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OLG Hamburg Urteil vom 05.06.2013 - 14 U 84/12 - Sturz eines überholten Leichtkradfahrers ohne Berührung

OLG Hamburg v. 05.06.2013: Zur Haftung bei einem Sturz eines überholten Leichtkradfahrers ohne Berührung


Das OLG Hamburg (Urteil vom 05.06.2013 - 14 U 84/12) hat entschieden:
Kommt ein Leichtkradfahrer in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Überholvorgang ohne Berührung mit dem überholenden Pkw zu Fall, ist bei Unaufklärbarkeit des näheren Unfallhergangs die Betriebsgefahr beider Kraftfahrzeuge mit gleicher Gewichtung in die Abwägung der Verursachungsbeiträge einzustellen, was zu einer hälftigen Schadensteilung führt.


Siehe auch Unfälle mit Kradbeteiligung - Motorradunfälle und Stichwörter zum Thema Überholen


Gründe:

I. Tatsächliche Feststellungen gem. § 540 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 ZPO

Der Kläger will festgestellt wissen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner aus Anlass seines Unfalls am 07.08.2009 auf dem R... H... ersatzpflichtig sind. Auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung wird Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil im Ergebnis ein Zurechnungszusammenhang zwischen dem Sturz und dem Überholmanöver nicht festgestellt werden könne. Auf die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung wird verwiesen.

Mit der form- und fristgerecht eingelegten Berufung begehrt der Kläger weiter Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten. Er macht geltend, die Beweiswürdigung des Landgerichts sei fehlerhaft.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landgerichts Hamburg abzuändern und festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner dazu verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche immateriellen und materiellen Schäden, soweit diese nicht auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger übergegangen sind, aus dem Verkehrsunfallereignis vom 07.08.2009, 10:00 Uhr, auf dem R... H... zu ersetzen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten das Urteil des Landgerichts für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze und Anlage verwiesen.


II. Begründung für die Entscheidung gem. § 540 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 ZPO

Die Entscheidung ergeht auf Grund des Senatsbeschlusses vom 26.02.2013 durch den Einzelrichter, § 526 Abs. 1 ZPO.

Die Berufung ist zulässig. Daran ändert insbesondere nichts, dass gem. der klägerischen Berufungsschrift vom 27.06.2012 im Passivrubrum zu Ziff. „M... S...“ und nicht „M... S...“ steht. Es handelt sich hier erkennbar um einen Schreibfehler, den die Beklagten ausweislich ihrer Berufungserwiderung auch als solchen erkannt und gewürdigt haben, indem sie ausgeführt haben, sie würden „die Beklagten auch in der 2. Instanz vertreten“. Es ergibt sich unzweifelhaft aus den Umständen, dass mit der Berufung der erstinstanzlich abgewiesene Feststellungsantrag gegen M... S... und die Beklagte zu 2) weiterverfolgt werden soll.

Die zulässige Berufung ist teilweise begründet.

Es bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der erhobenen Feststellungsklage, wenngleich davon auszugehen ist, dass eine Leistungsklage möglich wäre. Unstreitig wollen beide Parteien auf diesem Weg mit entsprechend geringerem Kostenrisiko eine gerichtliche Klärung der Haftung zum Grunde erreichen. Mithin kann davon ausgegangen werden, dass die Beklagte zu 2) ggf. bei einem für den Kläger ganz oder teilweise obsiegenden Urteil in die Regulierung des Schadenfalles einsteigen wird.

Dem Grunde sind die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet, dem Kläger den gesamten immateriellen und materiellen Schaden, soweit dieser nicht auf Dritte übergegangen ist, aus Anlass des Unfalls vom 07.08.2009 auf dem R..... H... zu einer Quote von 50% gem. §§ 7, 17 StVG zu ersetzen.

Der streitbefangene Unfall ereignete sich am 07.08.2009 auf dem R... H... beim Betrieb des vom Kläger gefahrenen Krads und dem von der Beklagten zu 1) bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw mit amtl. Kz. ... . Da ein Verschulden des Klägers und der Beklagten zu 2) am Unfall nicht festzustellen und eine nähere Aufklärung des Hergangs nicht möglich ist, bleibt es im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge bei der Berücksichtigung der Betriebsgefahr beider Kraftfahrzeuge. Diese stellt das Berufungsgericht mit gleicher Gewichtung in die Abwägung der Verursachungsbeiträge ein. Das führt zu einer Haftungsquote von 50%.

