch tatsächlich nicht vorgelegen.

Ein schuldhaftes Verhalten, welches die Betriebsgefahr des Pkw des Kl. hätte erhöhen können, ist allerdings nicht bewiesen. Der Bekl. zu 1) hat zwar behauptet, der Zeuge W sei mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, deshalb habe er ihn auch nicht rechtzeitig bei seiner Rückschau erkennen können. -diese Behauptung trifft jedoch nicht zu. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, der Zeuge W sei mit einer höheren Geschwindigkeit als der im Unfallbereich mit 100 km/h zugelassenen gefahren.

Es lässt sich ferner nicht feststellen, der Zeuge W habe falsch oder zu spät reagiert. Nach den für den Kl. hier gebotenen günstigsten Annahmen muss von einer Eigengeschwindigkeit seines Pkw von 100 km/h ausgegangen werden. Bei der nach der Kollisionsgeschwindigkeit anzunehmenden Reaktion in einem Abstand von 75 m - entsprechend 3,3 sec vor dem Unfall - setzte die Bremsverzögerung 47 m vor dem Kollisionsort ein. Der Unfall war bei diesen Abständen nicht mehr vermeidbar. Erforderlich war eine Reaktion 0,6 sec zuvor, also bei einem Abstand von 92 m. Zu dieser Zeit hatte der Trecker aber die für den Zeugen W entscheidende Signalposition noch nicht erreicht.

3. Bei der nach § 17 I 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge stehen sich die einfache Betriebsgefahr des überholenden Pkw des Kl. und die durch einen schuldhaften Verstoß erhöhte Betriebsgefahr des Treckergespannes gegen-über. Dabei muss - wie dargelegt - besonders berücksichtigt wer-den, dass das Abbiegen auf freier Strecke mit einem langsamen Fahrzeug besondere Gefahren schafft, die ein Höchstmaß an Sorgfalt des Abbiegenden erfordert; diese Sorgfalt hat der Bekl. zu 1) im vorliegenden Fall verletzt. Der Abbiegende verursacht darüber hinaus ohnehin die größere Gefahr im fließenden Verkehr, weil er die Richtung ändert, wobei hier erschwerend hinzukommt, dass das Abbiegen in den Feldweg auch nicht zu erwarten war, weil die Einmündung bei Annäherung nur schwer zu erkennen ist. Bei unaufgeklärtem Hergang eines solchen Unfalls - auch ohne dass gefahrerhöhend ein Verschulden zu Lasten des Linksabbiegers feststeht - nimmt die Rechtsprechung überwiegend dessen höhere Haftung mit einer Quote von etwa 3/5 bis 2/3 an (vgl. OLG Koblenz, VersR 1977, 262; OLG Hamm, VersR 1981, 340; KG, -VerkMitt 1990, 52; Jagusch/Hentschel, § 9 StVO Rdnr. 55 m.w.Nachw.). Ist bei einem derartigen Unfall der Hergang zum großen Teil nicht aufgeklärt, steht aber fest, dass dem Linksabbieger insofern ein Verschulden zur Last zu legen ist, als er den Abbiegevorgang nicht ab-gebrochen hat, obwohl er bei der gebotenen weiteren Beobachtung des rückwärtigen Verkehrs dazu in der Lage gewesen wäre, ist es gerechtfertigt, ihm die Haftung mit einer Quote von 3/4 aufzuerlegen.