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Landgericht Aachen Urteil vom 10.06.2010 - 10 O 59/10 - Zur Herausforderungshaftung bei einer polizeilichen Verfolgungsfahrt und zum Mitverschulden bei besonders riskanten Fahrmanövern

LG Aachen v. 10.06.2010: Zur Herausforderungshaftung bei einer polizeilichen Verfolgungsfahrt und zum Mitverschulden bei besonders riskanten Fahrmanövern


Das Landgericht Aachen (Urteil vom 10.06.2010 - 10 O 59/10) hat entschieden:
   Jemand, der durch vorwerfbares Tun einen Anderen zu selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen Willensentschluss auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht, aus unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der infolge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist. Allerdings ist im Rahmen der Mitverantwortung zu berücksichtigen, dass sich die verfolgenden Polizeibeamten auf eine sehr riskantes Fahrmanöver eingelassen haben.



Siehe auch

Herausforderungshaftung

und

Haftungsthemen


Tatbestand:


Der Kläger nimmt die Beklagten zum einen als Fahrzeugführer, zum anderen als Haftpflichtversicherer wegen eines Schadens in Anspruch, zu dem es in Zusammenhang mit einer Verfolgung durch Polizeibeamte gekommen ist.

Der Kläger ist Eigentümer des Polizeifahrzeugs VW Passat, amtliches Kennzeichen .... Am 11. Oktober 2007 gegen 7.50 Uhr bemerkten zwei mit dem vorgenannten Pkw in I-V fahrende Polizeibeamte den mit einem Roller und überhöhter Geschwindigkeit fahrenden, damals noch minderjährigen Beklagten zu 1). Zu diesem Zeitpunkt herrschte ferner Nebel. Später stellte sich zudem heraus, dass das Versicherungskennzeichen des vom Beklagten zu 1) geführten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Roller hochgeklappt war. Jedenfalls nahmen die Polizeibeamten mit dem oben genannten Pkw des Klägers die Verfolgung des Beklagten zu 1) auf und versuchten den Beklagten zu 1) unter Einsatz des Blaulichts sowie des Martinshorns vergeblich zum Anhalten zu bringen. Der Beklagte zu 1) fuhr jedoch weiter in Richtung L und hinderte die Polizeibeamten daran, ihn mit dem Streifenwagen zu überholen, indem er in der Straßenmitte fuhr und die Kurven jeweils schnitt. Selbst ein über die Lautsprecheranlage des Streifenfahrzeugs ausgebrachte Aufforderung anzuhalten ignorierte der Beklagte zu 1). In der Ortschaft I-L zeigte der Tachometer des folgenden Streifenwagens eine Geschwindigkeit von 80 km/h an. Schließlich veranlassten die den Beklagten zu 1) verfolgenden Polizeibeamten die Errichtung einer Straßensperre auf der I1 Straße. Dabei kam neben einem weiteren Streifenfahrzeug der Pkw eines anderen Verkehrsteilnehmers zum Einsatz. Allerdings war mit den beiden Pkw nur die Fahrbahn gesperrt. Rechts neben der Fahrbahn blieb ein ca. 1 m breiter nicht befestigter Grünstreifen frei. Daneben wiederum befand sich ein Entwässerungsgraben. Als der Beklagte zu 1) mit seinem Roller zu der Straßensperre kam, hielt er nicht an, sondern versuchte, rechts an den beiden Pkw vorbeizufahren. Hierbei geriet er in den Entwässerungsgraben und schließlich gegen eine, den Graben überspannende, gemauerte Brücke. Die Polizeibeamten übersahen zunächst den Entwässerungsgraben und folgten dem Beklagten zu 1) auch hier mit ihrem Streifenwagen. Es gelang ihnen dann nicht mehr, das Fahrzeug rechtzeitig zum Stillstand zu bringen bzw. an dem Graben vorbeizusteuern. Auch der Polizeiwagen geriet vielmehr in den Entwässerungsgraben und kollidierte mit der gemauerten Brücke. Hierbei entstand ein Schaden von insgesamt 10.764,48 EUR.




Mit einem Schreiben vom 27. März 2008 bezifferte der Kläger den Gesamtschaden und forderte unter Fristsetzung bis zum 30. April 2008 vergeblich zur Zahlung auf.

Der Kläger meint, die Beklagten hätten als Gesamtschuldner für den gesamten Schaden einzustehen, weil der Beklagte zu 1) die Verfolgung und den dabei entstandenen Schaden durch sein verkehrswidriges Verhalten herausgefordert habe.

Er beantragt,

   die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 10.764,48 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Mai 2008 zu zahlen.


Die Beklagten beantragen,

   die Klage abzuweisen.


Sie meinen, die sog. Herausforderungsformel finde hier schon deshalb keine Anwendung, weil die Polizeibeamten hier ein unangemessenes Risiko eingegangen seien. Das ergebe sich bereits daraus, dass eine hohe Fahrgeschwindigkeit nicht gemessen, sondern lediglich vermutet worden sei. Es habe allenfalls der Verdacht einer Verkehrsordnungswidrigkeit, also einer Bagatelle bestanden. Ferner sei offensichtlich gewesen, dass der Streifenwagen seiner Breite nach nicht an der Straßensperre habe vorbeifahren können. Schließlich sei die Geschwindigkeit des Polizeifahrzeugs bei der Annäherung an die Straßensperre offenbar nicht angemessen gewesen. Die Polizeibeamten hätten durch ihr Verhalten sowohl ihre Kollegen als auch den bereits verunglückten Beklagten zu 1) gefährdet.