Zur Überzeugung des Berufungsgerichts ereignete sich der Unfall insbesondere beim Betrieb des von der Beklagten zu 1) gefahrenen Pkws, § 286 ZPO. Dabei wird keineswegs verkannt, dass dem Sturz des Klägers unstreitig eine Berührung beider Kraftfahrzeuge nicht vorausging und sich gem. Sachverständigengutachten Schal vom 18.01.2012 von „technischer Seite nicht nachweisen lässt, dass die Fahrweise von Frau S... und nicht beispielsweise eine Fahrfehler des Klägers den Unfall auslöste“.

Allein der Umstand, dass dem Sturz keine Berührung der Fahrzeuge vorausging, führt nicht zwingend zu einer Verneinung des Haftungsmerkmals gem. § 7 StVG „beim Betrieb“. Dieses Haftungsmerkmal ist nämlich entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Vorschrift weit auszulegen. Es umfasst alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe. Dabei genügt es, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat und das Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden ist (vgl. BGH MDR 2005, 1104 mwN). Danach kommt es für eine Zurechnung zur Betriebsgefahr maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht. Erforderlich ist, dass die Fahrweise oder der Betrieb dieses Fahrzeugs zu dem Entstehen des Unfalls beigetragen hat, und zwar unabhängig von einem Verschulden des Fahrers (BGH aaO.). Vor diesem Hintergrund kann beispielsweise ein Unfall infolge einer voreiligen - also objektiv nicht erforderlichen - Abwehr- oder Ausweichreaktion gegebenenfalls dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zugerechnet werden, welches diese Reaktion ausgelöst hat oder auch nur der infolge Unsicherheit erlittene Sturz einer überholten Mofafahrerin beim Überholen durch einen Sattelschlepper (BGH aaO. mwN.).

Danach ereignete sich der Sturz des Klägers „beim Betrieb“ des Pkws der Beklagten zu 1).

Maßgeblich ist zunächst, dass nach dem plausiblen, hier zugrunde gelegten und fachlich von den Parteien gar nicht angegriffenen Sachverständigengutachten Schal ein enger örtlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Sturz des Klägers und dem Überholmanöver des Klägers - insbesondere unter Berücksichtigung der Angaben der Beklagten zu 1) und der Unfallspuren - herzuleiten ist. Das hat das Landgericht in seinem Urteil vom 08.06.2012 (Seite 4 der Entscheidungsgründe) unangefochten festgestellt. Der Sachverständige hat unter Bezugnahme auf seine schriftlichen Ausführungen im Termin bei seiner Erläuterung des Gutachtens dabei klargestellt, dass er die Angaben der Beteiligten zum Unfallhergang, insbesondere die Angaben der Beklagten zu 1), zugrunde gelegt hat, die den objektiven Kriterien und Merkmalen entsprechen.

Dem entspricht auch, dass der Kläger - aus dem Koma erwacht - gegenüber seiner anwesenden Ehefrau äußerte, „sie habe ihn geschnitten, er habe sich erschreckt“. Dass diese Äußerung fiel, ergibt sich aus der glaubhaften Aussage der Zeugin F... Wenngleich die Zeugin die Ehefrau des Klägers ist, hat das Gericht keine Anhaltspunkte dafür, dass die Zeugin nicht wahrheitsgemäß ausgesagt hat. Ihre Angaben sind plausibel. Sie entsprechen in Bezug auf den geäußerten Schrecken sogar den Äußerungen des Klägers vor Ort unmittelbar nach dem Unfall. Zwischen den Beteiligten ist nämlich außer Streit, dass der Kläger gegenüber der Beklagten zu 1) auf die Frage, warum er gestürzt sei, äußerte, er habe sich erschreckt.

Daraus schließt das Berufungsgericht im Zusammenhang mit der Haftungsfrage, dass sich der Sturz in einem engen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Überholvorgang der Beklagten zu 1) ereignete, wobei der Kläger sich infolge des Überholmanövers erschreckte, darauf die Kontrolle über sein Krad verlor und schließlich stürzte.

