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BayObLG Beschluss vom 18.08.1978 - 1 Ob OWi 454/78 - Kolonnenspringen ist auch bei Kolonnenbildung auf mehreren Fahrspuren verbotenes Rechtsüberholen

BayObLG v. 18.08.1978: Kolonnenspringen ist auch bei Kolonnenbildung auf mehreren Fahrspuren verbotenes Rechtsüberholen


Das BayObLG (Beschluss vom 18.08.1978 - 1 Ob OWi 454/78) hat entschieden:
Ein Kraftfahrer, der innerhalb einer sich auf der Überholspur einer Autobahn vorwärtsbewegenden Kolonne fährt, darf nicht in der Absicht, sich alsbald wieder in diese Kolonne einzureihen, auf den rechten Fahrstreifen hinüberlenken und dort einige in der Kolonne fahrende Fahrzeuge rechts überholen; dies gilt auch dann, wenn die Geschwindigkeit der Kolonne nicht mehr als 60 km/h und die Mehrgeschwindigkeit des Überholenden nicht mehr als 20 km/h beträgt (Ergänzung zu BGHSt 22, 137 und BayObLGSt 1977, 172).


Siehe auch Rechtsüberholen und Stichwörter zum Thema Überholen


Zum Sachverhalt: Der Betroffene fuhr mit seinem Personenkraftwagen auf der linken Fahrspur der Autobahn. Auf dieser Fahrspur war dichter, auf der rechten dagegen aufgelockerter Verkehr mit häufigen größeren Abständen zwischen den einzelnen Fahrzeugen. Als der Betroffene auf der rechten Fahrspur zwischen einem Personenkraftwagen und einem Lastkraftwagen eine Lücke von etwa 100 Metern erkannte, scherte er unmittelbar vor dem Personenkraftwagen auf die rechte Fahrspur aus, überholte dort unter Erhöhung seiner Geschwindigkeit drei auf der linken Fahrspur mit etwa 60 km/h in Kolonne fahrende Kraftfahrzeuge, schloss zu dem vorausfahrenden Lastkraftwagen auf und kehrte dann seiner ursprünglichen Absicht gemäß wieder auf die linke Fahrspur zurück, um so schneller voranzukommen.

Auf Grund dieses Sachverhalts hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen wegen einer "fahrlässigen" Ordnungswidrigkeit des unerlaubten Rechtsüberholens (§ 5 Abs 1, § 49 Abs 1 Nr 5 StVO, § 24 StVG) eine Geldbuße festgesetzt. Die zugelassene Rechtsbeschwerde blieb erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Das Amtsgericht hat das Vorgehen des Betroffenen als unerlaubtes Rechtsüberholen gewürdigt. Tatsächlich hat der Betroffene nach den Feststellungen des Amtsgerichts drei auf der Überholspur fahrende Kraftfahrzeuge rechts überholt. Auch lag kein Fall vor, in dem die Straßenverkehrs-Ordnung ausdrücklich gestattet hätte, rechts zu überholen oder auf dem rechten Fahrstreifen schneller zu fahren als auf dem linken; insbesondere waren die Voraussetzungen für eine Anwendung des § 7 Abs 2 StVO nicht gegeben, da sich eine Fahrzeugschlange nicht auf beiden, sondern nur auf dem linken Fahrstreifen gebildet hatte.

Der Bundesgerichtshof hat allerdings bereits unter der Geltung des § 10 Abs 1 Satz 1 StVO 1937 entschieden, dass auf Autobahnen ein - auch und gerade dort grundsätzlich verbotenes - Rechtsüberholen unter besonderen Voraussetzungen zulässig sei, so ua, wenn auf der Überholspur eine Kolonne mit einer Geschwindigkeit von höchstens 60 km/h fahre und rechts mit einer höheren Geschwindigkeit von nicht mehr als 20 km/h und mit äußerster Vorsicht vorgefahren werde (BGHSt 22, 137). Dieser vom Bundesgerichtshof entwickelte Rechtsgrundsatz gilt auch unter der Straßenverkehrs-Ordnung 1970 fort (BayObLGSt 1977, 172 m. w. Nachw). Denn auch in der neuen Straßenverkehrs-Ordnung ist der Fall ungeregelt geblieben, dass auf der Überholspur einer Autobahn eine Kolonne nur langsam fährt (oder gar steht), obwohl auf dem rechten Fahrstreifen ein zügiges Vorwärtskommen möglich ist. Da der Charakter der Autobahnen als Straßen mit besonders umfangreichem Verkehr aber eine Regelung verlangt, bei der der Verkehr nicht zum Erliegen kommt, wenn und solange er gefahrlos durchgeführt werden kann, und bei der der zur Verfügung stehende Straßenraum ausgenützt wird, müssen die Einzelvorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung im vorstehenden Sinne ausgelegt werden.

