Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 12.07.1983 - VI ZR 184/81 - Zur Anwendbarkeit des Familienprivilegs bei Überleitung nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz

BGH v. 12.07.1983: Zur Anwendbarkeit des Familienprivilegs bei Überleitung nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz


Der BGH (Urteil vom 12.07.1983 - VI ZR 184/81) hat entschieden:
Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen auf Erstattungsansprüche, die der für die Gewährung freiwilliger Erziehungshilfe nach JWG §§ 62ff Verpflichtete auf sich überleitet, das Familienprivileg des VVG § 67 Abs 2 entsprechende Anwendung findet.


Siehe auch Das Familienprivileg im privaten Versicherungs- und im Sozialrecht - Haftungsausschluss im Familien- und Partnerschaftsverband und in eheähnlichen Lebensgemeinschaften und Forderungsübergang in der privaten Versicherung


Tatbestand:

Dem Rechtsstreit liegt ein Verkehrsunfall vom 4. April 1971 zugrunde. Ein Pkw war im Nebel auf einen haltenden Sattelschlepper der US-Streitkräfte aufgefahren. Der damals 4 1/2-jährige M W. erlitt als Insasse des Pkw ein Schädelhirntrauma. Fahrer war sein Vater, dessen Ehefrau und Mutter des M W. bei dem Unfall ums Leben kam.

In der Folgezeit zeigte sich bei M W. eine posttraumatische Wesensveränderung, verbunden mit einer Hirnleistungsschwäche. Dies äußerte sich u.a. in übermäßiger Aggressivität, schlechten schulischen Leistungen und erheblichen Erziehungsschwierigkeiten. Begleitende Erziehungshilfen blieben erfolglos.

Deshalb stellten Vater und Stiefmutter schließlich am 14. April 1977 beim Kläger einen Antrag auf freiwillige Erziehungshilfe (FEH) nach § 63 JWG, um M W, in einem heilpädagogischen Heim unterzubringen. Die FEH wurde am 13. Juni 1977 vom Kläger bewilligt. Seit dem 12. Juli 1977 befindet sich M W. in Heimunterbringung.

Der Kläger verlangt von der beklagten Bundesrepublik, die er vermöge ihrer Prozessstandschaft für die Vereinigten Staaten von Amerika in Anspruch nimmt, Erstattung der Heimkosten für die Zeit vom 12. Juli 1977 bis zum 31. Dezember 1979 in Höhe von insgesamt DM 121.401,55. Er hat als Kostenträger der Erziehungshilfe einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte aus dem Verkehrsunfall vom 4. April 1971 - und zwar durch ein an die Beklagte gerichtetes Schreiben vom 14. März 1980 - gem. §§ 82 JWG, 90 BSHG auf sich übergeleitet. In einem Vorprozess des M W. gegen die Beklagte war deren Einstandspflicht für alle materiellen Unfallschäden des M W. durch Teil- und Grundurteil vom 7. Januar 1976 bereits rechtskräftig festgestellt worden.

Die Beklagte erkannte durch Teilentschließung vom 21. April 1980 die Erstattungspflicht lediglich zur Hälfte, also in Höhe von DM 60.700,77 an. Im Hinblick auf ein Mitverschulden des Vaters des M W. meint sie, ihre Erstattungspflicht gegenüber dem Kläger sei in analoger Anwendung des Familienprivilegs nach § 67 Abs. 2 VVG um den Verschuldensanteil des Vaters, den sie mit 50 % bewertet, gekürzt.

Landgericht und Oberlandesgericht haben der auf Erstattung auch der zweiten Hälfte der Heimkosten (60.700,77 DM) gerichteten Klage stattgegeben. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Abweisungsantrag weiter.


Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht nimmt Bezug auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats hinsichtlich einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift des § 67 Abs. 2 VVG auf Bereiche außerhalb der Privatversicherung und die dabei entstehenden Probleme des "gestörten Innenausgleichs" (für Sozialversicherungsträger Urt. v. 11. Februar 1964 - VI ZR 271/62 - BGHZ 41, 79 und v. 5. Dezember 1978 - VI ZR 233/77 - VersR 1979, 256; für den Dienstherrn nach § 87 a BBG Urt. v. 8. Januar 1965 - VI ZR 234/63 - VersR 1965, 386; für Arbeitgeber in Anwendung von § 4 LFZG Urt. v. 4. März 1976 - VI ZR 60/75 - VersR 1976, 567). Indessen ist es der Meinung, dass sich aus Gründen, die es im einzelnen darlegt, die entsprechende Anwendung jener versicherungsrechtlichen Vorschrift im Rahmen der Überleitung nach § 82 JWG, die an die Regelung des Bundessozialhilfegesetzes anknüpft, verbiete. Es hält deshalb, ebenso wie mit anderer Begründung das Landgericht, den Klaganspruch für begründet.