Soweit man überhaupt in Anbetracht der Angaben der Beklagten zu 1) in der Berufungsverhandlung einen Sachverhalt annehmen wollte, aus dem etwas anderes zu folgern wäre, könnte das zugunsten der Beklagten nicht dazu führen, den Zurechnungszusammenhang zwischen dem Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten zu 1) und dem Sturz zu verneinen. Das Berufungsgericht hat Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Beklagten zu 1), soweit sie mit ihrer Schilderung tendenziell erkennbar im Ergebnis der Feststellung eines Zusammenhangs zwischen dem Überholmanöver und dem Sturz entgegen wirken wollte. Die Angaben zu ihrem „Rückschauverhalten“ vor dem Einscheren in die rechte Spur sind unplausibel und im Ergebnis nicht lebensnah. Die Beklagte zu 1) hat ausgesagt, bevor sie rechts eingeschert sei, habe sie sowohl in den Rückspiegel geschaut als auch in den Seitenspiegel und sich auch noch nach hinten über die Schulter umgesehen, um nach dem Kradfahrer zu sehen. Eine solche Schilderung hat die Beklagte zu 1) in diesem Verfahren zum ersten Mal gegeben. Sie entspricht nicht ihren Angaben vor dem Landgericht. Dort gab sie nur an, in den Rückspiegel gesehen zu haben. Die behauptete „Dreifachkontrolle“ nach hinten entspricht nicht der „entspannten“ Verkehrssituation, wie sie nach den eigenen Angaben der Beklagten zu 1) zur Unfallzeit vorlag. Danach war weit und breit kein anderes Auto in Sicht. Es gab keinen Gegenverkehr. Die Beklagte zu 1) hat keinen Umstand in Bezug auf die Verkehrssituation oder das Fahrverhalten des Klägers geschildert, der dazu Veranlassung gegeben hätte, die geschilderte „Dreifachkontrolle“ vorzunehmen. Sie hätte in Anbetracht der geschilderten Verkehrssituation den Kläger völlig entspannt großräumig überholen und sich darüber im Rückspiegel vergewissern können.

Soweit das Gutachten im Übrigen nicht ausgeschlossen hat, dass der Sturz letztendlich durch einen Fahrfehler des Klägers selbst herbeigeführt wurde, ist das eine rein theoretische Möglichkeit, für die der Sachverhalt keinerlei greifbare Anhaltspunkte liefert. Sie ist letztlich spekulativ. Das Berufungsgericht schließt nach den hier bekannten Umständen aus, dass dem Sturz allein ein Fahrfehler des Klägers vorherging, der mit dem Überholvorgang nichts zu tun hatte. Zum Unfallzeitpunkt war der Kläger bereits ein erfahrener Kradfahrer. Er war mit der Maschine vertraut. Er fuhr sie damals bereits rund 3 bis 4 Jahre nahezu täglich. Schon zuvor fuhr er Moped. Die Strecke, die ausweislich des Gutachtens eine unkomplizierte und einfache Streckenführung aufweist, war dem Kläger bekannt. Die Witterungsverhältnisse waren gut. Es herrschte Trockenheit. Die Fahrbahn war trocken und es war taghell. Nach den bekannten Umständen gibt es letztlich keine andere plausible Erklärung für den Sturz als jene, dass der Kläger infolge des Überholmanövers der Beklagten zu 1) die Gewalt über das Krad verlor und zu Sturz kam.

Vor diesem Hintergrund kommt eine andere Haftungsquote als 50:50 nicht in Betracht.

Eine höhere Haftung der Beklagten ist nicht gegeben, weil - unabhängig vom Zurechnungszusammenhang des Überholvorganges mit dem Sturz - jedenfalls ein Sorgfaltspflichtverstoß der Beklagten zu 1), der beispielsweise in einem zu kurzen Einscheren gem. § 5 Abs. 4 S. 4 StVO bestehen könnte, nicht feststeht. Hierfür könnten allein die Angaben des Klägers dienen, die aber zu ungenau sind, um sie einer entsprechenden Feststellung zugrunde zu legen. Auf der anderen Seite kommt aber auch eine geringere Haftung der Beklagten nicht in Betracht, weil ein Verschulden des Klägers ebenso wenig festgestellt werden kann. Die Angaben der Beklagten zu 1) sind - unabhängig von der Frage ihrer Glaubhaftigkeit - insoweit nicht ergiebig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 ZPO, die Entscheidung der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Ziff.10, 711, 713 ZPO.

Für die Zulassung der Revision besteht keine Veranlassung, § 543 Abs. 2 ZPO.