Das Verkehrslexikon

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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 03.06.1975 - 2 BvR 457/74 - Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist bei Irrtum des Betroffenen

BVerfG v. 03.06.1975: Zur Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist bei Irrtum des Betroffenen hinsichtlich einer Teileinstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft


Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 03.06.1975 - 2 BvR 457/74) hat entschieden:
Hält der Betroffene irrtümlich bei einer Teileinstellung eines verkehrsrechtllichen Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft für eine Beendigung des gesamten Verfahrens und versäumt er daraufhin die Einspruchsfrist gegen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde, so gebietet es der Anspruch auf rechtliches Gehör, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn die Verwaltungsbehörde ihm auf seine Gegenvorstellungen hin noch eine schriftliche Stellungnahme zugesagt hat.


Siehe auch Rechtliches Gehör und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand


Gründe:

A.

I.

1. Die Beschwerdeführerin hatte als Fahrerin eines PKW einen Zusammenstoß mit einem Radfahrer, der dabei leicht verletzt wurde. Die Staatsanwaltschaft leitete gegen beide Unfallbeteiligten getrennte Ermittlungsverfahren ein. Das Verfahren gegen den Radfahrer wurde mangels Verdachts einer Straftat und im übrigen gemäß § 47 OWiG eingestellt. Im Verfahren gegen die Beschwerdeführerin verneinte die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung wegen fahrlässiger Körperverletzung, stellte insoweit ein und gab die Sache zur Verfolgung wegen Ordnungswidrigkeit an das Ordnungsamt der Stadt K. ab. Hiervon wurde der Beschwerdeführerin unter dem 31. Juli 1973 Nachricht gegeben. Infolge eines Kanzleiversehens wurde ihr aber unter dem gleichen Datum und mit ihrem Namen versehen auch die für den Radfahrer bestimmte Einstellungsnachricht zugesandt. Diese lautete: "Das Verfahren gegen Sie wegen Verletzung der Straßenverkehrsvorschriften ist eingestellt".

2. Während die Beschwerdeführerin daraufhin das Verfahren in vollem Umfang eingestellt glaubte, erließ das Ordnungsamt der Stadt K. am 24. September 1973 gegen sie einen Bußgeldbescheid über 65 DM Geldbuße wegen Vorfahrtsverletzung. Der Bußgeldbescheid wurde durch Übergabe an ihre Mutter zugestellt, da sie selbst sich einige Tage auswärts zu Besuch bei einer Freundin befand. Bei einem Telefongespräch mit der Mutter erfuhr sie von der Zustellung, ließ sich den Bescheid vorlesen und bat ihre Mutter, beim Ordnungsamt unter Vorlage der beiden Einstellungsnachrichten der Staatsanwaltschaft prüfen zu lassen, ob der Verfahrensfortgang rechtens sei. Die Mutter suchte das Ordnungsamt auf und legte dem zuständigen Sachbearbeiter die Einstellungsnachrichten vor. Da der Versuch, den Fall durch fernmündliche Rückfrage bei der Staatsanwaltschaft sofort aufzuklären, ohne Erfolg blieb, erklärte der Sachbearbeiter, die Beschwerdeführerin werde von ihm schriftlich Bescheid erhalten; sie solle bis auf weiteres die Geldbuße nicht bezahlen.

Mit Schreiben vom 16. Oktober 1973 teilte die Staatsanwaltschaft der Beschwerdeführerin mit, eine der beiden Einstellungsnachrichten habe auf einem Kanzleiversehen beruht. Das gegen sie gerichtete Ermittlungsverfahren sei in Wirklichkeit an das Ordnungsamt abgegeben worden. Die Beschwerdeführerin unternahm nach Zugang dieses Schreibens am 25. Oktober 1973 nichts, sondern wartete auf den angekündigten Bescheid des Ordnungsamts. Sie erhielt ihn am 24. November 1973 in Gestalt einer Zahlungsaufforderung, in der auf das Schreiben der Staatsanwaltschaft Bezug genommen wurde.

3. Nunmehr legte sie binnen einer Woche Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist.

Durch Beschluss vom 8. März 1974 verwarf das Amtsgericht Kiel das Wiedereinsetzungsgesuch als unzulässig, weil es nicht binnen einer Woche seit dem 25. Oktober 1973 gestellt worden sei. Die Beschwerdeführerin habe schon aus der Mitteilung der Staatsanwaltschaft, notfalls nach Befragen einer rechtskundigen Person, erkennen müssen, dass das Ordnungsamt am Erlass des Bußgeldbescheids nicht gehindert gewesen sei.

Das Landgericht Kiel verwarf die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde am 9. April 1974 als unbegründet.

II.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Art 103 Abs 1 GG. Die Anforderungen an ihre Sorgfaltspflicht zur Erlangung des rechtlichen Gehörs im summarischen Bußgeldverfahren würden überspannt, indem ihr angelastet werde, nicht schon aus dem - keine weitere Belehrung enthaltenen - Schreiben der Staatsanwaltschaft erkannt zu haben, dass dem Erlass des Bußgeldbescheids kein Hindernis entgegenstand, dieser also wirksam war. Nach dem Vertrauensgrundsatz habe sie den Eingang der ihr vom Ordnungsamt zugesagten Nachricht abwarten dürfen.