Der Rechtsbeschwerde ist zuzugeben, dass, wie zugunsten des Betroffenen unterstellt werden muss, die Voraussetzungen, unter denen hiernach auf Autobahnen rechts überholt werden darf, hier insoweit vorlagen, als die auf der linken Fahrspur fahrende Kolonne sich nicht schneller als mit 60 km/h vorwärtsbewegte und der Betroffene mit keiner größeren Geschwindigkeitsdifferenz als 20 km/h rechts an ihr vorbeifuhr. Dies hat ersichtlich auch das Amtsgericht nicht verkannt. Es hat jedoch angenommen, die bezeichneten Grundsätze seien auf den vorliegenden Fall deshalb nicht anwendbar, weil der Betroffene, der zunächst selbst auf der Überholspur gefahren war, schon beim Ausscheren auf die rechte Fahrspur vorhatte, nach der Ausnutzung der dort gegebenen vergleichsweise kurzen Fahrzeuglücke auf die Überholspur zurückkehren. Der Senat teilt die Auffassung des Amtsgerichts, dass in einem solchen Fall, der üblicherweise als Kolonnenspringen bezeichnet wird, die vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze ein Rechtsüberholen nicht zulassen.

Der Bundesgerichtshof hat in der genannten Entscheidung betont, dass ein Rechtsüberholen auf Autobahnen grundsätzlich unzulässig ist. Wie er im einzelnen dargelegt hat, ist es im allgemeinen nicht vertretbar, das Überholen einer links fahrenden Kolonne durch einzelne Fahrzeuge auf der Normalspur einer Autobahn zu gestatten. Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholens können nur in einzelnen eng begrenzten und klar umrissenen Ausnahmefällen zugelassen werden, soweit dies im Interesse der Flüssigkeit des Verkehrs geboten ist. Danach reicht es zur Rechtfertigung des Rechtsüberholens nicht aus, dass die Führer der in der linken Kolonne fahrenden Fahrzeuge ihrer Pflicht zur Einhaltung der rechten Fahrbahnseite (§ 2 Abs 2 StVO) nicht nachkommen. Dass die grundsätzliche Regelung im Einzelfall zu Unbequemlichkeiten für den Kraftfahrer führen kann, muss im Interesse der Verkehrssicherheit in Kauf genommen werden. Versuche, das Rechtsüberholverbot über die vom Bundesgerichtshof zugelassenen Fälle hinaus aufzulockern, würden eine einfache, klare und allgemein bekannte Verhaltensregel aufweichen und ihre Anwendbarkeit dem Ermessen des einzelnen Kraftfahrers überlassen. Es müsste aber zu einer zusätzlichen Gefährdung des Kraftfahrers und zu einer nicht vertretbaren erheblichen Abnahme der Verkehrssicherheit führen, wenn es allgemein nicht mehr von einer unmissverständlichen Vorschrift, sondern von der persönlichen Einstellung des einzelnen Kraftfahrers abhängen sollte, ob und wann rechts überholt werden darf. Denn der Überholende kann nicht sicher sein, dass nicht während des Überholvorgangs Kraftfahrzeuge wieder nach rechts ausscheren, wodurch es - gerade wegen der auf Autobahnen zugelassenen hohen Geschwindigkeiten - zu schwersten Unfällen kommen kann. Zwar muss auch der auf die Normalspur zurückkehrende Fahrer die gebotene Sorgfalt walten lassen; ihm ist dies jedoch dadurch erschwert, dass die Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik üblicherweise nicht mit einem Außenspiegel auf der rechten Seite ausgerüstet sind (BGHSt 22, 137/139ff).

