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OLG Hamm Beschluss vom 04.03.2009 - 4 Ss OWi 123/0 - Zur Notwendigkeit von Feststellungen einer Notstandssituation beim Absehen vom Fahrverbot

OLG Hamm v. 04.03.2009: Zur Notwendigkeit von Feststellungen einer Notstandssituation beim Absehen vom Fahrverbot


Das OLG Hamm (Beschluss vom 04.03.2009 - 4 Ss OWi 123/09) hat entschieden:
Der Tatrichter muss für seine Überzeugung vom Vorliegen eines Ausnahmefalles für die Verhängung eines Fahrverbots eine auf Tatsachen gestützte Begründung geben, die sich nicht nur in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen darf. Zwar ist es dem Tatrichter nicht schlechthin verwehrt, einer Behauptung zu glauben. Entlastende Angaben des Betroffenen, der sich auf das Vorliegen einer persönlichen Ausnahmesituation beruft und regelmäßig ein großes Interesse daran haben wird, der Verhängung eines Fahrverbotes zu entgehen, dürfen jedoch nicht ohne weitere Prüfung hingenommen werden; ggf. muss darüber Beweis erhoben werden.


Siehe auch Absehen vom Fahrverbot wegen notstandsähnlicher Situationen und Stichwörter zum Thema Fahrverbot


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat die Betroffene wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerorts um – toleranzbereinigt – 59 km/h zu einer erhöhten Geldbuße von 225,00 € verurteilt und dabei von der Verhängung des Regelfahrverbots abgesehen.

Zum Rechtsfolgenausspruch hat das Amtsgericht Folgendes ausgeführt:
„Gegen die Betroffene war zum einen eine Geldbuße festzusetzen. Der Bußgeldkatalog sieht für Geschwindigkeitsüberschreitungen der vorliegenden Art eine Regelbuße von 150,00 € vor. Außerdem ist ein Regelfahrverbot für die Dauer von einem Monat vorgesehen. Das Gericht hat jedoch gemäß § 4 IV BKatV ausnahmsweise von der Anordnung eines Fahrverbotes unter Erhöhung der Geldbuße auf 225,00 € abgesehen.

Zum einen ist das Gericht der Ansicht, dass ein Fahrverbot zur erzieherischen Einwirkung auf die einsichtige, straßenverkehrsrechtlich bislang nicht in Erscheinung getretene Betroffene nicht unbedingt erforderlich ist, weil diese die Geschwindigkeitsüberschreitung nach ihrer glaubhaften Einlassung in einer besonderen Situation begangen hat. Die Erhöhung der Geldbuße auf 225,00 € und die Durchführung des vorliegenden Verfahrens stellen nach Ansicht des Gerichts vor dem Hintergrund des persönlichen Eindrucks, den sich das Gericht in der Hauptverhandlung von der Betroffenen machen konnte, eine ausreichende Besinnungsmaßnahme für diese dar.

Hinzu kommt, dass die Betroffene auch aus beruflichen Gründen zwingend auf ihren Führerschein angewiesen ist. Die Betroffene, die außerhalb von Münster wohnt, hat als Gynäkologin außer mittwochs und an den Wochenenden auch Notdienst. Dies bedeutet, dass sie ihre Patientinnen jederzeit kurzfristig zu Hause aufsuchen muss. Dies ist nach der glaubhaften Darstellung der Betroffenen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu bewerkstelligen, insbesondere weil die Anfahrten dann zu lange dauern würden.“
Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Münster, der die Generalstaatsanwaltschaft mit ergänzendem Bemerken beigetreten ist.


II.

Das Rechtsmittel ist zulässig und begründet.

Die vom Amtsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen einer zumindest fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, so dass die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Beschränkung des Rechtsmittels wirksam ist.

Anzumerken ist allerdings, dass bei einer derart erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 59 km/h die Annahme von Vorsatz nahe gelegen hätte. Insoweit ist das Urteil von der Staatsanwaltschaft jedoch nicht angefochten worden.

