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Landgericht Saarbrücken Urteil vom 30.10.2009 - 13 S 161/09 - Zum Mitverschulden durch Überfahren der Mittelinsel im Kreisverkehr

LG Saarbrücken v. 30.10.2009: Zum Mitverschulden durch Überfahren der Mittelinsel im Kreisverkehr


Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 30.10.2009 - 13 S 161/09) hat entschieden:
Zum Beweis des ersten Anscheins für die Mitursächlichkeit des Überfahrens der Mittelinsel eines Kreisverkehrs durch den Vorfahrtsberechtigten, wenn dieser im Kreisverkehr mit einem einfahrenden Vorfahrtpflichtigen zusammenstößt.


Siehe auch Kreisverkehr und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Gründe:

I.

Der Kläger begehrt Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls, der sich am 11.1.2007 gegen 12:30 Uhr in … in einem Kreisverkehr ereignete, in den entgegen dem Uhrzeigersinn die …, die …, die … und die … einmünden.

Der Kläger fuhr mit seinem Pkw von der … kommend in den Kreisverkehr ein und beabsichtigte, den Kreisverkehr in Richtung … zu verlassen. Der Erstbeklagte, dessen Pkw bei der Zweitbeklagten haftpflichtversichert ist, fuhr aus der … kommend in den Kreisverkehr ein und beabsichtigte, den Kreisverkehr in Richtung … zu verlassen. Im Inneren des Kreisverkehrs befindet sich eine befestigte, grün gestrichene und durch eine weiße Linie von der Fahrbahn abgetrennte Fläche. Im Kreisverkehr kollidierten beide Fahrzeuge.

Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt die volle Erstattung seines Schadens (Sachschaden, Sachverständigenkosten, Meldekosten und Unkostenpauschale) von 2.323,96 EUR abzüglich gezahlter 751,39 EUR sowie die Freistellung von vorgerichtlich entstandenen Anwaltskosten von 272,87 EUR beansprucht. Hierzu hat er behauptet, der Erstbeklagte sei in den Kreisverkehr eingefahren, obwohl sich der Kläger bereits im Kreisverkehr befunden habe.

Die Beklagten haben behauptet, der Kläger sei mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren und habe versucht, im Kreisverkehr zu überholen. Dabei habe er sich zu weit links gehalten und die grün schraffierte Fläche überfahren.

Das Amtsgericht, auf dessen Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat die polizeiliche Unfallakte beigezogen und ein Sachverständigengutachten zum Unfallhergang eingeholt. Daraufhin hat es der Klage hinsichtlich des Zahlungsanspruchs in vollem Umfang und hinsichtlich des Freistellungsanspruchs in Höhe von 180,05 EUR stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Erstbeklagte habe gegen § 9a Abs. 1 StVO verstoßen, indem er in den Kreisverkehr eingefahren sei, obwohl er wartepflichtig gewesen sei. Auf Seiten des Klägers seien gefahrerhöhende Umstände hingegen nicht nachgewiesen. Zwar sei der Kläger über die grün schraffierte Fläche im Kreisverkehr gefahren. Der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot sei jedoch nicht ursächlich für den Verkehrsunfall gewesen.

Mit ihrer Berufung wenden sich die Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil, soweit sie zur Tragung von mehr als der Hälfte des Schadens verurteilt wurden. Sie beanstanden, dass das Amtsgericht einen Verstoß des Klägers gegen das Rechtsfahrgebot nicht als unfallursächlich angesehen hat. Sie machen geltend, die Geschwindigkeit des Klägers wäre geringer und der von ihm bis zur Unfallstelle zurückzulegende Weg länger gewesen, wenn sich der Kläger rechts gehalten hätte. Der Erstbeklagte hätte den Kläger dann rechtzeitig wahrnehmen können und müssen.

Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung.


II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist teilweise begründet, weil die erstinstanzliche Entscheidung auf einem Rechtsfehler zu Lasten der Beklagten beruht und die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen (§ 513 ZPO). Im Übrigen ist sie als unbegründet zurückzuweisen.

