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OLG Hamm Beschluss vom 27.11.2008 - 4 Ss OWi 873/08 - Zur Bewertung eines ärztlichen Attestes beim Ausbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung

OLG Hamm v. 27.11.2008: Zur Bewertung eines ärztlichen Attestes beim Ausbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung


Das OLG Hamm (Beschluss vom 27.11.2008 - 4 Ss OWi 873/08) hat entschieden:
Bei Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über die Reise- und Verhandlungsunfähigkeit des Betroffenen darf das Amtsgericht das Ausbleiben des Betroffenen nicht als unentschuldigt ansehen. Zwar muss der Tatrichter eine ärztliche Bescheinigung nicht ungeprüft hinnehmen. Bloße Zweifel an der Richtigkeit eines Attestes dürfen jedoch nicht ohne Weiteres zu Lasten des Betroffenen gehen. Vielmehr ist der Tatrichter nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung in den Fällen, in denen Anhaltspunkte für ein entschuldigtes Ausbleiben vorliegen, von Amts wegen im Wege des Freibeweises gehalten, den Sachverhalt durch geeignete Maßnahmen, etwa durch Nachfragen beim behandelnden Arzt, aufzuklären. Die Erheblichkeit eines ärztlichen Attestes kann nicht allein deshalb verneint werden, weil die Art der Erkrankung nicht angegeben ist.


Siehe auch Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen und Bußgeldverfahren / Ordnungswidrigkeitenverfahren


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat mit Urteil vom 24. Juli 2008 den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Kreises Borken vom 6. Februar 2008, durch den wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts um 49 km/h eine Geldbuße von 150,- € und ein einmonatiges Fahrverbot festgesetzt worden war, verworfen und zur Begründung Folgendes ausgeführt:
"Der Betroffene ist in dem heutigen Termin ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben. Allein die allgemeine Behauptung, dass er reiseunfähig erkrankt sei, reicht hierzu nicht aus. Nach ständiger Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Hamm ist zumindest die Erkrankung genau zu benennen, damit das Gericht prüfen kann, ob die Erkrankung tatsächlich eine Anreise ausschließt. Darüber hinaus ist die Erkrankung auch nicht glaubhaft gemacht. Das Gericht hatte keine Möglichkeit, den Betroffenen hierüber zu informieren, da das Fax erst im Termin vorgelegt worden ist."
Der Betroffene ist zu dem auf den 24. Juli 2008 um 11.15 Uhr anberaumten Termin ebenso wie sein Verteidiger nicht erschienen. Dieser hatte mit einem am Verhandlungstage um 09.37 Uhr beim Amtsgericht eingegangenen Fax mitgeteilt, der Betroffene sei reiseunfähig erkrankt; es werde um Verlegung des Termins gebeten; das Attest werde nachgereicht. Per Fax vom selben Tag, eingegangen um 10.27 Uhr, wurde ein ärztliches Attest vom 24. Juli 2008 übermittelt, in dem es - zur Vorlage bei Gericht - heißt, der Betroffene sei wegen einer akuten Erkrankung nicht reisefähig.

Gegen dieses seinem Verteidiger am 7. August 2008 zugestellte Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner am 14. August 2008 eingegangenen Rechtsbeschwerde, die mit Schriftsatz vom 15. September 2008, eingegangen beim Amtsgericht am selben Tag, u.a. mit der näher ausgeführten Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs begründet worden ist.

Mit Beschluss vom 17. Oktober 2008 hat das Amtsgericht die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unzulässig verworfen, da diese nicht fristgerecht begründet worden sei.

Gegen diesen seinem Verteidiger am 24. Oktober 2008 zugestellten Beschluss wendet sich der Betroffene mit seinem am 31. Oktober 2008 beim Amtsgericht eingegangenen Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts vom selben Tag.


II.

Der Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist zulässig und begründet.

Das angefochtene Urteil ist in Abwesenheit verkündet worden. Die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde endete mithin am 14. August 2008, §§ 79 Abs. 3 und 4 OWiG, 341 Abs. 1 StPO. Die Monatsfrist zur Begründung der Rechtsbeschwerde lief am 15. September 2008 ab, §§ 79 Abs. 3 OWiG, 345 Abs. 1 StPO, so dass die Rechtsbeschwerdebegründungsschrift rechtzeitig eingegangen ist.

Der damit zulässigen Rechtsbeschwerde ist ein - zumindest vorläufiger - Erfolg nicht zu versagen.

Der Betroffene hat mit zwei Schriftsätzen seines Verteidigers, eingegangen am Verhandlungstag per Fax um 09.37 und 10.27 Uhr und damit noch vor Beginn der Hauptverhandlung, unter Hinweis auf das ebenfalls per Fax übermittelte ärztliche Attest vorgetragen, er sei reiseunfähig erkrankt. Bei dieser Sachlage hätte das Amtsgericht das Ausbleiben des Betroffenen nicht als unentschuldigt ansehen dürfen. Zwar muss der Tatrichter eine ärztliche Bescheinigung nicht ungeprüft hinnehmen. Bloße Zweifel an der Richtigkeit eines Attestes dürfen jedoch nicht ohne Weiteres zu Lasten des Betroffenen gehen. Vielmehr ist der Tatrichter nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung in den Fällen, in denen Anhaltspunkte für ein entschuldigtes Ausbleiben vorliegen, von Amts wegen im Wege des Freibeweises gehalten, den Sachverhalt durch geeignete Maßnahmen, etwa durch Nachfragen beim behandelnden Arzt, aufzuklären (vgl. OLG Hamm StraFo 2008, 386; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2006, 313; OLG Zweibrücken, ZfSch 2006, 233; OLG Bremen, NZV 2002, 195). Die Erheblichkeit eines ärztlichen Attestes kann, im Gegensatz zur Auffassung des Amtsgerichts, nicht allein deshalb verneint werden, weil die Art der Erkrankung nicht angegeben ist (vgl. OLG Hamm a.a.O.; BayObLG, NZV 1998, 426; Göhler, OWiG, 14. Aufl., § 74 Rdnr. 29).

Der Name des Arztes und seine Telefonnummer waren dem übersandten Attest zu entnehmen. Mit der Vorlage eines Attestes liegt gleichzeitig die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht vor (vgl. Göhler, a.a.O.). Das Amtsgericht hätte daher im vorliegenden Falle durch eine telefonische Nachfrage beim behandelnden Arzt die Frage der Reiseunfähigkeit aufgrund akuter Erkrankung klären können und müssen.

Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Bocholt zurückzuverweisen.



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