Die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruches lässt Rechtsfehler erkennen, die zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung insoweit führen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte kann zwar von der Verhängung eines gemäß § 4 BKatV indizierten Regelfahrverbotes ausnahmsweise – ggf. unter Erhöhung der Regelgeldbuße – abgesehen werden, wenn erhebliche Härten oder eine Vielzahl gewöhnlicher Umstände vorliegen, die es angemessen erscheinen lassen, den Betroffenen trotz des groben bzw. beharrlichen Pflichtverstoßes mit einem Fahrverbot zu belegen (vgl. dazu die zahlreichen Nachweise bei Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 25 StVG Rdnr. 24). Der Tatrichter muss für seine Überzeugung vom Vorliegen eines Ausnahmefalles jedoch eine auf Tatsachen gestützte Begründung geben, die sich nicht nur in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen darf (vgl. OLG Hamm, VRS 95, 138; Beschluss des erkennenden Senats vom 5. Februar 2004 – 4 Ss OWi 48/04 –). Zwar ist es dem Tatrichter nicht schlechthin verwehrt, einer Behauptung zu glauben. Entlastende Angaben des Betroffenen, der sich auf das Vorliegen einer persönlichen Ausnahmesituation beruft und regelmäßig ein großes Interesse daran haben wird, der Verhängung eines Fahrverbotes zu entgehen, dürfen jedoch nicht ohne weitere Prüfung hingenommen werden; ggf. muss darüber Beweis erhoben werden (ständige Rechtsprechung des Senats).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Es lässt hinreichend konkrete und für das Rechtsbeschwerdegericht überprüfbare Feststellungen zu Umständen, welche ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes rechtfertigen könnten, vermissen und beschränkt sich auf die Wiedergabe der unkritisch hingenommenen Einlassung der Betroffenen dazu.

Das gilt sowohl für die Einlassung der Betroffenen, Grund für die Geschwindigkeitsüberschreitung sei die Nachricht gewesen, „ihrem pflegebedürftigen Vater sei etwas passiert“. Die Richtigkeit dieser ungeprüft entgegen genommenen vagen Angabe unterstellt, hätte es für die Betroffene nahe gelegen, den Pflegedienst, soweit vorhanden, oder einen Notarzt zu benachrichtigen. Jedenfalls rechtfertigt die angebliche Notlage eines Dritten, über deren Dringlichkeit sich das amtsgerichtliche Urteil ausschweigt, keine Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 159 km/h tagsüber auf einer Bundesstraße, wodurch Leib und Leben der Betroffenen und unbeteiligter Dritter erheblich gefährdet werden.

Soweit sich die Betroffene auf berufliche Notwendigkeiten berufen hat, die der Verhängung des Fahrverbotes entgegen stehen sollen, hat das Amtsgericht auch dieses Vorbringen kritiklos hingenommen. Zum einen ist nicht ansatzweise ersichtlich, dass die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen für den Fall eines einmonatigen Fahrverbotes auch nur tangiert ist. Ihre tägliche Berufsausübung als Gynäkologin ist auch ohne den Einsatz eines Fahrzeugs uneingeschränkt möglich. Die angeblich anfallenden Notdienste lassen sich auch anderweitig, etwa durch den Einsatz eines Fahrers, eines Taxis, eines Aushilfsfahrers oder im Wege der Absprache mit Kollegen durchführen. Notfalls muss der Patient den Notarzt benachrichtigen.

Im Sinne des Gleichbehandlungsgebotes ist es nicht hinnehmbar, gewissen Berufsgruppen, ohne dass gravierende wirtschaftliche Nachteile oder gar eine Existenzgefährdung drohen, ein überaus lästiges, daher aber verkehrserzieherisch wirksames Fahrverbot gegen einen Bußgeldaufschlag von gerade einmal 75,00 € zu ersparen.

Wegen des aufgezeigten Mangels unterliegt das angefochtene Urteil der Aufhebung im tenorierten Umfang.

Die Sache war daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Borken zurückzuverweisen.



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