Das Verkehrslexikon

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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 23.01.2004 - 24 U 118/03 - Zur Vorfahrtregelung bei der Kreuzung von Radweg und Straße

OLG Frankfurt am Main v. 23.01.2004: Zur Vorfahrtregelung bei der Kreuzung von Radweg und Straße


Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 23.01.2004 - 24 U 118/03) hat entschieden:
  1. Der Charakter eines Weges als Radweg oder anderer Weg bestimmt sich nach dem äußeren Bilde dieses Weges.

  2. Von der Aufstellung der Zeichen 237, 240, 241 ist der rechtliche Charakter des Weges nicht abhängig.

  3. Auch ein äußerlich von der Fahrbahn getrennter Weg kann Radweg sein und an der Vorfahrt der parallel zu ihm verlaufenden Fahrbahn teilhaben.

Siehe auch Kreuzung eines Radweges mit einer Straße und Abschleppkosten - Kfz.-Umsetzungsgebühren


Gründe:

1. Die Kläger, Erben des später aus anderem Grunde verstorbenen Herrn X , begehren Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, den Herr X erlitt.

Er befuhr am 12.05.1998 mit seinem Fahrrad einen Weg, der längs der Fahrbahn „W1“ in O. verlief, dies - aus der Sicht des Radfahrers - in Fahrtrichtung links. Auf der einmündenden …straße näherte sich der Beklagte zu 1) mit seinem Wagen; er hielt zunächst an dem noch vor dem längs verlaufenden Weg aufgestellten Verkehrszeichen 205 an, fuhr dann aber wieder los. Er erfasste Herrn X, und dieser wurde vor allem an der Wirbelsäule erheblich verletzt.

Das Landgericht hat die Beklagten durch Teil- und Grundurteil vom 29.04.2003 zur Zahlung von materiellem Schadensersatz verurteilt und eine Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz immateriellen Schadens dem Grunde nach festgestellt. Zum erstinstanzlichen Sach- und Streitstand wird auf die tatbestandlichen Feststellungen dieses Urteils verwiesen. Mit der Berufung tragen die Beklagten vor, der längs der Fahrbahn verlaufende Weg sei ungeachtet tatsächlicher Benutzung durch Radfahrer schon deshalb kein Radweg gewesen, weil er nicht ausdrücklich als solcher gekennzeichnet gewesen sei. So werde es auch daraus deutlich, dass sich die Straßenverkehrsbehörde erst im Anschluss an den Unfall zur Aufstellung des Zeichens 138 („Radfahrer kreuzen“) entschlossen habe. Der Weg sei straßenverkehrsrechtlich als Waldweg einzustufen gewesen; Waldwege eröffneten aber keine Vorfahrt. Deshalb habe sich das auf der ...straße aufgestellte Zeichen 205 auch nicht auf den von dem verletzten Radfahrer benutzten Fahrweg bezogen.

Die Beklagten beantragen,
in Abänderung des Urteils des Landgerichts Darmstadt vom 29.04.2003 die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie tragen vor, der verletzte Radfahrer sei vorfahrtberechtigt gewesen.

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vortrages der Parteien wird auf die vor dem Berufungsgericht gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.


2. Die Berufung ist insoweit begründet, als den verletzten Radfahrer ein Mitverschulden - zu einem Anteil von 1/3 - am Unfallgeschehen und damit den Unfallfolgen traf.

Dass die Beklagten den Klägern dem Grunde nach haften (§§ 7 Abs. 1, 2 StVG und - wegen der immateriellen Schäden - §§ 823 Abs. 1, 847 a.F. BGB, 3 Ziffer 1, 2 PflVG, 1922 Abs. 1 BGB) ist zwischen den Parteien nicht umstritten. Schon ungeachtet der Frage danach, wer in der zum Unfall führenden Situation die Vorfahrt hatte, hätte der Beklagte zu 1) den herannahenden Radfahrer bei Anspannung der erforderlichen Sorgfalt sehen können und müssen; das wird aus den vorgelegten Fotografien der Örtlichkeit ohne weiteres deutlich. a) Die Ersatzpflicht ist allerdings auf 2/3 des unfallbedingten Schadens beschränkt; den Radfahrer traf ein Mitverschulden am Unfallgeschehen, welches das Berufungsgericht mit 1/3 bemisst (§ 254 BGB).

b) Allerdings ist ein Mitverschuldensvorwurf nicht deshalb gerechtfertigt, weil der Radfahrer die Vorfahrt des Beklagten zu 1) missachtet hätte. Denn der von dem Verstorbenen benutzte Radweg nahm am Vorrecht der parallel zu ihm verlaufenden Straße - W1 - Anteil; der Beklagte zu 1) war - deshalb - wartepflichtig. Der Weg war Radweg im straßenverkehrsrechtlichen Sinne. Denn er stellte sich dem äußeren Bilde, seiner Beschaffenheit und seinem Verlaufe nach als Radweg dar, und dieses äußere Bild ist für die Bestimmung des rechtlichen Charakters einer Straßen- oder Wegefläche maßgeblich. Er verlief nämlich aus der Richtung, aus der der Radfahrer kam, über die gesamte von der Einmündung der ...straße her übersehbare Strecke parallel zur „Hauptstraße“, zum W1. Seiner Anlage nach stellte er schlicht eine der beiden im hiesigen Raum typischen Varianten - unmittelbar an die Fahrbahn angrenzend, nur durch einen Randstein abgegrenzt zum einen, durch eine schmale bewachsene Fläche von der Fahrbahn getrennt zum anderen - eines Rad- oder Fußweges dar.