1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass die Beklagten gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Nr. 1 PflVG a.F. für den vorliegenden Unfall haften, weil der Unfall nicht durch höhere Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG verursacht wurde und für den Erstbeklagten auch kein die Haftung der Fahrzeughalter untereinander ausschließendes, unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies ist zutreffend und wird im Berufungsverfahren auch nicht in Zweifel gezogen.

2. Soweit das Erstgericht vorliegend indes die Haftung Klägers verneint hat, weil für ihn ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG vorgelegen haben soll, kann dem nicht gefolgt werden.

a) Zutreffend ist das Amtsgericht zunächst davon ausgegangen, dass die in §§ 7, 17 Abs. 1 StVG bestimmte Haftung von Halter und Fahrer für – wie hier – aus dem Betrieb mehrerer Kraftfahrzeuge resultierende Schäden ausgeschlossen ist, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wird, § 17 Abs. 3 StVG. Der Begriff „unabwendbares Ereignis“ im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG meint nicht absolute Unvermeidbarkeit des Unfalls, sondern ein schadenstiftendes Ereignis, das auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinaus (vgl. zu § 7 Abs. 2 StVG a.F.: BGHZ 117, 337, VersR 1987, 158, 159 mwN.; BGHZ 113, 164, 165). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist der Schädiger danach von Schäden freizustellen, die sich auch bei vorsichtigem Vorgehen nicht vermeiden lassen (vgl. BGHZ 105, 65, 69).

b) Den Beweis für die Unabwendbarkeit des Unfalls hat der hierfür darlegungs- und beweisbelastete Kläger indes nicht erbracht. Schon weil der genaue Unfallhergang nach den insoweit nicht zu beanstandenden Feststellungen des Amtsgerichts im Einzelnen nicht mehr vollständig aufgeklärt werden kann, ist nicht mit der gebotenen Sicherheit festzustellen, ob der Kläger so langsam und vorsichtig gefahren ist, wie es ein Idealfahrer unter Anwendung äußerster Sorgfalt getan hätte, und der Unfall gleichwohl nicht zu verhindern gewesen wäre.

3. Bei der im Rahmen der gem. § 17 Abs. 1 StVG gebotenen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile ist eine Haftungsverteilung von 1/3:2/3 zu Lasten der Beklagtenseite angemessen.

a) Fehlerfrei und von den Parteien unbeanstandet hat das Amtsgericht zu Lasten des Erstbeklagten einen schuldhaften Verstoß gegen § 9a Abs. 1 Satz 1 StVO in die Abwägung eingestellt. An der Einmündung zu dem Kreisverkehr war für den Erstbeklagten das Zeichen 205 (Vorfahrt gewähren) angeordnet. Der Erstbeklagte hätte danach nicht in den Kreisverkehr einfahren dürfen, da sich der Kläger nach den auch von den Parteien nicht beanstandeten Feststellungen des Amtsgerichts, an die die Kammer gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden ist, bereits im Kreisverkehr befand.

b) Mit Erfolg machen die Beklagten jedoch geltend, dass auch der Kläger den Unfall schuldhaft mitverursacht hat. Den Kläger trifft der Vorwurf eines schuldhaften Verstoßes gegen § 9a Abs. 2 Satz 1 StVO (Überfahren der Mittelinsel) und – wie auch das Amtsgericht erkannt hat – eines schuldhaften Verstoßes gegen § 2 Abs. 2 StVO (Rechtsfahrgebot).