Entscheidungsgründe:


Die Klage ist nur zur Hälfte begründet. Die Haftung der Beklagten ergibt sich aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 S. 1 StVG sowie aus § 115 VVG.

1. Die Minderjährigkeit des Beklagten zu 1) steht seiner Haftung auch unter Berücksichtigung des § 18 Abs. 1 S. 2 StVG und des § 828 Abs. 3 BGB nicht entgegen. Denn Anhaltspunkte dafür, dass dem Beklagten zu 1) die nötige Einsicht dafür fehlte, dass er Anordnungen von Polizeibeamten zwecks Durchführung einer Kontrolle zu befolgen hatte und dass er sich an die Regeln der Straßenverkehrsordnung zu halten hatte, fehlen. Ferner trifft die diesbezügliche Darlegungs- und Beweislast die Beklagten.

2. Die am Polizeifahrzeug eingetretenen Schäden sind den Beklagten zurechenbar. Insofern finden die Regeln über die Herausforderung zu selbstgefährdendem Verhalten Anwendung.

a) Danach ist jemand, der durch vorwerfbares Tun einen Anderen zu selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen Willensentschluss auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht, aus unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der infolge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 1996 - VI ZR 12/95 -, NJW 1996, S. 1533).

b) Die Voraussetzungen dieser sog. Herausforderungsformel finden hier (noch) Anwendung. So ist es selbst unter Berücksichtigung einer in Rede stehenden bloßen Verkehrsordnungswidrigkeit jedenfalls im Ansatz gut nachvollziehbar gewesen, dass die im beschädigten Polizeifahrzeug befindlichen Polizeibeamten sich nicht nur anfangs entschieden haben, den mit dem Roller flüchtenden Beklagten zu 1) zu verfolgen, sondern dass sie später entschieden haben, die bis dahin vergebliche Verfolgung fortzusetzen, als sie sahen, dass der Beklagte zu 1) versuchte, die Straßensperre zu umfahren. Daran ändert sich auch nicht allein deshalb etwas, weil der Grünstreifen neben der Fahrbahn tatsächlich nur ca. 1 m breit war und sich daran unmittelbar ein Entwässerungsgraben anschloss. Vielmehr hätten sich die Polizeibeamten vor der Straßensperre und bei der Beobachtung des weiteren Fluchtversuchs des Beklagten zu 1) nur dann nicht zur Fortsetzung der Verfolgung entscheiden dürfen, wenn die genaue Beschaffenheit der Lücke rechts neben der Straßensperre und des dort befindlichen Geländes von ihrem Standpunkt aus ohne weiteres erkennbar gewesen wäre. Denn dann hätten sie schon hier erkennen müssen, dass zum einen die Flucht des Beklagten zu 1) scheitern könnte und zum anderen sie selbst mit dem Polizeifahrzeug nicht passieren konnten. Das aber haben die Beklagten nicht hinreichend dargetan. Sie haben vielmehr nur behauptet, es sei offensichtlich gewesen, dass der ca. 2 m breite Streifenwagen auf dem ca. 1 m breiten Grünstreifen die Straßensperre nicht habe passieren können. Maßgebend war aber, dass die Polizeibeamten nicht nur die Breite des Grünstreifens erkennen konnten, sondern ebenfalls den unmittelbar anschließenden Entwässerungsgraben als für das von ihnen benutzte Fahrzeug unüberwindliches Hindernis.

Auch hat sich in dem Unfall und dem Schaden das vom Beklagten zu 1) geschaffene Risiko einer Beschädigung des zur Verfolgung eingesetzten Polizeifahrzeugs in Zusammenhang mit den bei Verfolgungen notwendigen und zu erwartenden besonderes riskanten Fahrmanövern verwirklicht.

Nach dem verhältnismäßig großzügigem Maßstab der oben dargelegten Herausforderungsformel steht der Zurechnung demnach kein Hindernis im Weg.

3. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass sich das Verhalten der Polizeibeamten im konkreten Fall nicht zu Lasten des Klägers auswirkt. Vielmehr ist im Rahmen der Mitverursachung gemäß § 18 Abs. 3, § 17 StVG zu berücksichtigen, dass die Polizeibeamten sich vor der Straßensperre für ein besonders riskantes Fahrmanöver entschieden haben, als sie versuchten, die Verfolgung des mit einem Zweirad, also einem sehr schmalen Fahrzeug, fahrenden Beklagten zu 1) mit dem wesentlich breiteren Streifenwagen trotz des schmalen Randstreifens fortzusetzen, ohne zunächst den Erfolg des Fluchtversuchs des Beklagten zu 1) abzuwarten. Hinzu kommt, dass die Polizeibeamten dem Beklagten zu 1) hier nicht langsam gefolgt sind, sondern mit so hoher Geschwindigkeit, dass weder ein Ausweichen noch ein rechtzeitiges Abbremsen möglich war.



Das Gericht geht mit Rücksicht auf diese besonderen Umstände von einer hälftigen Mithaftung des Klägers aus.

4. Die Nebenforderung beruht auf § 280 Abs. 1, § 286 BGB. Die prozessualen Nebenentscheidungen ergeben sich aus den § 91 Abs. 1, § 709 ZPO.

Streitwert: 10.764,48 EUR.

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