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OLG Bamberg Beschluss vom 19.06.2013 - 3 Ss OWi 474/12 - Vorsatz bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung

OLG Bamberg v. 19.06.2013: Zur Annahme von Vorsatz bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung


Das OLG Bamberg (Beschluss vom 19.06.2013 - 3 Ss OWi 474/12) hat entschieden:
  1. Maßgeblich für die dem Schuldspruch wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zugrunde zu legende Schuldform ist nicht die gemessene Tatzeitgeschwindigkeit und das aus dieser resultierende exakte Maß der sog. relativen Geschwindigkeitsüberschreitung sondern die Überschreitung der am Tatort zulässigen Höchstgeschwindigkeit als solcher.

  2. Wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 100 km/h überschritten, bedarf die tatrichterliche Feststellung, der Betroffene habe "nur fahrlässig" gehandelt, auch dann einer qualifizierten und nachvollziehbaren Begründung, wenn die Tat mit einem Motorrad begangen und damit begründet wird, der Betroffene habe das Drehmoment des Gasdrehgriffs der ihm unvertrauten Maschine unterschätzt.

Siehe auch Zur Annahme von Vorsatz bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Stichwörter zum Thema Geschwindigkeit


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den im Tatzeitpunkt 26-jährigen Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 107 km/h zu einer Geldbuße von 600 Euro verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot für die Dauer von drei Monaten nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a Satz 1 StVG verhängt. Hierzu hat das Amtsgericht folgende Feststellungen getroffen:
„Der Betroffene fuhr am 03.06.2011 um 19:41 Uhr mit dem Motorrad auf der Bundesstraße auf Höhe der Gemeinde T. in Richtung L. An der genannten Stelle war die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch Verkehrszeichen 274 auf 80 km/h beschränkt. Der Betroffene war mit dem Motorrad noch nicht vertraut. Er wollte auf dieser Fahrt die Beschleunigung des Fahrzeugs ausprobieren und 'gab erheblich Gas'. Das Fahrzeug beschleunigte so stark, so dass der Betroffene erschrak und in seinem ersten Schrecken nicht mehr dahingehend reagierte, das Fahrzeug sofort abzubremsen. Infolge Unachtsamkeit erreichte der Betroffene mit dem Fahrzeug eine Geschwindigkeit von mindestens 187 km/h. Es wäre dem Betroffenen zumutbar und möglich gewesen, die zulässige Höchstgeschwindigkeit einzuhalten.“
In den Urteilsgründen schließen sich sodann Beweiswürdigung, rechtliche Würdigung und Rechtsfolgenzumessung mit folgendem Wortlaut an:
III. Die Feststellungen des Gerichts beruhen auf dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Der Betroffene hatte an der Hauptverhandlung persönlich nicht teilgenommen. Er war auf seinen Antrag hin mit Beschluss von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Termin entbunden gewesen.

Der Betroffene hatte in der Hauptverhandlung über seinen anwesenden Verteidiger die Tat eingeräumt.

Zur Feststellung der Geschwindigkeit hat das Gericht in der Hauptverhandlung das Messprotokoll verlesen und das Messfoto in Augenschein genommen.

Ausweislich des Messprotokolls wurde die Geschwindigkeit mittels eines Einseitensensors ES3.0 (Softwareversion 1.003) gemessen. Die verwendete Anlage war geeicht, die Eichung war gültig.

Der die Messung durchführende Polizeibeamte hat im Protokoll unterschriftlich bestätigt, dass er das Gerät vorschriftsmäßig aufgestellt hatte und dass die vorgeschriebenen Tests vorgenommen worden sind. Auffälligkeiten hatten sich nicht ergeben. Bei der Messung ist eine Geschwindigkeit von 193km/h gemessen worden. Zum Ausschluss von Messtoleranzen hat das Gericht einen Abzug von 6 km/h vorgenommen, so dass letztlich von einer Mindestgeschwindigkeit von 187km/h auszugehen war. IV. Durch sein Verhalten hat der Betroffene eine fahrlässige Ordnungswidrigkeit nach §§ 41 Abs. 2, 49 Abs. 3 Ziff. 4 StVO i.V.m. § 24 StVG begangen.

