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BayObLG Beschluss vom 10.11.1978 - 2 Ob OWi 432/78 - Zur Identität der Tat im Bußgeldbescheid und im Urteil und zur Ablaufhemmung der Verjährung

BayObLG v. 10.11.1978: Zur Identität der Tat im Bußgeldbescheid und im Urteil und zur Ablaufhemmung der Verjährung


Das BayObLG (Beschluss vom 10.11.1978 - 2 Ob OWi 432/78) hat entschieden:
  1. Hat der Erstrichter wegen einer Tat verurteilt, die nicht mit der im Bußgeldbescheid bezeichneten Tat identisch ist, ist der Betroffene, wenn die vorgeworfene Tat nicht erwiesen werden kann, vom Rechtsbeschwerdegericht freizusprechen. Für eine zusätzliche Einstellung des Verfahrens hinsichtlich der nicht verfahrensgegenständlichen Tat ist kein Raum (Aufgabe BayObLG München, 1970-01-27, 1b Ws (B) 94/69, BayObLGSt 1970, 29 und BayObLG München, 1974-05-30, RReg 6 St 557/74 OWi, BayObLGSt 1974, 58).

  2. Auch ein Urteil, das eine nicht verfahrensgegenständliche Tat aburteilt, entfaltet hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Tat die Hemmungswirkung des OWiG § 32 Abs 2.

Siehe auch xxx und Stichwörter zum Thema Ordnungswidrigkeiten


Tatbestand:

Das Amtsgericht hat die Betroffene wegen fahrlässigen Führens eines Kraftfahrzeugs mit unvorschriftsmäßiger Bereifung zur Geldbuße verurteilt. Mit ihrer Rechtsbeschwerde, deren Zulassung sie beantragt, rügt die Betroffene die Verletzung des formellen und des materiellen Rechts.


Entscheidungsgründe:

I.

Die Rechtsbeschwerde wird zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen (§ 79 Abs 1 Satz 2, § 80 Abs 1 OWiG).

II.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts fuhr die Betroffene am 10.10.1977 mit ihrem Personenkraftwagen, dessen linker Hinterreifen auf der Innenseite fast auf der gesamten Lauffläche bis auf wenige Rillen auf einer Breite von 2 - 3 cm ohne Profil war, zu dem Krankenhaus in R. und stellte ihr Fahrzeug vor dem Hauptportal der Inneren Abteilung ab. Da sie entgegen ihren Erwartungen sofort stationär aufgenommen wurde, ließ sie das Fahrzeug noch am Abend des gleichen Tages auf den öffentlichen Parkplatz des Krankenhauses verbringen; dort stand es während des weiteren Krankenhausaufenthalts der Betroffenen. Am 10.11.1977 fiel Polizeibeamten der mangelhafte Zustand des linken Hinterreifens auf, weshalb sie Mängelbericht und Bußgeldanzeige erstatteten.

In dem daraufhin ergangenen Bußgeldbescheid wurde der Betroffenen zur Last gelegt, am 10.11.1977 ein Fahrzeug mit Reifen ohne ausreichendes Profil geführt zu haben. Das Amtsgericht hat die Betroffene wegen ihrer am 10.10.1977 angetretenen Fahrt verurteilt.

2. Die Verurteilung der Betroffenen kann nicht bestehen bleiben.

a) Grundlage für das gerichtliche Verfahren in Bußgeldsachen ist der Bußgeldbescheid. Er hat nach dem Einspruch der Betroffenen den Charakter einer Beschuldigung, die den Prozessgegenstand in persönlicher, sachlicher und rechtlicher Hinsicht abgrenzt (vgl BGHSt 23, 336/339; BayObLG VRS 38, 456; Göhler OWiG 5. Aufl Anm 4 vor § 65 und Anm 2 vor § 71). Wie sich im Strafverfahren die Untersuchung und Entscheidung nur auf die in der Anklage bezeichnete Tat erstrecken (§ 155 Abs 1, § 264 Abs 1 StPO), ist Gegenstand des gerichtlichen Bußgeldverfahrens nur die im Bußgeldbescheid bezeichnete Tat. Der prozessuale Tatbegriff ist allerdings weitergehend als der sachlich-rechtliche Begriff der Handlung und umfasst das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt (Kleinknecht StPO 33. Aufl § 264 RdNr 2). Diese Grundsätze gelten auch für das gerichtliche Bußgeldverfahren.

b) Der gegen die Betroffene erlassene Bußgeldbescheid hatte eine andere prozessuale Tat zum Gegenstand als das angefochtene Urteil. Dem Bußgeldbescheid liegt eine am 10.11.1977 begangene Zuwiderhandlung gegen § 36 Abs 2 StVZO zugrunde, das Amtsgericht hat einen gleichartigen, aber bereits am 10.10.1977 begangenen Verstoß abgeurteilt.

