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OLG Brandenburg Urteil vom 28.09.2006 - 12 U 61/06 - Zur Haftung des zu spät blinkenden Linksabbiegers

OLG Brandenburg v. 28.09.2006: Zur Haftung des zu spät blinkenden Linksabbiegers


Das OLG Brandenburg (Urteil vom 28.09.2006 - 12 U 61/06) hat entschieden:
Hat der Linksabbieger zwar geblinkt, dies allerdings relativ spät getan, als der Überholvorgang bereits begonnen war, so kommt bei der Kollision mit einem Überholer eine Haftung von 80 : 20 zu Lasten des Linksabbiegers in Betracht. Auch wenn der Überholer das Blinken wahrnimmt, muss er den bereits begonnenen Überholvorgang nicht abbrechen.


Siehe auch Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger


Aus den Entscheidungsgründen:

"... b) Die Voraussetzungen für eine Haftung der Beklagten nach § 7 Abs. 1 StVG sind gegeben, da bei dem Betrieb des Kraftfahrzeuges der Beklagten zu 2. das Fahrzeug des Klägers beschädigt worden ist. Da sich keine der Parteien auf einen Haftungsausschluss gemäß § 7 Abs. 2 StVG beruft und ein solcher auch nicht ersichtlich ist, ist gemäß § 17 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 StVG eine Haftungsabwägung der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge vorzunehmen. Dabei hat das Landgericht zu Recht zu Lasten der Beklagten einen groben Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1. berücksichtigt, indem dieser gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen hat. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei dem Weg, in den der Beklagte zu 1. abbiegen wollte, um einen Waldweg, der einer in Grundstückseinfahrt im Sinne des § 9 Abs. 5 StVO gleichzustellen ist, oder um eine Verbindungsstraße handelt. Für den Beklagten zu 1. galten jedenfalls auch bei einer gewöhnlichen Straßeneinmündung die Pflichten aus § 9 Abs. 1 StVO. Danach war der Beklagte zu 1. verpflichtet, die Absicht des Linksabbiegens gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO rechtzeitig anzukündigen, sich bis zur Mitte möglichst weit links einzuordnen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 StVO) und vor dem Einordnen nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten (§ 9 Abs. 1 Satz 4 StVO). Nach dem Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme steht auch zur Überzeugung des Senats fest, dass der Beklagte zu 1. gegen diese Pflichten verstoßen hat, indem er weder seine Abbiegeabsicht rechtzeitig angekündigt hat, noch beim Abbiegen der doppelten Rückschaupflicht genügt hat. Der Zeuge H. hat bekundet, dass der Beklagte zu 1. plötzlich ruckartig nach links herübergezogen sei, als sich der Zeuge bereits im Überholvorgang befunden habe.

Das Herüberziehen und Blinken sei fast gleichzeitig erfolgt. Der Beklagte zu 1. habe sich auch nicht mittig eingeordnet. Der Zeuge K., der an dem Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits erkennbar unbeteiligt ist und gegen dessen Glaubwürdigkeit oder die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen keine Bedenken bestehen, hat ebenfalls bekundet, dass zwischen dem Blinken des Fahrzeuges der Beklagten zu 2. und dessen Abbiegen in den Waldweg nur eine sehr kurze Zeit vergangen sei und der Beklagte zu 1. erst dann gebremst habe. Zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte zu 1. geblinkt habe, habe der Zeuge H. bereits zum Überholen angesetzt.

Insoweit war sich der Zeuge sicher, dass der Transporter des Klägers sich bereits auf der Gegenfahrbahn befand, als der Beklagte zu 1. den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt habe.

Der Zeuge hat den Eindruck gehabt, dass der Beklagte zu 1. sich sehr kurz entschlossen habe, nach links abzubiegen (Bl. 51 GA). Dem entspricht die Aussage des Zeugen K. im Ermittlungsverfahren, wonach zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte zu 1. den Fahrtrichtungsanzeiger betätigte, der Zeuge H. bereits den Überholvorgang begonnen hatte. Da der Zeuge K. zudem bestätigt hat, das Fahrzeug des Klägers im Rückspiegel wahrgenommen zu haben, folgt daraus, dass das Fahrzeug des Klägers auch für den Beklagten zu 1. im Rückspiegel erkennbar gewesen sein muss und bei einem nochmaligen Blick im Rückspiegel vor Beginn des Abbiegevorganges durch den Beklagten zu 1. hätte erkannt werden können. Unter diesen Umständen kann der Umstand, dass es dennoch zum Zusammenstoß der Fahrzeuge gekommen ist, nur damit erklärt werden, dass der Beklagte zu 1. seiner doppelten Rückschaupflicht gemäß § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO nicht nachgekommen ist, da er andernfalls das Fahrzeug des Klägers hätte bemerken müssen. Soweit der Zeuge K. bekundet hat, der Beklagte zu 1. habe bereits vor der Autobahnbrücke den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt, hat er dies im weiteren Verlauf der Aussage dahingehend relativiert, dass es auch sein könne, dass der Beklagte zu 1. den Fahrtrichtungsanzeiger erst betätigt habe, als er schon unter der Autobahnbrücke war. Da nach der polizeilichen Unfallskizze zwischen der Autobahnbrücke und der Einmündung ein Abstand von 20,80 m liegt, steht aufgrund der Angaben des Zeugen K. fest, dass der Beklagte zu 1. den Fahrtrichtungsanzeiger erst gesetzt hat, als er sich unter der Autobahnbrücke befand zu einem Zeitpunkt, als der Zeuge H. bereits zum Überholen angesetzt hatte.

