Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Beschluss vom 23.02.2011 - 3 Ws (B) 6/11 - 2 Ss 391/10 - Erkundigungspflicht des Tatrichters vor Erlass eines Verwerfungsurteils

KG Berlin v. 23.02.2011: Zur Erkundigungspflicht des Richters vor Erlass eines Verwerfungsurteils


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 23.02.2011 - 3 Ws (B) 6/11 - 2 Ss 391/10) hat entschieden:
Bleiben überraschend der Betroffene und sein Verteidiger in der Hauptverhandlung im Bußgeldverfahren aus, ist der Tatrichter aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht gehalten, vor der Verwerfung des Einspruchs auf der Geschäftsstelle nachzufragen, ob Schriftsätze eingegangen oder Anrufe erfolgt sind, die eine Mitteilung über die Verhinderung oder etwaige andere Erklärungen enthalten. Er kann – auch wegen der angespannten personellen Ausstattung der Gerichte - nicht davon ausgehen, dass ihm diese unaufgefordert in den Sitzungssaal gebracht werden.


Siehe auch Säumnis des Betroffenen bzw. Angeschuldigten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren und Säumnis des Verteidigers in der Hauptverhandlung


Gründe:

Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit durch Bußgeldbescheid vom 15. April 2010 eine Geldbuße von 120.- Euro festgesetzt. Hiergegen legte der Betroffene Einspruch ein, den das Amtsgericht durch Urteil vom 17. November 2010 nach § 74 Abs. 2 OWiG verwarf, weil der Betroffene entgegen seiner Verpflichtung, persönlich zur Hauptverhandlung zu erscheinen, dieser ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben war. Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, um deren Zulassung er nachsucht, und rügt die Verletzung rechtlichen Gehörs. Sein Rechtsmittel hat (vorläufig) Erfolg.

Die Rechtsbeschwerde ist entsprechend §§ 79 Abs. 1 , 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen. Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist zulässig und begründet. Die Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG verletzt den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Denn die Tatrichterin hat seinen vor Beginn der Hauptverhandlung angebrachten Antrag, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, nicht beschieden.

Der Betroffene hatte durch seinen mit Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger mit Schriftsatz vom 17. November 2010 unter deutlichem Hinweis auf den Hauptverhandlungstermin am selben Tage um 11.50 Uhr im Saal 2002 u.a. erklären lassen, dass er der verantwortliche Fahrzeugführer sei und die ihm vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung bestreite. Ferner ersuche er um Vorlage aller von seinem Fahrverhalten gefertigten Videoaufzeichnungen und widerspreche schon jetzt deren Verwertung, weil diese verdachtsunabhängig erfolgt seien. Weitere Angaben zur Sache werde er nicht machen. Am Terminstage sei er berufsbedingt ortsabwesend und wolle an der Hauptverhandlung nicht teilnehmen. Dieser Schriftsatz ging per Fax am selben Tage bei der zuständigen Abteilung des Amtsgerichts um 9.28 Uhr ein. Um 12.20 Uhr verwarf die Tatrichterin den Einspruch als unzulässig, nachdem weder der Betroffene noch sein Verteidiger erschienen waren.

Die Verwerfung des Einspruchs hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Bleiben überraschend der Betroffene und sein Verteidiger aus, ist der Tatrichter aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht gehalten, vor der Verwerfung des Einspruchs auf der Geschäftsstelle nachzufragen, ob Schriftsätze eingegangen oder Anrufe erfolgt sind, die eine Mitteilung über die Verhinderung oder etwaige andere Erklärungen enthalten [vgl. KG NZV 2009, 518]. Er kann – auch wegen der angespannten personellen Ausstattung - nicht davon ausgehen, dass ihm diese unaufgefordert in den Sitzungssaal gebracht werden. Sofern daher eine entsprechende Mitteilung oder ein anderweitige Eingabe des Betroffenen zum Zeitpunkt der Verwerfung des Einspruchs bereits bei Gericht eingegangen war, kommt es auf die fehlende Kenntnis des Tatrichters hiervon nicht an und das Verwerfungsurteil ist rechtsfehlerhaft. So liegt der Fall hier. Der Betroffene hatte sich in dem Schriftsatz vom 17. November 2010 zur Sache eingelassen, erklärt, nichts weiter sagen und an der Hauptverhandlung nicht teilnehmen zu wollen. Dies ist als Antrag auf Entbindung von der Präsenzpflicht anzusehen. Dieser ist an keine bestimmte Form gebunden, sondern es genügt, wenn der Wunsch, entbunden zu werden, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird [vgl. Göhler, OWiG 15. Aufl., § 73 Rdn. 4]. Das Unterlassen der Bescheidung dieses Antrag stellt eine Gehörsverletzung dar [vgl. KG, Beschluss vom 5. November 2010 – 3 Ws (B) 541/10 -], zumal darüber hinaus auch die sachliche Einlassung des Betroffenen unberücksichtigt geblieben ist.

Der Senat hebt deshalb das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurück.



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