Das Verkehrslexikon

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OVG Münster Beschluss vom 04.01.2012 - 16 A 2075/11 - Zur Höhe des THC-Wertes und zum mangelnden Trennvermögen

OVG Münster v. 04.01.2012: Zur Höhe des THC-Wertes im Blutserum und dem daraus zu folgernden mangelnden Trennvermögen zwischen Cannabiskonsum und Verkehrsteilnahme


Das OVG Münster (Beschluss vom 04.01.2012 - 16 A 2075/11) hat entschieden:
Der Senat folgt der vorherrschenden Auffassung, wonach ein THC Wert ab 1,0 ng/ml im Blutserum zur Annahme mangelnder Trennung im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV führt.


Siehe auch Trennvermögen und Cannabis-Themen

Gründe:

Der auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils) gestützte Zulassungsantrag des Klägers bleibt ohne Erfolg, weil der genannte Zulassungsgrund nicht gegeben ist. Der Kläger hat zwar mit seiner Darlegung eine erhebliche Tatsachenfeststellung im angefochtenen Urteil mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt (1.); das Urteil erweist sich im Ergebnis aber aus einem anderen Grund als richtig (2.).

1. Der Senat kann sich auf der Grundlage der klägerischen Darlegungen und des Akteninhalts nicht davon überzeugen, dass schon aus den Einlassungen des Klägers, die dieser am 1. Dezember 2010 gegenüber der Polizei abgegeben hat, ein regelmäßiger Cannabiskonsum - der gemäß Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung des Klägers ausschlösse - hervorgeht. Wenngleich dem Kläger nicht abgenommen werden kann, dass er bei der polizeilichen Befragung wahrheitswidrige Angaben zu seinen Ungunsten gemacht hat, ergibt sich aus den polizeilichen Protokollen kein klarer Hinweis auf einen regelmäßigen Cannabiskonsum des Klägers. So wird zwar in der von den beteiligten Polizisten gefertigten Verkehrsordnungswidrigkeitenanzeige als Angabe des Klägers wiedergegeben, er konsumiere seit ca. vier Wochen vier bis fünf mal wöchentlich Marihuana; auf diese Angabe hat sich der Senat auch in seiner Beschwerdeentscheidung vom 31. Mai 2011 im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bezogen. Auf der anderen Seite geht aber aus dem offenbar unmittelbar nach der Polizeikontrolle gefertigten und auch vom Kläger unterschriebenen Beiblatt zu der Anzeige die Einlassung des Klägers hervor, in den letzten vier Wochen vier bis fünf mal Marihuana konsumiert zu haben. Es bleibt damit offen, ob der Kläger mit der Bezeichnung "vier bis fünf mal" seinen wöchentlichen Konsum oder seinen Gesamtkonsum während der letzten vier Wochen beschrieben hat. Da jedenfalls vier bis fünf Konsumakte während eines fast einmonatigen Zeitraums nicht als regelmäßiger Konsum angesehen werden könnten und im Übrigen auch die gemessene Menge des Cannabismetaboliten THC-COOH mit 18,4 ng/ml deutlich unterhalb des Wertes liegt, jenseits dessen die gesicherte Annahme eines regelmäßigen Cannabiskonsums möglich ist, ist die entgegengesetzte Einschätzung im angefochtenen Urteil zumindest erheblichen Zweifeln ausgesetzt.

