Das Verkehrslexikon

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BGH Beschluss vom 28.09.1990 - 2 StR 289/90 - Rechtzeitigkeit des Ablehnungsgesuchs

BGH v. 28.09.1990: Zur Rechtzeitigkeit des Ablehnungsgesuchs als Voraussetzung des Befangenheitsantrags


Der BGH (Beschluss vom 28.09.1990 - 2 StR 289/90) hat entschieden:
Ein Ablehnungsgesuch bezüglich einer in der am Vormittag stattfindenden Hauptverhandlung gefallenen Äußerung des Vorsitzenden ist rechtzeitig, wenn es nach Beratung mit dem Verteidiger in der Mittagspause nach Fortsetzung der Hauptverhandlung unmittelbar nach der Unterbrechung der Vernehmung eines Zeugen gestellt wird.


Siehe auch Befangenheitsantrag - Richterablehnung und Stichwörter zum Thema Verkehrsstraf- und OWi-Recht


Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und in Tateinheit mit Verabredung der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt und angeordnet, dass in Spanien erlittene Haft im Verhältnis 1 zu 2 angerechnet wird. Mit seiner Revision gegen dieses Urteil rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensbeschwerde Erfolg, auf die sonstigen Beanstandungen der Revision braucht nicht eingegangen zu werden.

Der Beschwerdeführer macht zutreffend geltend, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO gegeben ist.

I.

Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Am ersten Tag der Hauptverhandlung wurde die Sitzung, die um 8.35 Uhr begonnen hatte, nach Vernehmung des Angeklagten und mehrerer Zeugen um 12.40 Uhr zur Mittagspause unterbrochen. Der in Untersuchungshaft genommene Angeklagte wurde in seine Zelle in der JVA Mainz verbracht. Dort verfasste er handschriftlich ein Gesuch auf Ablehnung des Vorsitzenden der erkennenden Strafkammer wegen Besorgnis der Befangenheit, das er auf Vorgänge in der Verhandlung am Vormittag stützte. Unter anderem führte er aus:
"Richter H. hat wiederholt versucht, mich zu einem Geständnis zu bringen. Dabei hat er die Aussage vom Hauptangeklagten Be., der bei mir als Kronzeuge auftritt, ..., dazu benutzt, um die Aussichtslosigkeit meiner Situation vor Augen zu führen. Er verstieg sich dabei in einseitigen Übertreibungen dahingehend, dass in Singapur und Malaysia die Todesstrafe bzw. 40 Jahre Haft, in den USA noch mehr stehen."
Als der Angeklagte zur Fortsetzung der Hauptverhandlung erneut vorgeführt wurde, setzte er seinen Verteidiger von der Absicht, den Vorsitzenden abzulehnen, in Kenntnis und übergab ihm das schriftliche Ablehnungsgesuch. Die Hauptverhandlung wurde um 14.22 Uhr mit der Vernehmung des Zeugen Br. fortgesetzt. Während dieser Vernehmung legte der Verteidiger das Gesuch dem Gericht vor und lehnte den Vorsitzenden wegen Besorgnis der Befangenheit ab, nachdem die Vernehmung des Zeugen um 14.27 Uhr unterbrochen worden war.

Das Ablehnungsgesuch wurde durch Beschluss der erkennenden Strafkammer mit folgender Begründung als unzulässig verworfen:
"Der Antrag ist verspätet. Die vom Angeklagten gerügten Äußerungen des Vorsitzenden wurden bereits vor der Mittagspause gemacht. Der Antrag wurde nicht vor und auch nicht sofort nach der Mittagspause, sondern erst im Verlauf der Vernehmung des Zeugen Br. gestellt ...".


II.

Die Strafkammer hat das Ablehnungsgesuch zu Unrecht verworfen.

