Das Verkehrslexikon

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Säumnis des Betroffenen bzw. Angeklagten in der Hauptverhandlung

Säumnis des Betroffenen bzw. Angeklagten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren




Gliederung:


   Einleitung
Weiterführende Links
Allgemeines
Wartepflicht / Wartezeit
Zusage der Terminsverlegung
Vertrauen auf (Falsch-)Beratung durch den Verteidiger
Fehlinterpretation der Ladung
Krankheit / Arbeitsunfähigkeit
Niederkunft der Ehefrau
Reise / Auslandsaufenthalt
Verkehrsstau / Nahverkehr
Haftbefehl / Vorführungsbefehl
Verwerfung des Einspruchs
Verwerfung der Berufung - Berufungshauptverhandlung
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Keine Sachentscheidung bei Säumnis des Betroffenen
Rechtsbeschwerde

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Weiterführende Links:


Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen

Die Vollmacht des Rechtsanwalts

Säumnis des Verteidigers in der Hauptverhandlung

Strafbefehl und Strafbefehlsverfahren

Die Hauptverhandlung im Ordnungswidrigkeitenverfahren

Berufungshauptverhandlung

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Allgemeines:


OLG Jena v. 15.05.2006:
Bei Anwendung des § 73 Abs. 3 OWiG gelten die Grundsätze, die zu §§ 234, 411 Abs. 2 StPO entwickelt worden sind. Die schriftliche Vertretungsvollmacht, die aufgrund mündlicher Ermächtigung von einem Dritten oder von dem Bevollmächtigten selbst unterzeichnet werden kann, muss danach dem Gericht bei Beginn der Hauptverhandlung vorliegen. Ansonsten beginnt die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde gegen ein Abwesenheitsurteil mit der Zustellung des Urteils. Verfügt der Verteidiger nachweisbar über eine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht, ist die Zustellung des Urteils wirksam, auch wenn sich bei den Akten noch keine Verteidigervollmacht befindet. § 145a StPO ist dann nicht einschlägig.

LG Zweibrücken v. 12.12.2006:
Im Strafbefehlsverfahren sehen §§ 412, 329 Abs. 1 StPO vor, bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten den Einspruch ohne Sachverhandlung zu verwerfen. Diese Verfahrensweise hat schon nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Vorrang vor einem Vorführungsbefehl und einem nachfolgenden Haftbefehl.

OLG Bamberg v. 26.02.2008:
Der Begriff der "genügenden Entschuldigung" darf nicht eng ausgelegt werden. Denn § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO enthält eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf. Die Regelung birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Angeklagten das ihm verfassungsrechtlich verbürgte rechtliche Gehör entzogen wird. Bloße Zweifel an einer genügenden Entschuldigung i.S.v. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen

OLG Hamm v. 04.03.2008:
Gemäß § 411 Abs. 2 StPO kann sich der Angeklagte im Strafbefehlsverfahren in der Hauptverhandlung durch einen bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen. Das gilt auch in der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht und selbst dann, wenn das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet worden ist.

KG Berlin v. 23.02.2011:
Bleiben überraschend der Betroffene und sein Verteidiger in der Hauptverhandlung im Bußgeldverfahren aus, ist der Tatrichter aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht gehalten, vor der Verwerfung des Einspruchs auf der Geschäftsstelle nachzufragen, ob Schriftsätze eingegangen oder Anrufe erfolgt sind, die eine Mitteilung über die Verhinderung oder etwaige andere Erklärungen enthalten. Er kann – auch wegen der angespannten personellen Ausstattung der Gerichte - nicht davon ausgehen, dass ihm diese unaufgefordert in den Sitzungssaal gebracht werden.

OLG Hamm v. 25.02.2011:
Es verletzt den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör, wenn das Amtsgericht seinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG verwirft, obwohl er Betroffene von seiner Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden worden ist.

OLG Bamberg v. 04.03.2011:
Erscheinen der Betroffene sowie sein Verteidiger nicht zum gerichtlich bestimmten Hauptverhandlungstermin, da das Gericht einen Terminsverlegungsantrag des durch Terminskollision verhinderten Verteidigers ohne stichhaltige Begründung abgelehnt hat, so verstößt das Gericht durch ein Einspruchsverwerfungsurteil gegen die Grundsätze fairer Prozessführung, wenn es das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör in unzulässiger Weise verletzt hat.

OLG Köln v. 05.10.2011:
Ergeht gegen den von der Verpflichtung zum Erscheinen entbundenen Betroffenen ein Abwesenheitsurteil nach § 74 Abs. 1 Satz 1 OWiG, obwohl sein Verteidiger zu dem Termin nicht geladen worden und nicht erschienen ist, kann auf Seiten des Betroffenen eine Verletzung rechtlichen Gehörs auch dann vorliegen, wenn der Verteidiger im Termin zwar möglicherweise keine Vertretungsvollmacht (§ 73 Abs. 3 OWiG) vorgelegt hätte, er aber - wie hier mit der Zulassungsrechtsbeschwerde detailliert vorgetragen - kraft der ihm als Verteidiger zustehenden Befugnisse dem Tatvorwurf rechtlich erhebliche Einwendungen entgegengesetzt hätte, die dem Tatgericht noch nicht zur Kenntnis gebracht worden waren und im Urteil demgemäß nicht berücksichtigt worden sind.




