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Haftung für Schäden auf Verfolgungsfahrten - Herausforderungshaftung

Haftung für Schäden auf Verfolgungsfahrten - Herausforderungshaftung


Entzieht sich ein Täter nach einer rechtswidrigen Tat der polizeilichen Feststellung bzw. Festnahme durch die Flucht und veranlasst er dadurch festnahmeberechtigte Personen zur Aufnahme von Verfolgungsmaßnahmen - meist also zu einer Verfolgungsfahrt im eigenen Fahrzeug -, so kommt grundsätzlich eine Haftung für Schäden in Betracht, die die Verfolgungsperson als ursächliche Folge ihres als adäquat zu beurteilenden Eingreifens erleidet. Man spricht hier von der sog. Herausforderungshaftung.


Der BGH (Urteil vom 12.03.1996 - VI ZR 12/95) führt hierzu aus:

   "Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann jemand, der durch vorwerfbares Tun einen anderen zu selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen Willensentschluss auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht, aus unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der infolge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist (BGHZ 57, 25, 28 ff; 63, 189, 191 ff; 70, 374, 376; zuletzt Senatsurteile vom 3. Juli 1990 - VI ZR 33/90 - VersR 1991, 111, 112 und vom 4. Mai 1993 - VI ZR 283/92 - VersR 1993, 843, 844). Eine auf solcher Grundlage beruhende deliktische Haftung ist vom Senat insbesondere in Fällen bejaht worden, in denen sich jemand, der (vorläufigen) Festnahme durch Polizeibeamte oder andere dazu befugte Personen durch die Flucht zu entziehen versucht und diese Personen dadurch in vorwerfbarer Weise zu einer sie selbst gefährdenden Verfolgung herausgefordert hat, wobei sie dann infolge der gesteigerten Gefahrenlage einen Schaden erlitten haben (vgl. insbesondere Senatsurteil vom 3. Juli 1990 - VI ZR 33/90 - aaO S. 112 m.w.N.). In diesen Fallgestaltungen kann, wie der Senat wiederholt herausgestellt hat, die billigenswerte Motivation des Verfolgers zur Nacheile trotz der damit verbundenen besonderen Gefahren ihre Grundlage unter anderem in den Dienstpflichten des für die Bewachung des Fliehenden zuständigen Beamten finden (BGHZ 63, 189, 194 f; 70, 374, 376; Senatsurteil vom 29. November 1977 - VI ZR 51/76 - VersR 1978, 183, 184)."

Andererseits ist die Herausforderungshaftung nicht grenzenlos, siehe BGH (Urteil vom 13.07.1971 - VI ZR 125/70):

   "Allerdings gibt es, wie allgemein anerkannt ist, Fälle, in denen der Ausschluss der Zurechnung geboten ist, obgleich an sich ein Ursachenzusammenhang besteht und auch der Schutzzweck der die Haftung begründenden Norm keinen Anhalt für eine Begrenzung hergibt (vgl Larenz, SchR I 10. Aufl § 27 III 3 S 322; ders Festschrift f Honig, 1970, S 79, 83o). In diesem Zusammenhang werden ua eben die Fälle erörtert, in denen die Schadensfolge auf einem selbständigen oder "freien" Entschluss des Verletzten selbst (oder eines Dritten) beruht. Diese Gestaltung wird meist unter dem Gesichtspunkt und der Bezeichnung "Unterbrechung" oder Abbruch des (adäquaten) Ursachenzusammenhangs behandelt (vgl dazu: Larenz, SchR I aaO; Weitnauer, aaO S 345; Esser, SchR I 4. Aufl § 44 III 2c S 305; Deutsch aaO; vgl auch Oftinger, Schweiz Haftungsrecht Bd I 2. Aufl S 91ff). Ohne Rücksicht darauf, ob man diesem Gesichtspunkt dem Bereich der Adäquität des Ursachenzusammenhang oder einem daneben stehenden Zurechnungsbereich zuordnet (vgl Larenz, SchR I 10. Aufl § 27 III 3; Festschrift f Honig S 322; Esser aaO), ändert sich nichts an seiner Erheblichkeit. So ist anerkannt, dass sich diese Frage der Zurechnung, wenn sie auch meist nur im haftungsausfüllenden Bereich von Belang wird, auch im Rahmen der haftungsbegründenden Zurechnung stellen kann (Larenz, SchR I 10. Aufl § 27 III 3 N 1 S 324 unter Hinweis auf BGH Urt v 3. Februar 1967 - VI ZR 115/65 = aaO; vgl auch BGH Urt v 24. März 1964 - VI ZR 33/63 = aaO; Urt v 1. Februar 1966 - VI ZR 196/64 = VersR 1966, 368)."

