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OLG Stuttgart Beschluss vom 10.10.2013 - 4a Ss 428/13 - Zustellung des Bußgeldbescheides und Entbindung vom persönlichen Erscheinen

OLG Stuttgart v. 10.10.2013: Zustellung des Bußgeldbescheides und Entbindung vom persönlichen Erscheinen


Das OLG Stuttgart (Beschluss vom 10.10.2013 - 4a Ss 428/13) hat entschieden:
  1. Die Bezeichnung "Abschrift" auf einem im EDV-Verfahren erstellten Bußgeldbescheid hindert die Wirksamkeit der Zustellung nicht.

  2. Der Antrag des Betroffenen, ihn nach Einräumung der Fahrereigenschaft gem. § 73 Abs. 2 OWiG von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, kann nicht wegen der rein theoretischen Möglichkeit eines falschen Geständnisses abgelehnt werden.

Siehe auch Zustellung des Bußgeldbescheides und Verjährungsunterbrechung und Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen


Gründe:

I.

Mit Bußgeldbescheid der Stadt ... vom .... wurde gegen den Betroffenen wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften eine Geldbuße von 160 € festgesetzt. Außerdem wurde ein einmonatiges Fahrverbot mit Schonfrist verhängt. Auf den Einspruch des Betroffenen bestimmte das Amtsgericht Kirchheim unter Teck zunächst einen Termin zur Hauptverhandlung auf den ... Der Antrag des Betroffenen vom 18. März 2013, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wurde mit Beschluss vom 23. März 2013 abgelehnt. Zugleich verlegte das Amtsgericht aufgrund der Verhinderung eines Zeugen den Hauptverhandlungstermin auf den .... Mit Schriftsatz vom 19. April 2013, eingegangen am selben Tag beim Amtsgericht Kirchheim unter Teck, beantragte der Betroffene erneut, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden. Dieser Antrag wurde im Hauptverhandlungstermin am ..., zu dem nur eine Verteidigerin in Untervollmacht, nicht jedoch der Betroffene erschienen war, abgelehnt. Durch Urteil vom selben Tag wurde der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Stadt ... vom ... gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.

Mit Schriftsatz vom 6. Mai 2013, eingegangen am selben Tag beim Amtsgericht Kirchheim unter Teck, beantragte der Betroffene, ihm gegen die Versäumung des Hauptverhandlungstermins Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zugleich legte er Rechtsbeschwerde gegen das Urteil vom ... ein.

Der Antrag des Betroffenen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde vom Amtsgericht mit Beschluss vom 9. Mai 2013 als unbegründet verworfen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Landgericht ... mit Beschluss vom 13. Juni 2013 als unbegründet. Der Betroffene rügt im Rahmen der Rechtsbeschwerde die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt wie beschlossen.


II.

Das zulässige Rechtsmittel des Betroffenen hat (vorläufigen) Erfolg.

1. Ein Verfahrenshindernis liegt nicht vor. Insbesondere ist die Tat bislang nicht verjährt.

Bei Verkehrsordnungswidrigkeiten beträgt die Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 StVG drei Monate, ab Erlass des Bußgeldbescheids sechs Monate. Die dem Betroffenen zur Last gelegte Tat wurde am 17. April 2012 begangen. Spätestens am 28. Juni 2012 erfolgte die erste Unterbrechung der Verjährung durch die Bekanntgabe, dass gegen den Betroffenen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 11. Juli 2012 wurde die Verjährung gem. § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG erneut unterbrochen. Zwar scheiterte die beabsichtigte Zustellung des Bußgeldbescheids an den Verteidiger des Betroffenen, jedoch wurde dieser Mangel innerhalb von zwei Wochen ab Erlass des Bußgeldbescheids geheilt.

Für das Verfahren bei Zustellungen der Bußgeldbehörde gelten gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG die Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes für Baden-​Württemberg (LVwZG). Nach § 9 LVwZG gilt ein Dokument - sofern eine formgerechte Zustellung nicht erfolgt ist - spätestens ab dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist.