aa) Nach den beanstandungsfreien Feststellungen des Amtsgerichts, die gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legen sind, überfuhr der Kläger die weiße Linie auf der Innenseite des Kreisverkehrs und die grün markierte Fläche im Innenbereich des Kreisverkehrs. Damit verstieß er gegen § 9a Abs. 2 StVO. Danach darf die Mittelinsel des Kreisverkehrs – von hier nicht in Betracht zu ziehenden Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich nicht überfahren werden. Vorliegend gehörte auch der grün markierte Bereich zur Mittelinsel, denn für die Abgrenzung von Fahrbahn und Mittelinsel ist es unerheblich, dass auch dieser Teil der Mittelinsel befestigt ist. Es genügt, dass die Mittelinsel durch Markierung oder bauliche Abgrenzung eindeutig erkennbar ist (vgl. Hentschel, NJW 2001, 465, 466). So liegt der Fall hier, da die Fahrbahn durch eine durchgehende Linie (Z 295) von der Mittelinsel abgetrennt und zudem noch farblich deutlich hervorgehoben war. Zugleich verstieß der Kläger damit gegen das auch im Kreisverkehr grundsätzlich geltende Rechtsfahrgebot i.S.d. § 2 Abs. 2 StVO (vgl. OLG Saarbrücken VerkMitt 1974, Nr. 73; OLG Hamm NJW-RR 2004, 244 f.; Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl. 27. Kap. Rdn. 64 mwN). Zwar hat der Kraftfahrer – innerhalb der Fahrbahn – einen gewissen Beurteilungsspielraum, solange er sich so weit rechts hält, wie es im konkreten Fall im Straßenverkehr vernünftig ist (OLG Hamm NJW-RR 2004, 244 f. m.w.N.). Dieser Beurteilungsspielraum ist jedoch überschritten, wenn wie hier die Mittelinsel geschnitten wird.

bb) Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts ist auch von der Mitursächlichkeit dieses Pflichtverstoßes des Klägers für den Unfall auszugehen. Zwar sind im Rahmen der Haftungsverteilung nur solche Umstände zu berücksichtigen, die feststehen, unstreitig, zugestanden oder bewiesen sind (BGH VersR 2000, 1294 f.; ZfS 2005, 487 f.). Vorliegend hat das Erstgericht jedoch verkannt, dass nach den festgestellten Tatsachen der Anscheinsbeweis für eine Mitverursachung des Unfalls durch den Kläger spricht. Steht zur richterlichen Überzeugung ein Sachverhalt fest, der nach den Regeln des Lebens und nach der Erfahrung vom Üblichen und Gewöhnlichen typisch für einen bestimmten Geschehensablauf – etwa für die bestimmte Wirkung einer bestimmten Ursache – ist, so vermittelt diese Typizität die richterliche Überzeugung auch im zu entscheidenden Einzelfall (BGH VersR 1997, 205; NJW 1996, 1828; Geigel/Knerr aaO Kap. 37 Rdn. 43). Wird gegen eine Schutzvorschrift verstoßen, die auf bestimmten Erfahrungen über die Gefährlichkeit einer Handlungsweise beruht – hier die Schutzvorschriften der §§ 2 Abs. 2 und 9a Abs. 2 StVO –, so kann bei einem Schadenseintritt prima facie darauf geschlossen werden, dass sich die von ihr bekämpfte Gefahr verwirklicht hat, sofern sich der Schadensfall in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem vorschriftswidrigen Verhalten ereignet hat (Geigel/Knerr aaO Kap 37 Rdn. 47; Geigel/Freymann aaO Kap. 15 Rdn. 12, jew. m.w.N.).