III.

Der Justizminister des Landes Schleswig-Holstein, dem Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, hat von einer Stellungnahme abgesehen.


B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Im Bußgeldverfahren kann der von einem Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde Betroffene sein in Art 19 Abs 4 GG gewährleistetes Recht, gegen diesen ihn belastenden Akt der öffentlichen Gewalt ein Gericht anzurufen, nur durch den befristeten Einspruch wahrnehmen. Versäumt er unverschuldet die Einspruchsfrist, so hängt die Verwirklichung der Rechtsweggarantie davon ab, dass ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Fristversäumung gewährt wird. Zugleich eröffnet ihm nur die Wiedereinsetzung die Möglichkeit, das durch Art 103 Abs 1 GG verbürgte rechtliche Gehör in der Sache selbst zu erlangen. In diesem Fall des "ersten Zugangs" zu Gericht dient also die Wiedereinsetzung unmittelbar der Wahrung verfassungsrechtlicher Rechtsschutzgarantien. Daher verbietet sich bei der Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden prozessrechtlichen Vorschriften eine Überspannung der Anforderungen daran, welche Vorkehrungen der Betroffene gegen eine etwa drohende Fristversäumung getroffen und was er nach dennoch eingetretener Versäumung getan haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen. Das ist für das Bußgeldverfahren - wie auch für die summarischen Verfahren bei Strafbefehl und ehemaliger Strafverfügung - ein in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefestigter Grundsatz (BVerfGE 25, 158 (166); 26, 315 (318); 31, 388 (390); 34, 154 (156); 35, 296 (298); 37, 93 (96); 37, 100 (102); 38, 35 (38)). Er hat nicht nur für die Beurteilung zu gelten, ob ein Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründet ist, sondern schon für die Prüfung der Zulässigkeit (BVerfGE 26, 315 (319); 38, 35 (39)).

Nach § 52 OWiG in Verbindung mit § 45 Abs 1 StPO (in der hier maßgeblichen bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung) muss ein Wiedereinsetzungsgesuch binnen einer Woche nach Beseitigung des der Fristeinhaltung entgegenstehenden Hindernisses angebracht werden. Die Überschreitung der Wochenfrist macht das Gesuch unzulässig. Wenn der verfassungsrechtliche Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu Gericht und auf rechtliches Gehör in der Sache nicht verkürzt werden soll, ist der genannte Grundsatz demnach auch bei der Auslegung des Begriffes "Beseitigung des Hindernisses" zu beachten. Dem werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht.

2. Hier bestand das Hindernis in der durch die versehentliche Einstellungsnachricht der Staatsanwaltschaft ausgelösten, durch die Erkundigung beim Ordnungsamt nicht beseitigten, sondern eher vertieften Unkenntnis der Beschwerdeführerin, ob der gegen sie erlassene Bußgeldbescheid überhaupt wirksam sein könne. Der Sachbearbeiter bei der Verwaltungsbehörde hatte selbst nicht sofort behebbare Zweifel und gab der Beschwerdeführerin eine Erklärung, der sie nur entnehmen konnte, sie dürfe unbesorgt warten, bis sie vom Ordnungsamt eine schriftliche Nachricht erhalte. Eben dies hat sie getan. Ihr begründetes Vertrauen, keine weiteren Schritte unternehmen zu müssen, bevor ihr die Nachricht der für den Bußgeldbescheid allein zuständigen Verwaltungsbehörde zuging, konnte durch das Schreiben der Staatsanwaltschaft um so weniger ausgeräumt werden, als darin nur der Irrtum bei der Einstellungsnachricht und die Abgabe des Verfahrens an das Ordnungsamt mitgeteilt wurden; dagegen musste naturgemäß offenbleiben, wie das Ordnungsamt nunmehr die Wirksamkeit des Bußgeldbescheids beurteile. Da der Beschwerdeführerin insoweit eine schriftliche Nachricht der dafür zuständigen Stelle zugesagt worden war, musste sie das Schreiben der Staatsanwaltschaft auch nicht zum Anlass weiterer Erkundigungen nehmen. Nur unter Überspannung der Anforderungen an ihre Sorgfaltspflicht könnte ihr angelastet werden, dass sie nicht schon aus jenem Schreiben die Notwendigkeit erkannt habe, nunmehr sofort Einspruch einzulegen und ein Wiedereinsetzungsgesuch anzubringen. Bei verfassungskonformer Gesetzesanwendung und Gesetzesauslegung ist demgegenüber davon auszugehen, dass die Frist des § 45 Abs 1 StPO erst durch den Zugang der Nachricht des Ordnungsamts in Lauf gesetzt wurde.

3. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf dem gerügten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte das Wiedereinsetzungsgesuch für zulässig erachtet hätten, wenn sie Bedeutung und Tragweite der Art 19 Abs 4, 103 Abs 1 GG hinreichend beachtet hätten. Da die Beschlüsse die genannten Verfassungsnormen verletzen, sind sie aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs 2 BVerfGG an das Gericht erster Instanz zurückzuverweisen.

4. Die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin sind zu erstatten. Die Erstattungspflicht trifft das Land Schleswig-Holstein, dem die erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist.

Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.