II.

Dem Berufungsgericht kann zwar in einem wesentlichen Punkt, aber nicht durchweg gefolgt werden. Seine Entscheidung hat deshalb derzeit keinen Bestand.

1. a) Das Kind M W. konnte von der Beklagten vollen Ersatz des bei dem Unfall erlittenen Schadens beanspruchen. Das ergab sich unabhängig von der Frage, ob auch der Vater des Kindes - möglicherweise in gleichem Umfang wie die US-Streitkräfte, für die die Beklagte einzustehen hat - für den Unfall verantwortlich war; überdies ist die Leistungspflicht der Beklagten insoweit rechtskräftig festgestellt.

Durch die vom Kläger ausgesprochene Überleitung - einen privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakt mit der Wirkung, dass der rechtskräftig festgestellte Anspruch im unstreitigen Umfang der unfallbedingten Aufwendungen des Klägers auf diesen übergegangen ist - fand insoweit nur ein Gläubigerwechsel statt (vgl. BVerwGE 56, 300, 302). Der Anspruch als solcher hat damit seinen privatrechtlichen Charakter nicht verloren, so dass er beim ordentlichen Gericht durchzusetzen ist. Darüber besteht zwischen den Parteien auch kein Streit.

Gegenstand des inzwischen zweifelsfrei in Rechtskraft erwachsenen Verwaltungsaktes der Überleitung war in Ermangelung jeder Einschränkung der ganze Ersatzanspruch, soweit er den Leistungen des Klägers entspricht. Damit ist ein weiterer Anspruch in Höhe der Klagsumme vom Verletzten auf den Kläger als neuen Gläubiger übergeleitet. Dass diese Überleitung in Rechtskraft erwuchs, hätte nur durch die - von der Beklagten versäumte - Beschreitung des Verwaltungsrechtsweges verhindert werden können. Die nunmehr eingetretene Rechtskraft ist - was das Berufungsgericht möglicherweise nicht erkannt hat - heute für das ordentliche Gericht bindend. Denn es geht hier nicht um die Frage, ob, in welcher Höhe oder welchen Einwendungen ausgesetzt der überzuleitende Anspruch besteht. Dies allerdings hat die überleitende Behörde in der Regel nicht zu prüfen (ausführlich BVerwGE 34, 219, 223). Gegenstand der ggf. der verwaltungsgerichtlichen Prüfung unterliegenden Entscheidung der Behörde ist es aber, ob ein tatsächlich bestehender zivilrechtlicher Anspruch als der gewährten Fürsorgeleistung kongruent übergeleitet wird (statt vieler VGH Baden-Württ. FEVS 26, 292). Soweit es darum geht, mit Rücksicht auf etwaige dem Deckungszugriff gezogene Grenzen einen in weiterem Umfange bestehenden Anspruch nur teilweise überzuleiten, kann nichts anderes gelten.

b) Hielte man deshalb im Sinne der Revision die überleitende Behörde für verpflichtet, schon bei der Überleitung Einschränkungen zu beachten, die sich bei einer entsprechenden Anwendung der versicherungsrechtlichen Vorschrift des § 67 Abs. 2 VVG im Bereich der öffentlichrechtlichen Fürsorge ergeben müssten, dann wäre es verfehlt, wenn sich das Berufungsgericht insoweit überhaupt zu einer Prüfung für befugt gehalten hat. Hierin liegt der grundlegende Unterschied zwischen der durch Verwaltungsakt bewirkten Überleitung und einem kraft Gesetzes eintretenden Anspruchsübergang etwa nach § 1542 RVO; die gesetzlichen Grenzen eines solchen automatischen Anspruchsübergangs darf der Zivilrichter als öffentlich-rechtliche Vorfrage immer selbst nachprüfen.

c) Soweit sich demgegenüber der frühere IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hinsichtlich des § 21 a FürsPflVO ohne nähere Begründung offenbar auch zu einer Nachprüfung der Kongruenz des übergeleiteten Anspruchs für befugt gehalten hat (BGHZ 20, 127, 130 ff), hätte der erkennende Senat Bedenken, dieser Entscheidung zu folgen. Die Frage bedarf jedoch deshalb keiner Vertiefung, weil der Senat - insoweit in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht - für Fälle der vorliegenden Art eine entsprechende Anwendung der Vorschrift des § 67 Abs. 2 VVG verneint, wie im folgenden auszuführen ist.