2. Obwohl damit die tragende Erwägung im verwaltungsgerichtlichen Urteil (zumindest) in Frage gestellt ist, erweist sich das angefochtene Urteil doch im Ergebnis als richtig, und zwar aus einem Grund, der wegen des auch darauf bezogenen Zulassungsvorbringens des Klägers für die gerichtliche Überprüfung schon im Zulassungsverfahren auf der Hand liegt und zu dem sich der Kläger äußern konnte und auch geäußert hat.
Zur Verneinung des Zulassungsgrundes ernstlicher Zweifel, wenn sich die Entscheidung aus anderen als den vom Verwaltungsgericht erwogenen Gründen als richtig erweist, vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 3. Aufl. (2010), § 124 Rn. 101 ff.
Die Annahme, dass der Kläger im Zeitraum des Erlasses der angefochtenen Ordnungsverfügung des Beklagten vom 8. Februar 2011 wegen seines Cannabiskonsums fahrungeeignet war, ergibt sich jedenfalls daraus, dass er gelegentlich Cannabis zu sich nimmt und ihm das Vermögen bzw. die Bereitschaft fehlt, zwischen dem Cannabiskonsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen zu trennen (Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV). Der gelegentliche, d.h. über ein einmaliges "Probieren" hinausgehende Cannabiskonsum folgt bereits aus den oben wiedergegebenen Einlassungen des Klägers gegenüber der Polizei. Mit der Fahrt unter Cannabiseinfluss am Mittag des 1. Dezember 2010 hat der Kläger auch sein Unvermögen bzw. seine fehlende Bereitschaft zum Trennen des Konsums von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr gezeigt. Von mangelnder Trennungsbereitschaft bzw. mangelndem Trennungsvermögen ist auszugehen, weil der Kläger während bzw. im unmittelbaren Anschluss an die Fahrt vom 1. Dezember 2010 körperliche Merkmale und Verhaltensauffälligkeiten an den Tag gelegt hat, die unabhängig von der festgestellten THC-Konzentration auf cannabisbedingt herabgesetzte Fähigkeiten zur Teilnahme am Straßenverkehr schließen ließen.
Vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2007 - 16 B 907/07 -, juris, Rn. 9 bis 15 (= NJW 2007, 3085 = VRS 113 Ä2007Ü, 147 = Blutalkohol 44 Ä2007Ü, 336 = NZV 2007, 591; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 41. Aufl. (2011), § 2 StVG Rn. 17g.
Insoweit müssen, im Gegensatz zur Auffassung des Klägers, nicht spezielle Fahrfehler festgestellt werden. Es genügt vielmehr, wenn wie vorliegend bei routinemäßig durchgeführten einfachen Tests deutliche Mängel bei der körperlichen Koordination erkennbar geworden sind. Außerdem hat der Kläger glasige Augen und stark erweiterte Pupillen aufgewiesen. Dabei handelt es sich um ein körperliches Merkmal, das typischerweise nach einem Cannabiskonsum auftritt und einen klaren Bezug zur aktuellen Fahrtüchtigkeit hat. Dabei kommt es entgegen der Auffassung des Klägers nicht darauf an, ob sich die normabweichenden körperlichen Zustände konkret auf die festgestellten fahrerischen Fähigkeiten ausgewirkt haben. Es genügt vielmehr, dass sich die physischen Veränderungen bzw. die im Test zutage getretenen Koordinationsprobleme abstrakt auf das Fahrverhalten auswirken konnten. Das war vorliegend der Fall. Dass Störungen der Feinmotorik bzw. der räumlichen Koordination zu Fahrfehlern führen können, liegt auf der Hand. Dasselbe gilt für die beim Kläger festgestellte starke Erweiterung der Pupillen (Mydriasis), die unter anderem zu einer erhöhten Blendungsempfindlichkeit und - zumindest unter bestimmten Lichtverhältnissen - einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führt.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2007 - 16 B 907/07 -, a.a.O., sowie Beschluss vom 15. Januar 2007 - 16 B 2429/06 -, jeweils unter Bezugnahme auf die im Urteil des OVG Rheinland- Pfalz vom 13. Januar 2004 - 7 A 10206/03 -, juris, Rn. 24 und 26 (= VRS 106 Ä2004Ü, 313 = DAR 2004, 413 = Blutalkohol 41 Ä2004Ü, 293), zitierte Stellungnahme des Gutachters Prof. Dr. Urban.
Dass nach dem ärztlichen Bericht eine prompte Pupillenlichtreaktion vorgelegen hat, kann dafür sprechen, dass der Kläger - zumal während der hellen Tagesstunden - keine erhöhte Blendungsempfindlichkeit aufgewiesen hat; dass deswegen auch die sonstigen Beeinträchtigungen des Sehvermögens gefehlt haben, die mit einer Mydriasis einhergehen, kann jedoch nicht angenommen werden.

Für die Annahme, dass auch in derartigen Fällen einer "relativen" Fahruntüchtigkeit von einem Verstoß gegen das Trennungserfordernis auszugehen ist, spricht namentlich die verbreitete Auffassung von Verkehrsmedizinern, dass die Wirkungen des Cannabiskonsums weit schwerer einschätzbar seien als insbesondere beim Alkohol.
Vgl. die im Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 13. Januar 2004 - 7 A 10206/03 -, a.a.O., und im Beschluss des Bayerischen VGH vom 25. Januar 2006 - 11 CS 05.1711 -, juris (= VRS 110 Ä2006Ü, 310 = DAR 2006,407 = Blutalkohol 43 Ä2006Ü, 416), wiedergegebenen wissenschaftlichen Stellungnahmen.
Das bloße Abstellen auf das Erreichen oder Überschreiten von Grenzwerten ermöglicht nur in beschränktem Maße Rückschlüsse auf die Fahrtauglichkeit. Dieser Umstand legt es nahe, um so stärker auf konkrete Auffälligkeiten und Leistungseinbußen abzustellen, wie sie beim Kläger aufgetreten sind. Dafür spricht auch, dass die einschlägigen wissenschaftlichen Studien zu den Auswirkungen des Cannabiskonsums maßgeblich darauf abstellen, wie häufig bei bestimmten Werten von THC oder anderen Cannabisbestandteilen bzw. -metaboliten Ausfallerscheinungen oder doch jedenfalls "Auffälligkeiten" auftreten. Daher liegt es nahe, jedenfalls bei nicht signifikant erhöhten THC-Werten nicht ausschließlich auf deren genaue Höhe - also auf einen lediglich mittelbaren und von erheblichen Unsicherheiten begleiteten Indikator für die Fahrtüchtigkeit -, sondern zumindest ergänzend auch unmittelbar auf konkrete körperliche und/oder psychische Auffälligkeiten des betreffenden Kraftfahrers abzustellen. Ob es insoweit erforderlich ist, stets auf ärztliche Feststellungen zurückzugreifen,
so Pießkalla, NZV 2008, 542 (545),
ist nicht unzweifelhaft, weil zumindest in Routinefällen der durch praktische Erfahrungen geschulte Sachverstand der beteiligten Polizeibeamten ausreichen dürfte, kann aber dahinstehen, weil der Kläger im Anschluss an die Polizeikontrolle auch ärztlich untersucht worden ist.