Dieses äußere Bild war entscheidend, nicht eine Kennzeichnung durch Verkehrszeichen (237 – 241). So ergibt es sich im Umkehrschluss aus § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO (ebenso: OLG Karlsruhe DAR 2000, 307). Der enge räumliche Zusammenhang von Straße und Weg - der Weg setzte sich über die Kreuzung fort und mündete dann in die Straße ein - schloss eine Charakterisierung des Weges als von der Straße unabhängig angelegter Wald- oder Feldweg aus.

Radwege folgen in der Bestimmung des Vorfahrtsrechts der Straße, der sie zugehören. Daraus ergibt sich unmittelbar, dass der auf dem Radweg herannahende Radfahrer gegenüber dem auf der ...straße fahrenden Beklagten zu 1) Vorfahrt hatte. Die ...straße ist vor der Einmündung - auch des Radweges - durch Zeichen 205 „Vorfahrt gewähren!“ gekennzeichnet. Aus der Sicht des einmündenden Verkehrs links ist der W1 gekennzeichnet durch Zeichen 301 "Vorfahrt“. Aus derselben Sicht rechts ist kein Verkehrszeichen aufgestellt, und es brauchte dort auch zur Vorfahrtregelung keines aufgestellt werden, denn für den von der Gegenrichtung her ankommenden Verkehr mündete die ...straße von links ein. Damit - so ergibt es sich tatbestandlich aus der den Ermittlungsakten beigefügten Verkehrsunfallskizze - war die Vorfahrtregelung eindeutig.

c) Der verletzte Radfahrer war aber deshalb - i.S. eines Mitverschuldens - für das Unfallgeschehen mitverantwortlich, weil er den Radweg verbotswidrig in Fahrtrichtung links benutzte. Radfahrer dürfen nämlich im Grundsatz nur rechte Radwege befahren, links verlaufende Radwege nur bei besonderer Kennzeichnung, wie sie hier nicht angebracht war (§ 2 Abs. 4 Sätze 2, 3 StVO). Die verbotswidrige Benutzung des links verlaufenden Radweges berührte zwar das Vorfahrtsrecht des Radfahrers als solches nicht; denn jedes Vorfahrtsrecht erstreckt sich über die gesamte Straßenbreite, und damit auch auf einen der Straße zugeordneten Weg. Die Missachtung des Rechtsfahrgebotes begründete aber eine erhöhte Unfallgefahr, da weniger umsichtige Kraftfahrer erfahrungsgemäß hauptsächlich nach links zu schauen pflegen, bevor sie in eine Einmündung einfahren. Das OLG Düsseldorf (NZV 2000, 506; vgl. auch BGH NJW 1986, 2651; OLG Hamm 9 U 12/98) hat dies mit den Worten umschrieben, dass Kraftfahrer in solchen Fällen oft „in die falsche Richtung schauen“.

In der Abwägung der beiderseitigen Verantwortlichkeit bemisst das Berufungsgericht die Verantwortlichkeit des Kraftfahrers gegenüber der des Radfahrers mit dem doppelten Gewicht. Zu Lasten des Radfahrers ist der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot zu „veranschlagen“. Zu Lasten des Kraftfahrers fällt die Vorfahrtverletzung ins Gewicht, darüberhinaus die Tatsache, dass der Beklagte zu 1) zunächst am Verkehrszeichen „Vorfahrt gewähren!“ angehalten und dadurch den herannahenden Radfahrer gleichsam in Sicherheit gewiegt hatte.

d) Unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 1/3 berechnet sich der Anspruch auf Ersatz materiellen Schadens wie folgt:

Beim Erblasser verbliebene Behandlungskosten 6.795,59 DM, davon von Seiten der Beklagten zu 2) gezahlt: 5.096,69 DM; es verbleiben 1.698,90 DM, entsprechend 868,63 €, einschließlich 2/3 einer Unkostenpauschale von (zunächst 25,00 €) 16,66 €. ergibt sich die Summe von 885,30 €.

e) Zum Anspruch auf Ersatz immateriellen Schadens ist festzuhalten, dass in der Bemessung des Schmerzensgeldes ein Mitverschulden des Verletzten mit einer Quote von 1/3 zu berücksichtigen ist.