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KG Berlin Beschluss vom 04.07.2012 - 3 Ws (B) 359/12 - 122 Ss 92/12 - Wartepflicht des Gerichts bei angekündigter Verspätung des Betroffenen

KG Berlin v. 04.07.2012: Zur Wartepflicht des Gerichts bei angekündigter Verspätung des Betroffenen


Das Kammergericht KG Berlin (Beschluss vom 04.07.2012 - 3 Ws (B) 359/12 - 122 Ss 92/12) hat entschieden:
Die Verwerfung der Rechtsbeschwerde gemäß § 74 Abs. 2 OWiG beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Rechtsbeschwerde dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Betroffene - wie vorliegend - noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt. Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten. Diese über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht auch unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last.


Siehe auch Rechtsbeschwerde in Bußgeldsachen und Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen


Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 13. Mai 2011 gemäß § 74 Abs. 2 OWiG ohne Verhandlung zur Sache verworfen, weil er trotz ordnungsgemäßer Ladung zur Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen und von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden worden sei. Die gegen dieses Urteil gerichtete Rechtsbeschwerde, mit der er das Verfahren beanstandet, kann der vorläufige Erfolg nicht versagt werden.

Sie dringt mit der zulässig erhobenen Verfahrensrüge durch, das Amtsgericht Tiergarten habe die Voraussetzungen für die Verwerfung des Einspruchs gemäß § 74 Abs. 2 OWiG zu Unrecht angenommen.

Der Amtsrichter hat den Einspruch des Betroffenen am Ende der normalen Wartezeit um 9.45 Uhr verworfen, obwohl ihm um 9.30 Uhr, dem Beginn der Hauptverhandlung, mitgeteilt worden war, dass sich der Betroffene mit seinem Verteidiger um fünfzehn Minuten verspäten werde. Die Rechtsbeschwerde teilt hierzu mit, dass der Betroffene unmittelbar nach der Verwerfungsentscheidung im Saal erschienen sei. Das wird durch die Sitzungsniederschrift bestätigt, in der das Erscheinen des Betroffenen mit seinem Verteidiger um 9.50 Uhr und damit lediglich fünf Minuten nach dem Verstreichen der normalen Wartefrist vermerkt ist.

Die Amtsgericht hat bei seiner Entscheidung verkannt, dass es die aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens abzuleitende Fürsorgepflicht geboten hätte, vor Verwerfung der Rechtsbeschwerde gemäß § 74 Abs. 2 OWiG einen längeren Zeitraum zuzuwarten.

Die Verwerfung der Rechtsbeschwerde gemäß § 74 Abs. 2 OWiG beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Rechtsbeschwerde dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Betroffene - wie vorliegend - noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten (vgl. VerfGH Berlin NJW-RR 2000, 1451) die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt. Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Januar 2012 – (3) 161 Ss 474/11 (2/12) – m. w. N.). Diese über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht auch unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (Senat, a.a.O.).

Umstände, die auf eine derartige Einstellung des Betroffenen schließen lassen, sind den Urteilsgründen jedoch ebenso wenig zu entnehmen wie die Feststellung, dass dem Gericht ein weiteres Zuwarten wegen anstehender weiterer Termine – auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter- nicht zumutbar gewesen ist. Denn nur unter den letztgenannten Voraussetzungen hätte dem Gebot der termingerechten Durchführung der Hauptverhandlung der Vorrang gebührt (vgl. Senat, a. a. O.).

Das Amtsgericht hätte dem Betroffenen aufgrund der ihm obliegenden Fürsorgepflicht die Möglichkeit einräumen müssen, durch sein verspätetes Erscheinen die Folgen einer Säumnis abzuwenden. Die Erwägung des Amtsrichters, den Polizeizeugen ein längeres Warten ersparen und ihnen eine Rückkehr zu ihren dienstlichen Tätigkeiten ermöglichen zu wollen, vermag die rasche Verwerfung nicht zu rechtfertigen.

Der Senat hebt daher das Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Tiergarten zurück.



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