Das Verkehrslexikon

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OLG Koblenz Beschluss vom 12.08.2013 - 12 U 806/11 - Sorgfaltsanforderungen beim Vorbeifahren an einem in einer Haltebucht stehenden Schulbus

OLG Koblenz v. 12.08.2013: Zu den Sorgfaltsanforderungen an einen Kraftfahrer beim Vorbeifahren an einem mit eingeschalteter Warnblinkanlage in einer Haltebucht stehenden Schulbus


Das OLG Koblenz (Beschluss vom 12.08.2013 - 12 U 806/11) hat entschieden:
In den Schutzbereich des § 20 Abs. 4 StVO fallen alle Fahrgäste, gleich aus welcher Richtung sie über die Straße zum Bus laufen. Damit ist ein Kraftfahrer verpflichtet, bei Annäherung an einen mit eingeschalteter Warnblinkanlage in einer Haltebucht stehenden Schulbus auch die Gegenfahrbahn zu beobachten, um rechtzeitig auf einen querenden Fußgänger reagieren zu können. § 20 Abs. 4 StVO erfordert ein Herabsetzen der Geschwindigkeit auf 4 - 7 km/h bereits beim Vorbeifahren an einem mit Warnblinkleuchten ausgestatteten Bus, nicht erst, wenn ein Fußgänger sichtbar wird. Ein Kfz-Fahrer muss in der Situation, dass ein Bus mit eingeschalteter Warnblinkleuchte an einer Haltebucht steht, mit Personen rechnen, die den Bus noch erreichen wollen und deshalb den direkten Weg über die Straße wählen. Er kann nicht darauf vertrauen, dass die Fahrgäste eine Fußgängerfurt benutzen werden.


Siehe auch Haltestellen im öffentlichen Nahverkehr und im Schulbusverkehr und Unfälle mit Schul- und Linienbussen


Gründe:

Die Klägerin macht aus übergegangenem Recht gegen die Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 17.02.2010 in ...[X] geltend. Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen.

Die Klägerin hat in erster Instanz beantragt,
  1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 6.864,68 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 5.09.2010 zu zahlen;

  2. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihr 75 % ihrer Aufwendungen für den Schüler ...[A], geboren ...1997, wegen dessen Verletzungen aufgrund des Verkehrsunfalls vom 17.02.2010 zu erstatten;

  3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, sie von einem Honoraranspruch ihres Prozessbevollmächtigten wegen vorgerichtlicher Tätigkeit in Höhe von 603,93 € freizustellen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Landgericht hat die Beklagten gesamtschuldnerisch verurteilt, an die Klägerin 6.566,83 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 5.09.2010 zu zahlen sowie die Klägerin von einem Honoraranspruch ihres Prozessbevollmächtigten wegen vorgerichtlicher Tätigkeit in Höhe von 603,93 € freizustellen. Außerdem hat es festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin 75 % ihrer Aufwendungen für den Schüler ...[A] wegen dessen Verletzungen aufgrund des Verkehrsunfalls vom 17.02.2010 zu erstatten. Im Übrigen hat das Landgericht die Klage abgewiesen.

Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie beantragen, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Trier vom 9.06.2011 die Klage abzuweisen. Äußerst hilfsweise beantragen sie, die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 15.08.2012 (Bl. 178 ff. GA) ein schriftliches Sachverständigengutachten eingeholt. Außerdem hat der Sachverständigen Dr.- Ing. ...[B] sein Gutachten mündlich erläutert. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. ...[B] vom 21.02.2013 (Bl. 195 - 214 GA) sowie die Sitzungsniederschrift vom 24.06.2013 (Bl. 235 ff. GA) Bezug genommen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze und Unterlagen verwiesen.

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Das Landgericht ist zu Recht von einer Haftung der Beklagten von 75 % ausgegangen.

Die Beklagten haben vorgetragen, dass der Beklagte zu 1) mit einer Geschwindigkeit von ca. 20 km/h an dem auf der rechten Seite mit eingeschalteter Warnblinkanlage in der Haltebucht stehenden Schulbus vorbeigefahren ist. Damit räumen sie einen Verstoß gegen § 20 Abs. 4 StVO, der Schrittgeschwindigkeit vorschreibt, ein. Eine über 20 km/h liegende Geschwindigkeit kann dem Beklagten zu 1) hingegen nicht nachgewiesen werden. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. ...[B] war die zu hohe Geschwindigkeit kausal für das Unfallgeschehen, da der Beklagte zu 1) bei Einhalten der Schrittgeschwindigkeit den Unfall hätte vermeiden können.

Der geschädigte Schüler wird von dem Schutzbereich des § 20 Abs. 4 StVO erfasst, da dieser alle Fahrgäste schützen will, gleich aus welcher Richtung sie über die Straße zum Bus laufen (BGH NJW 2006, 2110 ff. zu § 20 Abs. 1 StVO). Es kommt daher nicht darauf an, dass der Schüler von der - vom Beklagten zu 1) aus gesehen - linken Straßenseite über die Straße zum Bus gelaufen ist. Damit war der Beklagte zu 1) verpflichtet, bei Annäherung an den mit eingeschalteter Warnblinkanlage in der Haltebucht stehenden Schulbus auch die Gegenfahrbahn zu beobachten, um rechtzeitig auf einen querenden Fußgänger reagieren zu können.