Neben der Prüfung der Kausalität und der Adäquanz muss auch untersucht werden, inwieweit den oder die Verfolgenden auf Grund eigenen riskanten Verhaltens eine Mitschuld am eingetretenen Schaden und somit eine anteilige Mithaftung auferlegt werden muss.



Gliederung:


- Allgemeines



Allgemeines:


Haftungsbeschränkungen und Haftungsausschluss

BGH v. 13.07.1971:
Wer sich als Benutzer der Bahn ohne Fahrtausweis der berechtigten Feststellung seiner Personalien durch Flucht zu entziehen sucht, hat bei erkannter Verfolgung grundsätzlich für die Körperschäden des Verfolgenden einzustehen, soweit sie sich als Verwirklichung eines gesteigerten Verfolgungsrisikos darstellen. - Über die Voraussetzungen und Grenzen einer solchen Haftung.

BGH v. 29.10.1974:
Zur Haftung desjenigen, der sich einer berechtigten polizeilichen Verfolgung durch Flucht entzieht, für den dabei entstandenen Körperschaden des Verfolgenden. (Ergänzung zu BGH 1971-07-13 VI ZR 125/70 = BGHZ 57, 25 und BGH 1971-07-13 VI ZR 165/69 = NJW 1971, 1982).

BGH v. 12.03.1996:
Wer sich der polizeilichen Festnahme durch die Flucht entzieht, haftet für einen bei der Verfolgung eintretenden Körperschaden des Polizeibeamten, wenn dieser Schaden auf der gesteigerten Gefahrenlage beruht und die Risiken der Verfolgung nicht außer Verhältnis zu deren Zweck standen (Fortführung BGH, 1974-10-29, VI ZR 168/73, BGHZ 63, 189). - Zum Mitverschulden des Verfolgers durch Selbstgefährdung in solchen Fällen (hier: Sprung aus einem 4 m hoch gelegenen Fenster).

OLG Koblenz v. 24.04.2006:
Wer durch vorwerfbares Tun einen anderen zu einem selbst gefährdenden Verhalten herausfordert, kann diesem aus unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der infolge des gesteigerten Risikos entstanden ist. Ist aber die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gewahrt, so fällt eine Körperverletzung desjenigen, der eine Selbstgefährdung vornimmt, nicht mehr in den Schutzbereich der Haftungsnorm. Dies ist der Fall, wenn ein Verkehrsteilnehmer einen Motorradfahrer, der seine Kinder in ordnungswidriger Weise auf dem Motorrad mitnimmt, stellt und an der Weiterfahrt hindern will, wobei er stürzt. Ein Festnahmerecht zur Verhinderung weiterer Ordnungswidrigkeiten besteht nicht. Nothilfe kommt nicht in Betracht, wenn in der gegebenen Situation keine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben anderer vorliegt.

LG Aachen v. 10.06.2010:
Jemand, der durch vorwerfbares Tun einen Anderen zu selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen Willensentschluss auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht, aus unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der infolge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist. Allerdings ist im Rahmen der Mitverantwortung zu berücksichtigen, dass sich die verfolgenden Polizeibeamten auf eine sehr riskantes Fahrmanöver eingelassen haben.




BGH v. 31.01.2012:
Der Halter eines Kraftfahrzeuges, der sich der polizeilichen Festnahme durch Flucht unter Verwendung seines Kraftfahrzeuges entzieht, haftet unter dem Gesichtspunkt des Herausforderns sowohl nach § 823 Abs. 1 BGB als auch nach § 7 StVG für einen bei der Verfolgung eintretenden Sachschaden an den ihn verfolgenden Polizeifahrzeugen, wenn dieser Schaden auf der gesteigerten Gefahrenlage beruht und die Risiken der Verfolgung nicht außer Verhältnis zu deren Zweck stehen. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Fahrer eines Polizeifahrzeuges zum Zwecke der Gefahrenabwehr vorsätzlich eine Kollision mit dem fliehenden Fahrzeug herbeiführt, um es zum Anhalten zu zwingen. Der Anspruch auf Ersatz des dabei an den beteiligten Polizeifahrzeugen entstandenen Sachschadens kann nach § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG auch als Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des Fluchtfahrzeuges geltend gemacht werden.

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