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OLG Koblenz Beschluss vom 29.10.2012 - 1 SsBs 77/12 - Zur Frage, ob es sich bei mehreren Lenk- und Ruhezeitverstößen um eine prozessuale Tat handelt

OLG Koblenz v. 29.10.2012: Zur Frage, ob es sich bei mehreren Lenk- und Ruhezeitverstößen um eine prozessuale Tat handelt


Das OLG Koblenz (Beschluss vom 29.10.2012 - 1 SsBs 77/12) hat entschieden:

1.  Der Senat möchte seiner Entscheidung den Rechtssatz zugrunde legen, dass auch in Verfahren, die Verstöße gegen die Vorschriften über die Lenk- und Ruhezeiten von Berufskraftfahrern zum Gegenstand haben, der allgemeine Tatbegriff des § 264 StPO gilt, mit dem es nicht zu vereinbaren ist, dass mehrere materiell-rechtlich selbständige Handlungen im Sinne des § 20 OWiG unabhängig von den Umständen des Einzelfalles allein deshalb als eine einzige prozessuale Tat angesehen werden, weil sie innerhalb eines bestimmten (Überwachungs- oder Kontroll-)Zeitraumes begangen wurden.

2.  Die Sache wird dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Frage vorgelegt:

   Ist es mit §§ 46 OWiG, 264 StPO zu vereinbaren, wenn in Bußgeldsachen, die Verstöße gegen die Sozialvorschriften im Straßenverkehr zum Gegenstand haben, ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles mehrere rechtlich selbständige Handlungen im Sinne des § 20 OWiG allein deshalb als eine prozessuale Tat angesehen werden, weil der Betroffene sie innerhalb eines als Kontroll- oder Überprüfungszeitraum bezeichneten Tatzeitraumes begangen hat?


Siehe auch

Fahrpersonal im Straßenverkehr - Lenkzeiten - Ruhezeiten - EG-Kontrollgerät

und

Tatmehrheit oder Tateinheit bei Lenkzeitverstößen


Gründe:

I.

1. Mit Schreiben vom 8. März 2011 forderte die Struktur- und Genehmigungsdirektion Nord die F. GmbH, die Arbeitgeberin des Betroffenen, auf, zwecks Überprüfung der Sozialvorschriften im Straßenverkehr u.a. Arbeitszeitnachweise für die als Fahrpersonal eingesetzten Mitarbeiter „durch Aufzeichnungen, Originalschaublätter von EG-Kontrollgeräten und Fahrtenschreibern oder durch elektronische Daten von digitalen EG-Kontrollgeräten“ für die Zeit vom 1. November 2010 bis zum 31. Januar 2011 vorzulegen.

Nach Auswertung der Unterlagen wurde dem Betroffenen zur Last gelegt, in der Zeit vom 5. November 2010 bis zum 28. Januar 2011 insgesamt 36 rechtlich selbständige Ordnungswidrigkeiten begangen zu haben. Dabei handelt es sich um die der Verurteilte nach den Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 10. Mai 2012 teils vorsätzlich, teils fahrlässig und teils in einer Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination begangen haben soll.

Der von dem Betroffenen jeweils geführte Lastkraftwagen (26 t) war mit einem digitalen EG-Kontrollgerät ausgestattet.

Wochen- und Doppelwochenverstöße (Art. 6 Abs. 2, 3 VO [EG] Nr. 561/2006) werden dem Betroffenen nicht zur Last gelegt. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass es solche, abweichend von den tatrichterlichen Feststellungen, gegeben haben könnte.

Von den verhängten Bußgeldern übersteigen nur zwei (Fälle 15 und 20) mit 420 € bzw. 440 € die 250 € - Grenze des § 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG. Insgesamt soll der Betroffene 3.000 € zahlen.