2. Soweit die Rechtsprechung des erkennenden Senats bisher im Bereich der Sozialversicherung und der öffentlich- rechtlichen bzw. arbeitsrechtlichen Versorgung die Vorschrift des § 67 Abs. 2 VVG entsprechend angewandt hat (vgl. oben zu I), ging es jeweils - ebenso wie bei dem privatversicherungsrechtlichen Sachverhalt, den die Vorschrift eigentlich betrifft - um eine primäre und als endgültig gedachte Pflicht des Versicherungs- bzw. Versorgungsträgers zur Schadensfreistellung; diese sollte nicht durch dessen Rückgriff auf eine dem Geschädigten wirtschaftlich verbundene Person praktisch unterlaufen werden, was durch die Freistellung des in der Vorschrift umrissenen Personenkreises von Rückgriffen wenigstens für die wichtigste Fallgruppe erreicht wird.

a) Bei Leistungen im Fürsorgebereich im weiteren Sinne ist die Ausgangslage dagegen in wesentlichen Punkten eine andere. Sie sind auch in dem Sinne subsidiär, dass sie regelmäßig eine soziale Bedarfslage voraussetzen. Insbesondere sind sie begrifflich nicht als endgültig gedacht, vielmehr in beschränktem Umfang gegenüber dem Bedürftigen selbst, in erheblich weiterem Umfange gegenüber seinen Erben rückforderbar (BSHG §§ 92 ff). Auch besteht in der Regel kein Anlass, leistungsfähige Unterhaltspflichtige nur deshalb zu verschonen, weil sie zu der in § 67 Abs. 2 VVG umrissenen Personengruppe gehören, wobei sich deren Leistungsfähigkeit unter anderem auch aus dem Bestehen eines Haftpflichtversicherungsschutzes hinsichtlich des die Bedürftigkeit begründenden Unfalles ergeben kann. Der Rückgriff im Wege der Überleitung kann sogar auf höchstpersönliche oder unpfändbare Ansprüche erfolgen (§ 90 Abs. 1 Satz 4 BSHG). Auf der anderen Seite unterliegt der Träger der Sozialhilfe keinem wirtschaftlichen oder haushaltsrechtlichen Zwang zum Rückgriff im Wege der Überleitung, vielmehr ist der Rückgriff in sein pflichtgemäßes, vor allem an fürsorgerischen Belangen auszurichtendes Ermessen gestellt. Wie umfassend die dieser Ermessensausübung zugrundezulegende Prüfung zu sein hat, bestätigt nur beispielhaft der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 34, 219, 224) auf den Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit der Hilfe, wobei es u.U. auch geboten sein kann, eine Störung des Familienfriedens zu vermeiden. Dieser Hinweis zeigt zur Genüge, dass im Sozialhilfebereich schon an sich bessere und elastischere Möglichkeiten zur Vermeidung eines dem Leistungszweck widersprechenden Rückgriffs zur Verfügung standen, als dies die verhältnismäßig starre Regelung des § 67 Abs. 2 VVG leisten könnte. Damit bestand in diesem Bereich für die Rechtsprechung nicht nur kein Anlass, sondern auch keine Befugnis, die auch aus moderner Sicht nicht unbefriedigende oder lückenhafte gesetzliche Regelung durch die analoge Anwendung eines aus einem anderen Bereich stammenden Rechtsgedankens zu modifizieren. Eine entsprechende Anwendung jener Vorschrift im vorliegenden Falle ist daher mit dem Berufungsgericht abzulehnen.