Wegen des erheblichen zeitlichen Abstandes zwischen vorgeworfener und erwiesener Handlung ist eine Tatidentität nicht gegeben. Das hat der Senat schon aus früherem Anlass in einem gleichgelagerten Fall entschieden (BayObLGSt 1974, 58). In Übereinstimmung mit dem OLG Stuttgart (DAR 1972, 193) und mit Göhler (aaO § 66 Anm 17 A c mit Nachweisen) ist er der Auffassung, dass es in derartigen Fällen unzulässig ist, eine im Bußgeldbescheid zeitlich und örtlich genau festgelegte Tat durch Umgestaltung zur Grundlage der Verurteilung zu machen. Nachdem die Betroffene das Fahrzeug weder an dem im Bußgeldbescheid genannten Tag - noch kurze Zeit davor gefahren hat, konnte sie wegen der im Bußgeldbescheid bezeichneten Tat nicht verurteilt werden. Da weitere Feststellungen, die zu einer anderen Beurteilung führen könnten, nicht zu erwarten sind, entscheidet der Senat nach § 79 Abs 6 OWiG in der Sache selbst und spricht die Betroffene durch Beschluss nach § 79 Abs 5 Satz 1 OWiG frei.

3. In Fällen, in denen in Abweichung vom Erstrichter Tatidentität zwischen verfolgter und erwiesener Tat verneint wurde, haben bisher der 1. Senat für Bußgeldsachen (BayObLGSt 1970, 29) und ihm folgend der erkennende Senat (BayObLGSt 1974, 58) hinsichtlich der vorgeworfenen Tat freigesprochen und hinsichtlich der abgeurteilten Tat das Verfahren eingestellt. An einer solchen Sachbehandlung hält der Senat bei Überprüfung seiner früher vertretenen Ansicht nicht fest. Ein erfolgreiches Rechtsmittel führt grundsätzlich dazu, dass die Entscheidung hergestellt wird, die bei richtiger Sachbehandlung vom Vorderrichter zu treffen gewesen wäre. Hätte der Amtsrichter die Frage der Tatidentität richtig beurteilt, hätte er die Betroffene freisprechen müssen. Für eine darüber hinausgehende Einstellung des Verfahrens wäre kein Raum gewesen, weil eine weitere Tat nicht Gegenstand des Verfahrens geworden war. Zu keinem anderen Ergebnis kann die Korrektur des Rechtsfehlers durch das Rechtsbeschwerdegericht führen. Der 1. Senat für Bußgeldsachen hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er ebenfalls an seiner früher vertretenen Rechtsauffassung nicht mehr festhält.

4. Ein Freispruch wäre allerdings ausgeschlossen, wenn die Verfolgung der Tat bereits verjährt wäre. Diese Frage ist von Amts wegen bereits im Zulassungsverfahren zu prüfen (BGHSt 23, 365). Verfolgungsverjährung ist jedoch hinsichtlich der den Verfahrensgegenstand bildenden Tat bis zum Ersturteil nicht eingetreten, da diese zunächst durch den Bußgeldbescheid vom 13.12.1977 (§ 33 Abs 1 Nr 9 OWiG), durch die Aktenvorlage an den Richter am 24.2.1978 (§ 33 Abs 1 Nr 10 OWiG) sowie durch die jeweilige Anberaumung der Hauptverhandlung am 28.2., 10.4. und 30.5.1978 (§ 33 Abs 1 Nr 11 OWiG) wirksam unterbrochen worden ist. Seit dem Ersturteil ist die Verjährung nach § 32 Abs 2 OWiG bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens gehemmt. Dem steht nicht entgegen, dass das Amtsgericht eine andere als die im Bußgeld bezeichnete Tat aburteilte. Die Hemmung erfasst die Verfolgung der Tat im verfahrensrechtlichen Sinne unter allen rechtlichen Gesichtspunkten (Göhler OWiG 5. Aufl § 32 Anm 3). Wie § 33 OWiG nicht mehr auf die Verfolgungsqualität der einzelnen Unterbrechungshandlung abstellt, tritt auch die Hemmungswirkung des § 32 Abs 2 OWiG unabhängig davon ein, ob die erstinstanzliche Entscheidung auf Verurteilung, Einstellung oder Freispruch lautet. Wird aber die Eigenschaft einer Verfolgungshandlung nicht gefordert, dann kann es auch auf die - falsche - Verfolgungsrichtung nicht ankommen; vielmehr kann sich die Sperrwirkung nur auf den Verfahrensgegenstand als solchen beziehen. Der 1. Senat für Bußgeldsachen hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er an seiner gegenteiligen Auffassung im Beschluss vom 13.9.1977 (10b OWi 228/77) nicht festhält.