2. Ob die gegen das Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 10. Mai 2012 auf die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde des Betroffenen ohne Weiteres für alle Fälle zulässig ist oder in den 34 Fällen, in denen 250 € nicht übersteigende Geldbußen festgesetzt wurden, jeweils die Voraussetzungen des § 80 OWiG zu prüfen sind, hängt gemäß § 79 Abs. 2 OWiG davon ab, ob alle Verfehlungen Teilakte einer Tat im Sinne des § 264 StPO sind.

Der Senat, auf den die Sache mit Beschluss des Einzelrichters vom 12. September 2012 übertragen wurde, möchte dies verneinen und in den Fällen 1-14, 16-19 und 21-36 des angefochtenen Urteils das jeweils als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde anzusehende Rechtsmittel als unbegründet verwerfen, weil weder hinsichtlich des Schuldspruchs noch mit Blick auf die Rechtsfolgen die Voraussetzungen des § 80 OWiG vorliegen. Dabei möchte er seiner Entscheidung den Rechtssatz zugrunde legen, dass auch in Verfahren, die Verstöße gegen die Vorschriften über die Lenk- und Ruhezeiten von Berufskraftfahrern zum Gegenstand haben, der allgemeine Tatbegriff des § 264 StPO gilt, mit dem es nicht zu vereinbaren ist, dass mehrere materiell-rechtlich selbständige Handlungen im Sinne des § 20 OWiG unabhängig von den Umständen des Einzelfalles allein deshalb als eine einzige prozessuale Tat angesehen werden, weil sie innerhalb eines bestimmten (Kontroll-)Zeitraumes begangen wurden.


II.

1. An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich der Senat durch die Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte gehindert, die ohne nähere Begründung davon ausgehen, dass Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeitenregelungen der VO (EG) Nr. 561/2006, die ein Kraftfahrer innerhalb eines bestimmten (Kontroll-)Zeitraumes begeht, immer Einzelakte einer Tat im Sinne des § 264 StPO seien (OLG Frankfurt v. 13.07.2010 - 2 Ss OWi 17/10 - juris - NStZ-RR 2010, 355; OLG Hamm v. 16.04.2012 - 3 RBs 105/12 - juris; Thür. OLG v. 19.10.2010 - 1 Ss Bs 78/10 - juris - VRS 121, 53).

Diesen Entscheidungen lagen zwar Sachverhalte zugrunde, in denen der Tat- oder Überprüfungszeitraum mit der in § 1 Absatz 6 Satz 4, Abs. 7 FPersV festgelegten Zeitspanne von 29 Tagen deckungsgleich war. Eine Beschränkung der Gleichsetzung von Überprüfungszeitraum und Tat im Sinne des § 264 StPO auf diese Zeitspanne ist dieser Rechtsprechung nicht zu entnehmen; von ihr ausgehend wäre es wohl auch willkürlich, bei 28 oder 30 Tagen wieder mehrere prozessuale Taten anzunehmen. Die Generalstaatsanwaltschaft weist in ihrer Stellungnahme vom 19. September 2012 – wie auch in einem Parallelverfahren – deshalb zu Recht darauf hin, dass dieser Rechtsprechung die Annahme zugrunde liegt, die Tat im Sinne des § 264 StPO werde immer durch den Überprüfungszeitraum der jeweils handelnden Behörde bestimmt – unabhängig davon, ob es sich um eine Straßenkontrolle (mit einem regelmäßigen Überprüfungszeitraum von 29 Tagen) oder um eine Betriebskontrolle (mit – wie hier – einem Überprüfungszeitraum von drei Monaten) handelt. Dementsprechend hat das Oberlandesgericht Hamm (Beschl. vom 30.11.2010 - II-5 RBs 188/10 - juris) in einem Verfahren, in dem dem Betroffenen 18 Verstöße gegen Sozialvorschriften im Straßenverkehr, begangen über eine Zeitraum von ca. 11 Monaten, zur Last gelegt worden waren, ebenfalls den „weiten“ Tatbegriff angewandt. Zwar hatte damals das Amtsgericht den Betroffenen in der irrigen Annahme, der 29 Tage umfassende Überprüfungszeitraum für Straßenkontrollen beschränke die Ahndungsmöglichkeiten auf diese Zeitspanne, nur wegen 5 Verfehlungen aus diesem Zeitraum verurteilt. Das Oberlandesgericht Hamm hatte aber über eine Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft zu befinden, die auch eine Verurteilung wegen der übrigen, viel länger zurückliegenden 13 Handlungen anstrebte. Insoweit hat es jedoch nicht die Voraussetzungen des § 79 Abs. 1 Nr. 3 OWiG bzw. des § 80 OWiG geprüft, sondern „alle Verstöße“ als eine prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO angesehen und das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft als uneingeschränkt zulässige Rechtsbeschwerde behandelt, weil sich die wegen der 5 abgeurteilten Ordnungswidrigkeiten verhängten Bußgelder auf 1.344 € summierten. So konnte das Gericht aber nur vorgehen, wenn es alle 18 Verfehlungen des Betroffenen, die Gegenstand des Verfahrens waren, als eine Tat im Sinne des § 79 Abs. 2 OWiG i.V.m. § 264 StPO und die noch offenen Verfehlungen als Teilakte dieser Tat ansah, für die § 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG einschlägig ist (so auch OLG Hamm v. 30.11.2010 - II-5 RBs 158/10 - juris - DAR 2011, 412 bei 36 Verfehlungen und einem Tatzeitraum vom 07.01 - 10.08. 2009).