So liegt der Fall hier. Unter den hier festgestellten Umständen spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot im Kreisverkehr und das Verbot, die Mittelinsel zu befahren, mitursächlich für den in unmittelbarem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang hiermit erfolgten Unfall war. Zwar schützt das Rechtsfahrgebot im Regelfall nicht auch den einmündenden Verkehr (Hentschel/König aaO § 2 StVO Rdn. 33). Dieser Grundsatz bedarf im Kreisverkehr jedoch der Modifikation. Die Anlage eines Kreisverkehrs soll jedenfalls bei kleineren Kreisverkehren der hier vorliegenden Art auch dazu dienen, die Geschwindigkeit durch die Straßenführung zu reduzieren, um so das gefahrlose Einreihen in den fließenden Straßenverkehr zu erleichtern (OLG Hamm NJW-RR 2004, 244 f.). Zugleich soll durch die Linienführung entlang eines Kreises der Verkehrsfluss entzerrt werden, so dass Lücken entstehen, die das Einfahren in den Kreisverkehr erleichtern. Im vorliegenden Fall, in dem die asphaltierte Fläche theoretisch auch zum zweispurigen Befahren des Kreisverkehrs ausreichen würde, dient die mit der Linienführung auf der Innenseite des Kreisverkehrs verbundene künstliche Verengung der Fahrbahn überdies dazu, dem Kreisverkehr eine Fahrlinie vorzugeben, die bei dem einmündenden Verkehr etwaige Zweifel über die Möglichkeit zur zweispurigen Befahrbarkeit des Kreisverkehrs ausschließt. Ein „Schneiden“ der Kurve ermöglicht demgegenüber höhere Durchfahrtsgeschwindigkeiten, verhindert die Bildung von Lücken und kann bei dem einfahrenden Verkehr die Fehlvorstellung auslösen, es sei genügend Platz für ein zweispuriges Befahren des Kreisverkehrs vorhanden. Damit verletzt das Überfahren der Mittelinsel gerade auch eine Schutznorm zugunsten des einmündenden Verkehrs. Kommt es in unmittelbarem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dieser Schutznormverletzung zu einer Kollision, war der Verstoß typischerweise für den Unfall zumindest mitursächlich. Die Wahl einer unzulässig direkten Fahrlinie ermöglicht typischerweise höhere Geschwindigkeiten, hindert typischerweise das Entstehen von Lücken und irritiert den einfahrenden Verkehr unter den hier gegebenen Gegebenheiten über die Möglichkeit, den Kreisverkehr zweispurig zu befahren.

Dem Kläger ist es auch nicht gelungen, den Anscheinsbeweis für diese Wirkungsweisen im vorliegenden Fall zu erschüttern. Zwar genügt es, dass die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Ablaufs bewiesen ist. Jedoch müssen die Tatsachen, aus denen eine solche Möglichkeit abgeleitet werden soll, bewiesen sein (zuletzt etwa BGH NZV 2007, 294 mwN). Dies ist dem Kläger nicht gelungen. Dass sich nämlich selbst bei Ausfahren des Kreises keine größere Lücke im Kreisverkehr ergeben hätte, und dass der Erstbeklagte durch die Fahrweise des Klägers auch nicht hinsichtlich der Möglichkeit, den Kreisverkehr zweispurig zu befahren, irritiert wurde, lässt sich mit Blick auf die Unaufklärbarkeit des weiteren Unfallgeschehens nicht feststellen.

c) Im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung kommt dem Vorfahrtsverstoß des Erstbeklagten erheblich höheres Gewicht zu, weshalb eine Mithaftung des Klägers lediglich zu 1/3 anzunehmen ist.

4. Nach dieser Quote kann der Kläger den erstinstanzlich fehlerfrei und unangegriffen mit 2.323,96 EUR bezifferten Schaden, also 2/3 × 2.323,96 EUR = 1.549,31 EUR abzüglich gezahlter 751,39 EUR, insgesamt also 797,92 EUR ersetzt verlangen.

5. Aus der ursprünglich offen stehenden Hauptforderung in berechtigter Höhe von 1 549,31 EUR kann der Kläger auch gemäß §§ 249, 257 BGB die Freistellung von vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten nach §§ 2, 13 RVG, Nr. 2400, 7002, 7008 VV RVG in Höhe von (1,3 × 133,00 EUR = 172,90 EUR + 20,00 EUR + 36,650 EUR =) 229,55 EUR abzüglich gezahlter 92,82 EUR, mithin noch 136,73 EUR verlangen.


III.

Die Zinsentscheidung beruht auf §§ 286, 288 Abs. 1 BGB. Die Kostenentscheidung beruht für die erste Instanz auf §§ 92 Abs. 1, 91a, 100 Abs. 4 ZPO und für die zweite Instanz auf §§ 92 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).