Aus diesen Erwägungen folgt, dass die zugelassenen Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholens einer Ausdehnung nicht zugänglich sind, im Gegenteil eng ausgelegt werden müssen. Insbesondere kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass nur ein allgemeines Interesse an der Aufrechterhaltung des flüssigen Verkehrs, auf das der Bundesgerichtshof entscheidend abgestellt hat, eine Durchbrechung des Rechtsüberholverbots rechtfertigen kann, dagegen - von Notstandsfällen, die hier nicht zu erörtern sind, abgesehen - nicht das Interesse des einzelnen an seinem schnelleren Vorwärtskommen, soweit es nicht mit dem allgemeinen Interesse an einem flüssigen Verkehr im Einklang steht. Dementsprechend soll mit der eingeschränkten Zulassung des Rechtsüberholens auf Autobahnen nur vermieden werden, dass in Fällen, in denen der Verkehr auf der linken Fahrspur stockt, auch derjenige auf dem rechten Streifen zum Erliegen kommt, obwohl dort gefahrlos weitergefahren werden kann. Dagegen sollte nicht der Weg dafür freigemacht werden, durch ein Hinwechseln und Herwechseln zwischen den beiden Fahrstreifen, eben ein "Kolonnenspringen", schneller vorwärtszukommen, als auf jedem der beiden Fahrstreifen gefahren werden kann. Dies schließt es zwar nicht aus, dass ein Benutzer der Überholspur dann, wenn er erkennt, dass der rechte Fahrstreifen frei ist, auf diesen hinüberfährt und dort an der auf der Überholspur fahrenden Kolonne vorbei nach vorne zieht. Ebenso ist es nicht schlechterdings unzulässig, dass, wie gerade in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall geschehen, ein Benutzer des rechten Fahrstreifens, der - immer unter den dargelegten engen Voraussetzungen - rechts an der auf der Überholspur langsam fahrenden Kolonne vorbei vorfährt, dann, wenn sich später auf der Überholspur eine Lücke findet, in diese nach links einschert, um dann seine Fahrt auf der Überholspur fortzusetzen. Hiervon zu unterscheiden ist jedoch der vorliegend gegebene Fall, dass ein Fahrzeugführer, der innerhalb der Kolonne auf der Überholspur fährt und auch weiterhin diese Spur benutzen will, die Möglichkeit, vorübergehend auf dem rechten Fahrstreifen schneller vorwärts zu kommen, nur dazu ausnützt, um auf diese Weise ein oder mehrere vor ihm auf der Überholspur fahrende Fahrzeuge rechts überholen zu können und sich damit innerhalb der die Überholspur einnehmenden Kolonne weiter nach vorne zu drängen. Ein solches Verhalten, das - anders als das vom Bundesgerichtshof für zulässig erklärte Rechtsvorbeifahren an einer langsamen Kolonne - nicht den berechtigten Belangen der Ausnützung des Verkehrsraums entspricht, sondern allein auf eigennützigen Gründen beruht und von einem erheblichen Mangel an Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer zeugt, kann nicht für zulässig angesehen werden.

Der Senat verkennt nicht, dass mit dieser Auslegung, die weitgehend auf den mit dem Fahrspurwechsel verbundenen Zweck und die vom Fahrzeugführer damit verfolgte Absicht abstellt, die Unzulässigkeit des Rechtsüberholens in erheblichem Umfange von Umständen abhängig gemacht ist, deren Vorliegen oft nur schwer feststellbar ist, dass also einer Durchsetzung des Verbots, auf den rechten Fahrstreifen lediglich zu dem Zweck auszuscheren, einige auf der Überholspur fahrende Fahrzeuge rechts zu überholen und anschließend auf die Überholspur zurückzukehren, erhebliche Beweisschwierigkeiten entgegenstehen (vgl BGHSt 22, 137/142). Dies schließt es aber nicht aus, in Fällen, in denen wie hier der dem Spurwechsel zugrunde liegende Zweck feststeht, das Rechtsüberholen als unzulässig zu behandeln und als Verstoß gegen § 5 Abs 1 StVO zu ahnden. ..."