2. Der Senat teilt diese Auffassung nicht. Wie Verstöße gegen die Sozialvorschriften im Straßenverkehr zu sanktionieren sind, regeln die Mitgliedsstaaten der EU in eigener Verantwortung im Einklang mit ihren Rechtsordnungen (Art. 19 VO (EWG) Nr. 3821/85). Auch die Konkurrenzen (die man so wie in Deutschland in den meisten anderen Mitgliedstaaten überhaupt nicht kennt) und der prozessuale Tatbegriff richten sich allein nach nationalem Recht.

Danach sind sachlich-rechtlich selbständige Handlungen in der Regel auch verschiedene Taten im prozessualen Sinne, es sei denn, die einzelnen Handlungen sind ausnahmsweise innerlich derart miteinander verknüpft, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände richtig gewürdigt werden kann, die zu der anderen Handlung geführt haben, und dass die getrennte Aburteilung einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde (st. Rspr.; BGH v. 18.03.2009 - 1 StR 50/09 - juris; BGH v. 15.03.2012 - 5 StR 288/11 - juris Rn. 20)

Daran gemessen mag in Einzelfällen die Annahme einer Tat im Sinne des § 264 StPO auch gerechtfertigt sein, wenn Ordnungswidrigkeiten nach § 8a FPersG zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit stehen. In der Regel – und so auch hier – ist es aber anders. Wenn ein LKW-Fahrer montags 6 Stunden ohne Pause durchfährt und freitags die Höchsttageslenkzeit überschreitet, beschränken sich die Gemeinsamkeiten darauf, dass dieselbe Person gehandelt hat und sich das anzuwendende Recht in denselben Regelungswerken findet. Dies ist für eine innere Verknüpfung im Sinne des Tatbegriffs viel zu wenig (OLG Hamm v. 14.07.2009 - 3 Ss OWi 355/09 - juris Rn. 13); der persönliche Zusammenhang spielt allenfalls für die Zuständigkeit (§ 38 OWiG) eine Rolle.


III.

Die Rechtsfrage ist schon deshalb entscheidungserheblich, weil von ihrer Beantwortung abhängt, ob § 80 OWiG Anwendung findet oder nicht. Sie hat aber auch Einfluss auf die Entscheidung in der Sache selbst, wie an einem Beispiel verdeutlicht werden soll.