Demgegenüber ist ein Verstoß des Zeugen H. in § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO nicht bewiesen. Eine unklare Verkehrslage lag unter den gegebenen Umständen nicht vor. Eine solche ist gegeben, wenn nach den Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf, weil sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende jetzt sogleich tun wird (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 5 Rn. 34). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass zu Beginn des Überholvorganges durch den Zeugen H. eine unklare Verkehrslage nicht bestand, da aufgrund der Angaben der Zeugen H. und K. feststeht, dass zu diesem Zeitpunkt der Beklagte zu 1. den Fahrtrichtungsanzeiger noch nicht gesetzt hatte. Weder der Beklagte zu 1. noch der Zeuge K. fuhren besonders langsam, so dass der Zeuge H. ohne besondere Umstände nicht davon ausgehen musste, dass der Beklagte zu 1. nach links abbiegen wollte, selbst wenn die Einmündung von der Autobahnbrücke bereits einsichtig gewesen sein sollte. Nachdem der Zeuge H. unter diesen Umständen den Überholvorgang ohne Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO beginnen durfte, war er nicht gehalten, den Überholvorgang abzubrechen, selbst wenn er möglicherweise gesehen hat, dass der Beklagte zu 1. den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hatte, da er andernfalls bei einem Einscheren hinter dem Fahrzeug des Beklagten zu 1. eine Gefährdung des Zeugen K. hervorgerufen hätte.

Weitere Verkehrsverstöße sind dem Zeugen H. nicht vorzuwerfen. Soweit die Beklagten in erster Instanz noch mit der Klageerwiderung, ohne dies näher auszuführen, pauschal vorgetragen haben, das Fahrzeug des Klägers habe sich mit weit überhöhter Geschwindigkeit von über 100 km/h bewegt, hat das Landgericht den pauschalen Vortrag bei seiner Entscheidungsfindung zu Recht nicht berücksichtigt. Dies wird von dem Beklagten mit der Berufung auch nicht weiter angegriffen, da sie in der Berufungsbegründung auf einen etwaigen Verstoß des Zeugen H. gegen § 3 Abs. 1 StVO bzw. § 3 Abs. 3 Nr. 2 c StVO nicht weiter abgestellt haben und auch einen etwaigen Verfahrensfehler dahingehend, dass das Landgericht diesbezüglichen Sachvortrag übergangen habe, nicht gerügt haben, so dass dies gemäß § 529 Abs. 2 Satz 1 StVO nicht zu berücksichtigen war.

Abweichend von der rechtlichen Wertung des Landgerichts hält der Senat im Ergebnis der vorzunehmenden Abwägung eine Haftungsverteilung auf der Basis von 80 zu 20 zugunsten des Klägers für angemessen. Soweit das Landgericht die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Klägers hinter dem Verschulden des Beklagten zu 1. in vollem Umfang hat zurücktreten lassen, vermag sich der Senat dieser Auffassung nicht anzuschließen. Zwar ist eine im Berufungsverfahren beachtliche Rechtsverletzung bei einer Ermessensentscheidung nur dann gegeben, wenn die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nicht vorgelegen haben, ein Ermessen nicht ausgeübt worden ist, die Grenzen der Ermessensausübung nicht eingehalten worden sind oder nicht alle wesentlichen Umstände Beachtung gefunden haben (vgl. BGH NJW-RR 1998, 1373; BGHZ 20, 290, 292 f; Zöller/Gummer, ZPO, 25. Aufl., § 546 Rn. 14).

Eine Ermessensentscheidung in diesem Sinne hat das Gericht dabei auch bei der Bemessung der Verursachungsbeiträge im Rahmen des § 254 BGB bzw. § 17 StVG zu treffen (vgl. BGH, NJW 1993, 2674; NJW-RR 1998 a.a.O.; Zöller/Greger, a.a.O., 287 Rn. 2). Etwas anderes gilt für die das Mitverschulden begründenden Tatsachen, auf die § 286 ZPO Anwendung findet (vgl. BGH NJW 1979, 2142; Zöller/Greger, a.a.O., Münchener Kommentar/Prütting, ZPO, 2. Aufl., § 287 Rn. 15). Danach ist die Mitverschuldensquote dahingehend nachzuprüfen, ob tatrichterlich alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt worden sind und in erster Instanz nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen worden ist bzw. ab rechtsirrtümliche Erwägungen von der ersten Instanz angestellt worden sind (vgl. BGH NJW-RR 1998, a.a.O.; BGH NJW 1969, 653 ff; BGH NJW 1993, 622). Dies führt dazu, dass das Berufungsgericht im Rahmen der Prüfung der Begründetheit des Rechtsmittels nicht auf die Kontrolle der von dem Berufungsführer aufgezählten Ermessensfehler beschränkt ist, sondern eine umfassende Überprüfung der Grundlagen der Ermessensentscheidung stattzufinden hat. Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist im Streitfall von einem Ermessensfehler des Landgerichts auszugehen, da aus den Entscheidungsgründen nicht ersichtlich ist, dass das Landgericht bei seiner Abwägung berücksichtigt hat, dass die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs aufgrund der Tatsache, dass der Überholvorgang bereits begonnen hatte, erhöht war. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass nach den Bekundungen der Zeugen der Beklagte zu 1. den linken Fahrtrichtungsanzeiger vor dem Abbiegen gesetzt hatte, nach den Bekundungen des Zeugen K. bereits zu einem Zeitpunkt, als sich das Fahrzeug noch unter der Autobahnbrücke befand. Steht danach fest, dass der Beklagte zu 1. seine Abbiegeabsicht angezeigt hat - wenn auch nicht rechtzeitig im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO -, ist das Verschulden des Beklagten zu 1. im Hinblick darauf nicht als derart schwerwiegend einzustufen, dass gerechtfertigt wäre, die erhöhte Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeuges dahinter vollständig zurücktreten zu lassen. ..."



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