Im vorliegenden Fall wurde dem Betroffenen von der Stadt ... eine Abschrift des Bußgeldbescheids formlos übersandt. Diese leitete er am 20. Juli 2012 an seinen Verteidiger weiter, der sodann mit Schriftsatz vom 23. Juli 2012, eingegangen bei der Stadt ... am selben Tag, Einspruch einlegte.

Eine Heilung des Zustellungsmangels ist durch den bloßen Zugang des Bußgeldbescheids beim Betroffenen nicht eingetreten, da die Anwendung von § 9 LVwZG einen Zustellungswillen der Bußgeldbehörde voraussetzt (BGH NJW 2003, 1192; OLG Celle VRS 122, 137; aA OLG Saarbrücken ZfSch 2009, 469). Dieser war im vorliegenden Fall auf eine Zustellung an den Verteidiger, nicht aber an den Betroffenen gerichtet. Eine Heilung des Zustellungsmangels ist jedoch dadurch erfolgt, dass der Betroffene den Bußgeldbescheid an den Verteidiger weiterleitete, dem er spätestens am 23. Juli 2012, mithin innerhalb von zwei Wochen ab Erlass des Bußgeldbescheids, tatsächlich zuging. Unerheblich ist dabei, dass dieser Bußgeldbescheid nicht an den Verteidiger, sondern an den Betroffenen adressiert war. Entscheidend ist insoweit die inhaltliche Übereinstimmung (BVerwGE 104, 301 Rn. 28; OVG Münster NJW 1976, 643; Engelhardt / App VwZG, 9. Aufl., § 2 Rn. 5).

Auch der Umstand, dass das vom Betroffenen an den Verteidiger übermittelte Exemplar des Bußgeldbescheids nicht als „Ausfertigung“, sondern als „Abschrift“ bezeichnet ist, hindert die Heilung des Zustellungsmangels nicht. Grundsätzlich erfolgt die Zustellung nach § 2 Abs. 1 LVwZG durch Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Dokuments in der im LVwZG bestimmten Form. Das Gesetz verwendet den Begriff des Dokuments als Oberbegriff für Schriftstücke und elektronische Dokumente (BT-​Drucks. 15/5216 zum gleichlautenden VwZG des Bundes, S. 11). Schriftstücke können entweder als Urschrift, Ausfertigung oder beglaubigte Ablichtung zugestellt werden. Bei Bescheiden der Verwaltungsbehörde (§ 50 Abs. 1 Satz 2 OWiG) wird eine Ausfertigung zugestellt, da die Urschrift in den Behördenakten zu verbleiben hat. Unter Ausfertigungen sind Abschriften, Durchdrucke oder Ablichtungen zu verstehen, die im Rechtsverkehr die Urschrift ersetzen sollen und deshalb von der Behörde in besonderer Form ausgestellt werden. Die Ausfertigungen müssen die Urschrift wortgetreu und vollständig wiedergeben. Diese Übereinstimmung wird durch die Unterschrift eines hierzu ermächtigten Bediensteten der Verwaltungsbehörde und das Dienstsiegel bezeugt. Die Zustellung einer nicht mit einem Ausfertigungsvermerk versehenen Kopie genügt daher nicht (BT-​Drucks. 15/5216 S. 11). Fehler des Ausfertigungsvermerks führen ebenso wie eine fehlende Übereinstimmung mit der Urschrift zur Unwirksamkeit der Zustellung (zum Vorstehenden Rebmann/Roth/Herrmann Gesetz über Ordnungswidrigkeiten § 51 Rn. 3; Lampe in Karlsruher Kommentar OWiG 3. Aufl. § 51 Rn. 16 ff.).

Im vorliegenden Fall wurde der Bußgeldbescheid der Stadt ... vom 11. Juli 2012 jedoch im EDV-​Verfahren erstellt. Ein solcher Bescheid ist wirksam, ohne dass er des Abdrucks eines Dienstsiegels oder der Unterschrift des Bediensteten der Verwaltungsbehörde bedarf (BT-​Drucks. 10/5083; OLG Stuttgart DAR 1998, 29). Eine bloße Kopie wäre daher vom maschinell erstellten „Original“ nicht zu unterscheiden. Da die gem. § 51 Abs. 1 Satz 2 OWiG zuzustellende Version des Bußgeldbescheids somit keine besondere Form mehr aufweist, die die Übereinstimmung mit dem bei den Akten befindlichen, ebenfalls maschinell erzeugten Exemplar bezeugt, ist eine dennoch auf dem Bußgeldbescheid angebrachte Bezeichnung als „Ausfertigung“ oder „Abschrift“ ohne Belang (so im Ergebnis auch Lampe aaO, der die Bezeichnung eines als Computerausdruck zugestellten Bußgeldbescheids als „Ausfertigung“ - ohne nähere Begründung - für falsch hält).