In Fall 3 des angefochtenen Urteils wird dem Betroffenen ein vorsätzlicher Verstoß gegen Art. 7 VO EG Nr. 561/2006 zur Last gelegt, der mit eine Geldbuße von 90 € geahndet wurde. Die tatrichterlichen Feststellungen lauten insoweit:

18 Fälle der verspäteten Fahrtunterbrechung (Art. 7 VO [EG] Nr. 561/2006);
4 Fälle der Tageslenkzeitüberschreitung (Art. 6 Abs. 1 VO [EG] Nr. 561/2006);

2 Fälle der Tagesruhezeitverkürzung (Art. 8 Abs. 2 VO [EG] Nr. 561/2006);
4 Fälle der verspäteten Fahrtunterbrechung in Tateinheit mit Tageslenkzeitüberschreitung und Tagesruhezeitverkürzung (Art. 7, 6 Abs. 1, 8 Abs. 2 VO [EG] Nr. 561/2006);

  • 5 Fälle der verspäteten Fahrtunterbrechung in Tateinheit mit Tageslenkzeitüberschreitung (Art. 7, 6 Abs. 1 VO [EG] Nr. 561/2006);

  • 2 Fälle der verspäteten Fahrtunterbrechung in Tateinheit mit Tagesruhezeitverkürzung (Art. 7, 8 Abs. 2 VO [EG] Nr. 561/2006);
    1 Fall der Tageslenkzeitüberschreitung in Tateinheit mit Tagesruhezeitverkürzung (Art. 6 Abs. 1, 8 Abs. 2 VO [EG] Nr. 561/2006),
       „In der Zeit vom 15.11.2010, 21.10 Uhr bis zum 16.11.2010, 05.14 Uhr, lenkte der Betroffene sein Fahrzeug insgesamt 7 Stunden und 1 Minute und überschritt die zulässige Lenkdauer wissentlich um 2 Stunden und 31 Minuten.“


    Auf uneingeschränkt zulässige Rechtsbeschwerde müsste eine Aufhebung wegen unzureichender tatsächlicher Feststellungen erfolgen. Diesen ist zu entnehmen, dass der Betroffene in der Nacht vom 15. auf den 16. November 2010 von 21.10 Uhr bis 5.14 Uhr, also 8 Stunden und 4 Minuten unterwegs war. Die reine Lenkzeit wird mit „insgesamt“ 7 Stunden und 1 Minute angegeben. Daraus errechnet sich eine „Lücke“ von etwas mehr als einer Stunde. Der Vorwurf, der Betroffene habe nicht die in Art. 7 VO EG Nr. 561/2006 vorgeschriebene(n) Pause(n) von 45 Minuten bzw. 15 und 30 Minuten eingelegt, wird von den Feststellungen nicht getragen.




    Demgegenüber wäre, wenn man wie der Senat davon ausgeht, dass es sich bei dieser Verfehlung auch um eine gesonderte prozessuale Tat handelt, § 80 Abs. 2 OWiG einschlägig. Da eine Versagung rechtlichen Gehörs nicht geltend gemacht wird, käme es darauf an, ob es geboten ist, die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des (materiellen) Rechts zuzulassen. Auch wenn man § 267 Abs. 1 StPO zu den Rechtsnormen zählt, die unter § 80 Abs. 2 OWiG fallen, lägen dessen Voraussetzungen nicht vor. Für die Beurteilung der Erforderlichkeit der Rechtsfortbildung ist nicht entscheidend, ob das Recht im Einzelfall richtig angewandt worden ist, sondern allein, ob der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch zu schließen (ständige Senatsrechtsprechung; BGHSt 24, 15, 21). Dies ist hier nicht der Fall. Es ist nicht nur selbstverständlich, dass der Tatrichter immer einen Sachverhalt zu schildern hat, der unter die objektiven und subjektiven Merkmale der tenorierten Sanktionsnorm zu subsumieren ist. Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung auch geklärt, welche Anforderungen speziell in Bußgeldverfahren an die Urteilsgründe zu stellen sind, wenn es um Verstöße gegen die Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhepausen nach VO (EG) 561/2006 geht (siehe z.B. Senatsbeschl. v. 26.08.2011 - 1 SsBs 63/11 - juris m.w.N.).

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