b) Daran ändert auch nichts, dass die inzwischen in Kraft getretenen Vorschriften des Sozialgesetzbuches Teil X (Gesetz vom 4. November 1982 - BGBl I 1982, 1449) u.a. auch zugunsten der Träger der Sozialhilfe - ebenso wie schon bisher nach § 1542 RVO zugunsten der Sozialversicherungsträger - einen automatischen Anspruchsübergang vorsehen (§ 116 Abs. 1 aaO) und dabei ebenfalls einheitlich das von der Rechtsprechung auf die Sozialversicherung ausgedehnte Angehörigenprivileg des § 67 Abs. 2 VVG übernehmen. Diese Vorschriften sind auf den vorliegenden Schadensfall nicht anwendbar (Gesetz vom 4. November 1982, aaO, Art. II § 22), selbst wenn man auch ohne einen entsprechenden Hinweis im Gesetz davon ausgehen wollte, dass sie künftig auch Fälle betreffen sollen, in denen die Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes bisher nur kraft Verweisung in § 82 JWG entsprechend anwendbar waren. Sie können es aber auch ihrer Gedankenführung nach nicht rechtfertigen, für die frühere Zeit die entsprechende Anwendung des § 67 Abs. 2 VVG in richterlicher Rechtsfortbildung auf Fälle der vorliegenden Art zu erstrecken. Denn soweit die Neuregelung durch Schaffung eines automatischen Anspruchsüberganges auch zugunsten des Sozialhilfeträgers Gesetz geworden ist, handelt es sich um eine Maßnahme, die sich für eine richterliche Rechtsfortentwicklung verboten hätte. Das gesetzgeberische Motiv war ersichtlich, zu verhindern, dass weiterhin der Träger der Sozialhilfe aus Gründen der zeitlichen Priorität das Nachsehen hat (Bundestagsdrucksache 9/95 S. 41 bei Nr. 32). Welche Erwägungen den Gesetzgeber bewogen haben, auch die Einschränkung durch das Angehörigenprivileg auf den Anspruchsübergang im Bereich der Sozialhilfe zu erstrecken, ist aus den Materialien nicht ersichtlich. Eine denkbare und einleuchtende Erklärung wäre die, dass angesichts der dargestellten mannigfachen Verschonungspflichten des Sozialhilfeträgers Ansprüche nicht rein vorsorglich in allzu weitem Umfange blockiert werden sollten. Soweit dann im Einzelfall eine weitergehende Abdeckung des Sozialhilfeaufwandes wünschenswert und gerechtfertigt erscheint, mögen andere Wege zur Verfügung stehen, auf die hier nicht näher einzugehen ist. Im jetzt gegebenen Zusammenhang genügt es vielmehr, dass die nunmehrige, auf einem ganz anderen Übergangssystem beruhende gesetzliche Regelung keinen Anlass geben kann, entgegen den oben zu a) ausgeführten Erwägungen das starre Angehörigenprivileg des § 67 Abs. 2 VVG im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung schon auf den bisher geltenden Rechtszustand zu übertragen.

3. Im Streitfall liegt es indes nahe, dass der Kläger mit der Geltendmachung des vollen übergeleiteten Anspruchs gegenüber der Beklagten gegen Treu und Glauben verstößt (§ 242 BGB). Vorbehaltlich gegenteiliger Feststellungen ist hier damit zu rechnen, dass der Kläger im Rahmen seiner fürsorgerischen Aufgabe sowohl nach § 81 JWG als auch nach § 91 Abs. 3 BSHG i.V.m. § 82 JWG gehalten ist, den mitschuldigen und unterhaltspflichtigen Vater des verletzten Kindes von einer Kostenbeteiligung zu verschonen. Es muss jedenfalls für das Revisionsverfahren auch davon ausgegangen werden, dass er aus eben diesem Grunde von einem direkten Zugriff gegen den Vater Abstand genommen hat.

Ist dem aber so, dann verstößt der Kläger dadurch, dass er den vollen Anspruch gegen die beklagte Bundesrepublik durchsetzt, nicht nur gegen seine der öffentlich-rechtlichen Fürsorgeaufgabe entspringende Verschonungspflicht gegenüber dem Vater, indem er damit den Rückgriff der Beklagten gegen diesen aus § 426 Abs. 2 BGB zulässt, auf den die Beklagte schon aus Haushaltsgründen nicht verzichten kann. Der Kläger verstößt vielmehr auch in seinem jedenfalls nach erfolgter Überleitung wieder ausschließlich vom Zivilrecht bestimmten schuldrechtlichen Verhältnis zu der Beklagten gegen die Grundsätze von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Er nötigt nicht nur die Beklagte durch seine unbeschränkte Inanspruchnahme zu einem wenig aussichtsreichen und für den Rückgriffsschuldner harten Rückgriff; das allein muss sich einer von mehreren Gesamtschuldnern grundsätzlich gefallen lassen. Vielmehr täte das der Kläger auch eben deshalb, um sich auf diesem Umweg seiner eigenen Fürsorge- und Einstandspflicht auf Kosten der Beklagten zu entziehen. Das aber muss von dieser nicht hingenommen werden, auch wenn sich diese Sachlage eben erst aus der Überleitung des Anspruchs auf den Kläger ergeben hat.

Das Berufungsgericht wird nach allem auf Zurückverweisung Feststellungen zu den Grundlagen des vorstehend dargestellten Einwandes, ggf. auch zur Verschuldensabwägung bei der Verursachung des Verkehrsunfalles, nachzuholen haben.