Die Verjährungsfrist betrug daher ab dem Erlass des Bußgeldbescheids am 11. Juli 2012 gemäß § 26 Abs. 3 StVG sechs Monate. Weitere Unterbrechungen der Verjährung folgten durch den Eingang der Akten beim Amtsgericht gem. 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG am 29. November 2012 (§ 33 Abs. 1 Nr. 10 OWiG) sowie die Anberaumung von Hauptverhandlungen am 15. Januar 2013 und am 23. März 2013 (§ 33 Abs. 1 Nr. 11 OWiG).

2. Auf die zulässig ausgeführte Verfahrensrüge, der Einspruch sei trotz eines gerechtfertigten Antrags des Betroffenen, ihn von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, verworfen worden (Verletzung der Verfahrensvorschriften in § 74 Abs. 2 i.V.m. § 73 Abs. 2 OWiG), ist das Urteil aufzuheben. Die erhobene Sachrüge bedarf daher keiner Entscheidung.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 15. August 2013 dazu Folgendes ausgeführt:
Die zulässig erhobene Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs greift durch. Das in Abwesenheit des Betroffenen am ... verkündete Urteil des Amtsgerichts Kirchheim u. T. wurde mit Datum vom 06.05.2013 innerhalb der Wochenfristen mit der Rechtsbeschwerde und einem Wiedereinsetzungsantrag angegriffen. Der Wiedereinsetzungsantrag wurde durch Beschluss vom 09.05.2013, zugestellt am 30.05.2013, als unbegründet verworfen. Dagegen legte der Betroffene innerhalb der Wochenfrist am 05.06.2013 sofortige Beschwerde ein, die durch Beschluss vom 13.06.2013 verworfen wurde. Die Rechtsbeschwerdebegründung ging am 27.06.2013 (GA Bl. 93 ff) und damit rechtzeitig bei Gericht ein. Denn die weitere Verfügung über den (Zulassungs-​) Antrag bleibt bei gleichzeitigem Antrag auf Wiedereinsetzung ausgesetzt, bis dieser Antrag erledigt ist (Göhler, OWiG, 16. Auflage, § 74 Rn. 49). Der Wiedereinsetzungsantrag war am 13.06.2013 mit der Verwerfung durch das Landgericht erledigt. Die Rechtsbeschwerdebegründung ging am 27.6.2013, mithin in der Monatsfrist ein.

Bei der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs handelt es sich um eine Verfahrensrüge, die den entsprechend strengen Anforderungen unterliegt. Diesen strengen Anforderungen wird die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs in diesem Fall gerecht. Bei der Verfahrensrüge muss unter Darlegung bestimmter Tatsachen, die im Einzelnen auszuführen sind (unzureichend ist die Bezugnahme auf die Akten oder einzelne Schriftstücke), näher ausgeführt werden, weshalb das Amtsgericht das Ausbleiben nicht habe als unentschuldigt ansehen dürfen. Insbesondere bei der Rüge, das Gericht habe zu Unrecht den Entbindungsantrag des Betroffenen abgelehnt, bedarf es der genauen Darlegung der Einzelumstände, so z. B. aus welchen Gründen von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung kein Beitrag zur Sachaufklärung zu erwarten war oder dass der Vertreter, der den Entbindungsantrag gestellt hatte, auch insoweit Vertretungsvollmacht hatte (Vollmacht, GA Bl. 45). So muss konkret dargelegt werden, dass die Voraussetzungen einer Entbindung vorlagen (a. a. O., Rn. 48 b).