Der Sachverständige Dr. ...[B] hat die Unfallstelle am 19.02.2013, also fast am gleichen Tag wie dem Unfalltag und zur gleichen Zeit wie die Unfallzeit in Augenschein genommen. Er hat dabei festgestellt, dass der Beklagte zu 1) den geschädigten Schüler wahrnehmen konnte, als dieser entweder laufend die Fahrbahn fast erreicht hatte oder, wenn er zuvor am Fahrbahnrand stehen geblieben war, sich bereits in die Fahrbahn hineinbewegt hatte. Der vom Sachverständigen bei dem Ortstermin angefertigte Videofilm zeigt die Licht- und Sichtverhältnisse am Unfallort eindrucksvoll auf. Der Beklagte zu 1) musste den querenden Fußgänger bei gehöriger Aufmerksamkeit, zu der er nach § 20 Abs. 4 StVO verpflichtet war, so rechtzeitig erkennen, dass er bei Einhalten der vorgeschriebenen Schrittgeschwindigkeit den Unfall hätte vermeiden können. Zwar ist nicht bekannt, ob der Schüler zunächst am Fahrbahnrand stehen geblieben oder ob er, ohne anzuhalten, auf die Fahrbahn gelaufen ist und mit welcher Geschwindigkeit er sich dabei bewegte. Die Laufgeschwindigkeit kann aber anhand der Verletzungen des Geschädigten und der Beschädigungen am Fahrzeug des Beklagten zu 1) eingegrenzt werden, so dass eine höhere Geschwindigkeit als 2,2 m/s (entsprechend 8 km/h) bei der Kollision ausgeschlossen werden kann. Von dieser oberen Geschwindigkeit ist der Sachverständige bei seinen Berechnungen ausgegangen. Er berücksichtigt zudem, dass der Beklagte zu 1) zunächst den rechten Verkehrsraum beobachtet haben kann oder der Schüler kurzzeitig von einem vorbeifahrenden Fahrzeug verdeckt gewesen sein könnte. Auch dann hätte der Beklagte zu 1) bei einer Geschwindigkeit von 4 - 7 km/h noch genügend Zeit gehabt, um einen Unfall, auch mit einem unbedacht über die Fahrbahn laufenden Fußgänger, zu vermeiden. Mit einer gefahrenen Geschwindigkeit von 18 km/h war dies hingegen nicht möglich. Auch ein dunkel gekleideter Fußgänger wurde, selbst wenn er zunächst am Fahrbahnrand stand und sich von dem vorhandenen Hintergrund kaum abhob, auffällig, als er sich in Bewegung setzte. Bei Einhalten der Schrittgeschwindigkeit wäre der Geschädigte eventuell vor dem Beklagtenfahrzeug über die Straße gekommen oder der Beklagte zu 1) hätte, da ihm eine längere Beobachtungszeit als bei einer Geschwindigkeit von 18 km/h zur Verfügung steht, rechtzeitig vor ihm anhalten können.

Der Sachverständige Dr. ...[B] hat in seiner Anhörung beim Senat klargestellt, dass seine Feststellungen zur Vermeidbarkeit in jedem Fall Geltung haben, wenn der Beklagte zu 1) schon bei der Vorbeifahrt an dem Bus und nicht erst bei Ansichtigwerden des Schülers mit Schrittgeschwindigkeit fahren musste. Nur wenn er erst bei Ansichtigwerden des Fußgängers gehalten war, die Geschwindigkeit herabzusetzen, ist es möglich, dass sich die überhöhte Geschwindigkeit nicht auswirkte. Davon ist aber nicht auszugehen. § 20 Abs. 4 StVO erfordert ein Herabsetzen der Geschwindigkeit auf 4 - 7 km/h bereits beim Vorbeifahren an dem mit Warnblinkleuchten ausgestatteten Bus, nicht erst, wenn ein Fußgänger sichtbar wird. Damit ist erwiesen, dass die vom Beklagten zu 1) gefahrene zu hohe Geschwindigkeit unfallkausal geworden ist.

Das Mitverschulden des geschädigten Schülers, das sich die Klägerin zurechnen lassen muss, ist mit 25 % hinreichend berücksichtigt. § 20 Abs. 4 StVO schützt gerade auch unachtsame Fußgänger, die wegen des wartenden Busses nicht auf den Verkehr achten. Ein Kfz-​Fahrer muss, alarmiert durch die eingeschaltete Warnblinkanlage, sein Augenmerk besonders auf querende Fußgänger richten, gerade morgens, wenn Schüler zum Schulbus laufen. Auch dass der Geschädigte nicht über die Fußgängerfurt gegangen, sondern direkt über die Straße zum Bus gelaufen ist, erhöht seine Mithaftung nicht. Die Fußgängerfurt war ein ganzes Stück entfernt. Ein Kfz-​Fahrer muss in der Situation, dass ein Bus mit eingeschalteter Warnblinkleuchte an einer Haltebucht steht, mit Personen rechnen, die den Bus noch erreichen wollen und deshalb den direkten Weg über die Straße wählen. Er kann nicht darauf vertrauen, dass die Fahrgäste die Fußgängerfurt benutzen werden.

Gegen die Höhe des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs erheben die Beklagten im Berufungsverfahren keine Einwendungen mehr, nachdem das Landgericht in geringem Umfang Kürzungen vorgenommen hat.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 713, 97 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 8.566,83 €.