V. Die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaft um 107 km/h ist gem. Ziffer 11.3.10 BKat grundsätzlich mit einer Geldbuße in Höhe von 600.-- € zu ahnden.

Gemäß § 4 Abs. 1 BKatV war zugleich ein Fahrverbot für die Dauer von drei Monaten zu verhängen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer zuungunsten des Betroffenen form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Rechtsbeschwerde, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt. Sie verfolgt mit ihrem Rechtsmittel entsprechend der Wertung und Tatahndung im Bußgeldbescheid das Ziel eines Schuldspruchs des Betroffenen wegen vorsätzlicher Tatbegehung sowie demgemäß die Verurteilung zu einer im Regelsatz 'verdoppelten' (vgl. § 3 Abs. 4a Satz 1 BKatV) Geldbuße in Höhe von 1.200 Euro. Die zu der das Rechtsmittel vertretende und hierzu auf die Rechtsbeschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft verweisende Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft abgegebene Stellungnahme des Verteidigers des Betroffenen lag dem Senat vor.


II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige sowie begründete Rechtsbeschwerde führt zu der aus Ziffer I. des Beschlusstenors ersichtlichen Abänderung der Schuldform dahin, dass der Betroffene der vorsätzlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 107 km/h schuldig gesprochen und die deswegen gegen ihn neben dem (rechtsfehlerfrei) angeordneten dreimonatigen Fahrverbot festzusetzende Geldbuße von 600 auf 1.200 Euro erhöht wird.

Aufgrund der Feststellungen des Amtsgerichts und der ihr zugrunde liegenden Beweiswürdigung kann der Schuldspruch wegen einer 'nur' fahrlässigen Verwirklichung des Bußgeldtatbestandes keinen Bestand haben. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts leidet insoweit an durchgreifenden sachlich-rechtlichen Rechtsfehlern:

So ist für den Senat ebenso wie für die rechtsmittelführende Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehbar, wie das Amtsgericht aufgrund seiner Feststellungen bei der gegebenen gravierenden Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 107 km/h auf einer Bundesstraße auch angesichts der knappen und nicht einmal von dem von seiner Anwesenheitspflicht entbundenen Betroffenen persönlich abgegebenen Einlassung zugunsten des Betroffenen davon ausgehen konnte, der Betroffene habe nur fahrlässig gehandelt.