Unabhängig vom Vorstehenden folgt die mangelnde Trennung zwischen dem (gelegentlichen) Cannabiskonsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen aber auch aus dem beim Kläger festgestellten THC-Wert von 1,2 ng/ml/Serum. Der Senat, der die Frage nach dem insoweit maßgeblichen Schwellenwert bisher offen gelassen hat, folgt der vorherrschenden Auffassung, wonach ein THC-Wert ab 1,0 ng/ml im Blutserum zur Annahme mangelnder Trennung im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV führt.
Ebenso OVG Hamburg, Beschluss vom 15. Dezember 2005 - 3 Bs 214/05 -, NJW 2006, 1367 = Juris (Rn. 20); VGH Baden-Württ., Beschluss vom 27. März 2006 - 10 S 2519/05 -, NJW 2006, 2135 = NZV 2007, 55 = Juris (Rn. 7); OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17. Februar 2009 - 4 LB 61/08 -, juris (Rn. 35 f.); OVG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 16. Juni 2009 - 1 S 17.09 -, Juris, Rn. 6 (= NZV 2010, 531 = Blutalkohol 46 Ä2009Ü, 356); Dauer, a.a.O.; anderer Ansicht (mangelnde Trennung erst oberhalb von 2,0 ng/ml THC) Bayer. VGH, Beschlüsse vom 11. November 2004 - 11 CS 04.2348 -, Blutalkohol 43 (2006), 414 = Juris (Rn. 16 bis 19), und vom 25. Januar 2006 - 11 CS 05.1711 -, DAR 2006, 407 = VRS 110 (2006), 310 = Juris (Rn. 17 ff.); Heß/Burmann, NJW 2007, 486 (492).
Ausschlaggebend für diese Einschätzung ist, dass nach dem Beschluss der sog. Grenzwertkommission vom 20. November 2002 - aktualisiert durch Beschluss vom 22. Mai 2007, Blutalkohol 44 (2007), 311 - der Grenzwert für die Annahme einer Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG für THC bei 1 ng/ml Serum liegen soll. Eine solche Konzentration kann - einschließlich eines entsprechenden Sicherheitszuschlags - sicher nachgewiesen und quantitativ präzise bestimmt werden. Insbesondere erscheint bei Erreichen einer derartigen Konzentration eine Einschränkung der Fahrtauglichkeit möglich.
Vgl. unter Bezugnahme auf wissenschaftliche Stellungnahmen BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Dezember 2004 - 1 BvR 2652/03 -, juris, Rn. 9 und 29 f. (= NJW 2005, 349 = DAR 2005, 70 = NZV 2005, 270 = Blutalkohol 42 Ä2005Ü, 156).
Nimmt ein Fahrerlaubnisinhaber trotz eines nicht lange zurückliegenden Cannabiskonsums und einer deshalb jedenfalls möglichen cannabisbedingten Fahrungeeignetheit am Straßenverkehr teil, ist das als ein hinreichend aussagekräftiger Beleg dafür zu werten, dass ihm das zu fordernde Trennungsvermögen fehlt. Darüber hinaus ergeben sich aus einer neueren Veröffentlichung deutliche Hinweise darauf, dass konkrete Straßenverkehrsgefährdungen und Unfälle nach Cannabiskonsum bei einer THC- Konzentration zwischen 1,0 und 2,0 ng/ml nicht seltener als bei deutlich höheren Werten dieses Cannabiswirkstoffs auftreten, dass also bei Konzentrationen ab 1,0 ng/ml im Serum sogar mehr als bloß die Möglichkeit der Fahruntüchtigkeit besteht.
Vgl. Drasch/von Meyer/Roider/Staack/Paul/Eisenmenger, Blutalkohol 43 (2006), 441.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 47 Abs. 1 und 3 sowie 52 Abs. 1 und 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).