Der Betroffene legt in der Rechtsbeschwerdebegründungsschrift den Inhalt des Bußgeldbescheides, den ersten Antrag auf Entbindung vom Erscheinen in der Hauptverhandlung sowie dessen Ablehnung und die entsprechende Vertretungsvollmacht dar. Sonach wird die Verlegung, der erneute Entbindungsantrag und die zeitliche Komponente, dass der Antrag zwar rechtzeitig gestellt, jedoch (urlaubsbedingt) nicht vor dem Hauptverhandlungstermin beschieden sowie in der Hauptverhandlung erneut gestellt und abschlägig beschieden wurde, dargelegt. Demnach lagen die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG zur Entbindung des Betroffenen vom Erscheinen in der Hauptverhandlung vor. Der Betroffene hat über seinen entsprechend bevollmächtigten Verteidiger seine Fahrereigenschaft eingeräumt und angekündigt, im Übrigen keine Angaben machen zu wollen (a. a. O., § 73 Rn. 4). Dies gilt generell - wie hier - auch für Anträge, die durch einen Unterbevollmächtigten bzw. im Hauptverhandlungstermin gestellt werden (a. a. O.). Die Anwesenheit des Betroffenen war auch nicht zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts erforderlich. Unter dem Aspekt des Zwiespalts zwischen Aufklärungspflicht und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit war im Hinblick auf das Eingeständnis der Fahrereigenschaft die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung zur Sachaufklärung nicht erforderlich. Denn reine Spekulationen - wie z. B. „falsche Geständnisse“ - genügen insoweit nicht. Dass das Gericht in der Vergangenheit mit „falschen Geständnissen“ konfrontiert worden sein soll, rechtfertigt nicht, diese in jedem Fall der Einräumung der Fahreigenschaft als Standardüberlegung zugrundezulegen. Auch liegt ein Passfoto zum Vergleich vor. Dass die Kopfhaltung mit der auf dem „Fahrerfoto“ nicht identisch ist, hindert die Identifizierung nicht. Dies ist vielmehr im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen (a. a. O., Rn. 16). Da die Entscheidung des Gerichts über den Entbindungsantrag (bei - wie hier - Vorliegen der Voraussetzungen) nicht im Ermessen des Gerichts steht (a. a. O., Rn. 5), wäre der Betroffene vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden gewesen. Die Verwerfung des Einspruchs des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid hat somit den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt.
Diesen Ausführungen schließt sich der Senat an. Die Auffassung des Amtsgerichts, trotz der geständigen Verteidigererklärung müsse durch den Vergleich des Beweisfotos mit dem Aussehen des Betroffenen überprüft werden, ob dessen vom Verteidiger berichtetes Geständnis zutreffend sei, überspannt die Anforderungen an die Amtsaufklärungspflicht in § 244 Abs. 2 StPO und die gerichtliche Überzeugungsbildung in § 261 StPO, zumindest soweit - wie im vorliegenden Fall - konkrete Anhaltspunkte für ein falsches Geständnis fehlen. Die Amtsaufklärungspflicht gebietet lediglich, sich aufdrängende Beweismittel zu dem Zweck, die richterliche Überzeugung vom Vorliegen entscheidungserheblicher Tatsachen herzustellen, zu nutzen. Hingegen muss die richterliche Überzeugung theoretischen Zweifeln, für die es keinerlei konkrete Anhaltspunkte gibt, unangefochten standhalten. Eine solche lediglich theoretische Möglichkeit ist hier gegeben, soweit trotz der geständigen Verteidigererklärung die Fahrereigenschaft des Betroffenen in Zweifel gezogen wird. Dabei kommt es auch nicht darauf an, dass die Verteidigererklärung nicht vom Betroffenen selbst, sondern vom Verteidiger als zwischengeschalteter Person unterzeichnet ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Mai 2011- 2 Ss 280/11 -).

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen erweist sich somit gemäß §§ 74 Abs. 2, 73 Abs. 2, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 337, 353 Abs. 1 StPO begründet. Sie führt nach § 79 Abs. 6, 2. Alt. OWiG zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht. Dieses entscheidet auch über die Kosten des gesamten Verfahrens (Meyer-​Goßner, StPO, 56. Aufl., § 473 Rn. 7).