Unabhängig vom Fehlen sich aufdrängender, weil regelmäßig unmittelbar beweiserheblicher oder doch wenigstens nicht minder bedeutsamer indiziellen Feststellungen, etwa zum Anlass der Fahrt, zur beabsichtigten Fahrtstrecke und Fahrtdauer, zur konkreten Fahrbahnbeschaffenheit und zum Streckenverlauf samt Witterungs- und Sichtverhältnissen sowie zur Beschilderung einschließlich einer etwaigen räumlichen Staffelung der Beschränkung oder weiterer besonderer Hinweisschilder z.B. auf Gefahrenlagen im Tatzeitpunkt, zum Aufstellungsort des Geschwindigkeitsmessgeräts, zur Fahrpraxis und Erfahrung des Betroffenen im Umgang mit Motorrädern im Allgemeinen und nicht zuletzt mit der von ihm zur Tatzeit geführten Maschine im Besonderen, zur - gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe festzustellenden - Funktionsweise, namentlich dem Drehmoment des Gasdrehgriffs als Bedienelement zur Motorsteuerung im Hinblick auf Motorleistung und Beschleunigungszeitraum und zur etwaigen Ortskunde des Betroffenen, hat das Amtsgericht offensichtlich schon verkannt, dass die verwirklichte Schuldform nicht im Hinblick auf die ziffernmäßig gemessene Tatzeitgeschwindigkeit von mindestens 187 km/h und das hieraus resultierende exakte Maß der sog. relativen Geschwindigkeitsüberschreitung um mehr als 130 % sondern (lediglich) im Hinblick auf die Überschreitung der hier zulässigen und durch Zeichen 274 auf 80 km/h beschränkten Höchstgeschwindigkeit als solcher ('schneller als erlaubt'; vgl. treffend Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi- Verfahren, 3. Aufl., Rn. 1587 ff., 1590 m.w.N.) zu beurteilen war. Schon aufgrund der über seinen Verteidiger für den Betroffenen abgegebenen Erklärung, „mit dem Motorrad noch nicht vertraut“ gewesen und „auf dieser Fahrt die Beschleunigung des Fahrzeugs ausprobieren“ zu wollen, weshalb der Betroffene „erheblich Gas“ gegeben habe, kann nach Auffassung des Senats am Vorliegen der für die Annahme eines jedenfalls bedingten Tatvorsatzes notwendigen kognitiven und voluntativen Vorsatzelemente kein vernünftiger Zweifel bestehen (vgl. hierzu z.B. OLG Bamberg, Beschluss vom 20.10.2010 - 3 Ss OWi 1704/10 = DAR 2010, 708 = zfs 2011, 50 = SVR 2011, 76 = OLGSt StPO § 267 Nr. 23 = VRR 2010, 472 m. Anm. Gieg [für vorsätzliche Nichteinhaltung des Mindestabstandes]), zumal selbst unter Zugrundelegung der außerhalb geschlossener Ortschaften auf Bundesstraßen nach § 3 Abs. 3 Nr. 2c StVO allgemein zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h hier noch eine Überschreitung um erhebliche 87 % erreicht wurde (vgl. insoweit etwa OLG Celle NZV 2011, 618 f.; OLG Braunschweig DAR 2011, 406 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 04.03.2009 - 4 Ss OWi 123/09 [bei juris]; OLG Jena DAR 2008, 35 ff. und KG NZV 2005, 596 f.). Lediglich ergänzend bemerkt der Senat, dass der Betroffene ausweislich der Urteilsgründe „in der Hauptverhandlung über seinen anwesenden Verteidiger die Tat eingeräumt“ hat, weshalb schon nicht ersichtlich ist, dass der Betroffenen einen wenigstens bedingten Tatvorsatz überhaupt in Abrede gestellt hat.


III.

Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist deshalb das angefochtene Urteil sowohl im Schuldspruch als auch im Rechtsfolgenausspruch - wie geschehen - abzuändern. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 79 Abs. 6 Satz 1 1. Alt. OWiG), so dass es einer Zurückverweisung an das Amtsgericht nicht bedarf. Der Senat schließt aus, dass weitere erhebliche Feststellungen getroffen werden können, welche insbesondere die Annahme einer nur fahrlässigen Tatbegehung durch den Betroffenen rechtfertigen könnten. Für eine Existenzgefährdung des Betroffenen durch das schon vom Amtsgericht insoweit rechtsfehlerfrei angeordnete dreimonatige Fahrverbot fehlt jeder Anhalt, zumal dem Betroffenen der Vollstreckungsaufschub nach § 25 Abs. 2a Satz 1 StVG hinsichtlich der Verschiebung des Eintritts der Wirksamkeit des Fahrverbots zu gewähren ist. Aufgrund der vorsätzlichen Tatbegehung und des Ausmaßes der Geschwindigkeitsüberschreitung war die Geldbuße - wie schon im Bußgeldbescheid vorgesehen - durch Verdoppelung des nach lfd. Nr. 11.3.10 der Tabelle 1c zum BKat verwirkten Regelsatzes von 600 Euro auf 1.200 Euro zu erhöhen (§ 3 Abs. 4a Satz 1 BKatV).


IV.

Der Senat entscheidet gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG durch Beschluss. Der Beschluss wird mit Ablauf des Tages seines Erlasses rechtskräftig (§ 34 a StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG).

Gemäß § 80 a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.


V.

Nach § 465 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG hat der Betroffene die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens einschließlich seiner notwendigen Auslagen zu tragen.