1. Es war nicht verspätet angebracht worden.

Zwar muss die Ablehnung eines Richters nach Beginn der Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse unverzüglich geltend gemacht werden (§ 25 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2 StPO), das heißt ohne schuldhaftes Zögern (BGHSt 21, 334, 339). Das bedeutet aber nicht, dass dem Angeklagten keine Überlegungsfrist einzuräumen wäre und dass er keinen Anspruch auf vorherige Beratung mit seinem Verteidiger hätte. Ihm ist vielmehr eine gewisse Zeit zum Überlegen und zum Abfassen seines Gesuchs zu bewilligen (vgl. BGH NStZ 1982, 291, 292) und es ist ihm ausreichend zu ermöglichen, die Berechtigung seiner Bedenken gegen die Unvoreingenommenheit des betreffenden Richters mit seinem Verteidiger zu erörtern (vgl. BGH NStZ 1984, 371). Im vorliegenden Fall hat der Angeklagte das Ablehnungsgesuch während der Mittagspause abgefasst und mit seinem Verteidiger Verbindung aufgenommen, sobald ihm das möglich war, nämlich bei seiner Vorführung zur Fortsetzung der Hauptverhandlung am Nachmittag. Der Verteidiger hat das Gesuch, nachdem er von seinem Inhalt Kenntnis genommen hatte, innerhalb der ersten fünf Minuten der Verhandlung vorgelegt und den Ablehnungsantrag bei der nächsten Gelegenheit gestellt, nämlich nach der Unterbrechung der Vernehmung des Zeugen Br. Unter diesen Umständen kann dem Angeklagten nicht der Vorwurf gemacht werden, er hätte die Antragstellung schuldhaft verzögert.

2. Das Ablehnungsgesuch war auch begründet.

Der Senat ist an der Prüfung der sachlichen Berechtigung des Ablehnungsgesuchs nicht dadurch gehindert, dass die Strafkammer zu dieser Frage keine Entscheidung getroffen hat, weil sie sich ihr nicht mehr gestellt hat. Er hat vielmehr nach Beschwerdegrundsätzen zu entscheiden, ob ein Ablehnungsgrund vorlag (BGH NStZ 1984, 230 m. w. N.). Diese Überprüfung führt zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte Anlass hatte, an der Unparteilichkeit des Vorsitzenden zu zweifeln.

Der vom Beschwerdeführer beanstandete Hinweis auf die in anderen Ländern für Betäubungsmitteldelikte angedrohten Strafen ist erfolgt. Dies ergibt sich schon aus den Gründen des das Befangenheitsgesuch verwerfenden Gerichtsbeschlusses ("Die ... Äußerungen des Vorsitzenden wurden bereits vor der Mittagspause gemacht") und ist auch den vom Senat eingeholten dienstlichen Äußerungen des abgelehnten Richters, des beisitzenden Richters am Landgericht E. und des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft zu entnehmen, die weiterhin erkennen lassen, dass sich der Hinweis auf die dem Angeklagten angelastete Straftat bezogen hat. Nicht mehr aufzuklären war, in welchem Zusammenhang der abgelehnte Richter die Strafdrohungen in ausländischen Rechtsordnungen erwähnt hat. Selbst wenn der Vorsitzende, wie er angegeben hat, dem Angeklagten verdeutlichen wollte, "welchen Stellenwert andere Länder der Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität beimessen", ist es verständlich, wenn dieser Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters bekam.

Die Frage der Begründetheit des Ablehnungsantrags ist vom Standpunkt des Ablehnenden aus zu beurteilen; ob der Richter tatsächlich befangen ist, spielt keine Rolle (BGHSt 24, 336, 338). Hier konnte auch ein vernünftig denkender Angeklagter nach dem Hinweis auf die erwähnten Strafdrohungen in anderen Ländern, insbesondere auf die - in der Bundesrepublik Deutschland durch die Verfassung abgeschaffte - Todesstrafe die Besorgnis hegen, die Strafmaßerwägungen des Richters seien von jenen schärferen Bewertungen der Betäubungsmitteldelikte beeinflusst, und dies werde sich bei der Strafbemessung zum Nachteil des Angeklagten auswirken.