OLG Bamberg v. 28.11.2011:
Den Betroffenen trifft hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes grundsätzlich keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder zum lückenlosen Nachweis. Das Gericht hat vielmehr, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt oder Zweifel an einer genügenden Entschuldigung bestehen, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht - gegebenenfalls im Wege des Freibeweises - nachzugehen. Die Nachforschungsverpflichtung des Gerichts ist andererseits nicht grenzenlos. Ihre Auslösung setzt (wenigstens) voraus, dass der Betroffene vor der Hauptverhandlung schlüssig einen Sachverhalt vorträgt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen.

OLG Brandenburg v. 26.05.2014:
Bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 74 Abs. 2 OWiG ist die Verwerfung des Einspruchs trotz Anwesenheit eines Verteidigers zwingend. Art. 6 Abs. 3 MRK und die Entscheidung des EGMR (Urteil v. 8. November 2012, 30804/07, Neziraj v. Bundesrepublik Deutschland, StraFo 2012, 490) stehen dem nicht entgegen.

KG Berlin v. 28.08.2014:
Aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht muss der Tatrichter vor Erlass eines Verwerfungsurteils grundsätzlich bei der Geschäftsstelle nachfragen, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt. - Nur wenn das Entschuldigungsvorbringen von vornherein ungeeignet gewesen wäre, das Fernbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung zu entschuldigen, beruht das Urteil nicht auf dem Verfahrensfehler.

KG Berlin v. 02.06.2015:
Vor einer Verwerfung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG hat das Gericht zu prüfen, ob sich aus den ihm bekannten und im Wege des Freibeweises feststellbaren Umständen eine hinreichende Entschuldigung des Fernbleibens ergibt. Liegen Anhaltspunkte für eine Entschuldigung des Betroffenen vor, darf der Einspruch nur verworfen werden, wenn das Amtsgericht sich rechtsfehlerfrei die Überzeugung verschafft hat, dass genügende Entschuldigungsgründe nicht gegeben sind. Bleibt zweifelhaft, ob der Betroffene genügend entschuldigt ist, darf der Einspruch nicht verworfen werden. Dabei ist grundsätzlich eine weite Auslegung zugunsten des Betroffenen geboten, weil eine Verwerfung des Einspruchs die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich birgt.

KG Berlin v. 12.10.2017:
Nach § 74 Abs. 2 OWiG kommt es nicht darauf an, ob der Betroffene sich genügend entschuldigt hat, sondern darauf, ob er objektiv genügend entschuldigt ist, wobei eine weite Auslegung zu Gunsten des Betroffenen geboten ist (BGHSt 17, 396; ständige Rechtsprechung des KG, vgl. u.a. VRS 102, 467 ff.; Beschluss vom 4. Juni 2015 – 3 Ws (B) 264/15 – m.w.N.). Maßgebend ist insofern nicht, was er selbst zur Entschuldigung vorgetragen hat, sondern ob sich aus den Umständen, die dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt und im Wege des Freibeweises feststellbar waren, eine ausreichende Entschuldigung ergibt. Im Fall einer Erkrankung ist das Ausbleiben des Betroffenen zudem nicht erst dann entschuldigt, wenn der Betroffenen verhandlungsunfähig ist. Es genügt vielmehr, dass ihm infolge der Erkrankung das Erscheinen vor Gericht nicht zuzumuten ist (vgl. KG, Beschluss vom 18. Mai 2010 – 3 Ws (B) 220/10 – m.w.N.).

KG Berlin v. 13.03.2019:
Für eine erfolgreiche Rüge nach § 74 Abs. 2 OWiG ist der sichere Nachweis der nicht ordnungsgemäßen Ladung nicht erforderlich. Es genügt im Zweifelsfall, dass eine nicht ordnungsgemäße Ladung wenigstens hinreichend plausibel ist (vgl. KG, Beschlüsse vom 28. Januar 2019 - (5) 161 Ss 13/19 (2/19) -, 12. September 2017 - 4 Ws 115/17 - juris und 10. April 2017 - (5) 121 Ss 51/17 (34/17) - jeweils zu § 329 StPO, m.w.N.). Im Falle nicht behebbarer Zweifel an einer wirksamen Zustellung ist diese als unwirksam zu behandeln (vgl. Senat, Beschluss vom 22. März 2003 - 3 Ws 327/03 - juris).

OLG Brandenburg v. 18.01.2023:
Die Pflicht zum Erscheinen vor Gericht auf entsprechende Ladung hin ist eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Betroffenen, die grundsätzlich der Regelung familiärer und geschäftlicher Angelegenheiten und der Erfüllung beruflicher Obliegenheiten vorgeht. Aus privaten Gründen kann demgemäß das Nichterscheinen eines Angeklagten zur Hauptverhandlung allenfalls in Ausnahmefällen dann genügend entschuldigt sein, wenn es sich um unaufschiebbare geschäftliche oder berufliche Angelegenheiten von solcher Bedeutung handelt, dass ihnen gegenüber die öffentlich-rechtliche Pflicht, sich als Betroffener vor Gericht zu stellen, zurücktreten muss.

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Wartepflicht / Wartezeit:


KG Berlin v. 29.11.2000:
Ist der Betroffene ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen, hat das Gericht die Grundsätze eines fairen Verfahrens und die daraus abzuleitende Fürsorgepflicht zu beachten. Daraus ergibt sich nicht nur die Pflicht, mit einer gewissen Verzögerung des Betroffenen zu rechnen und eine Wartezeit von ca 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten, sondern zusätzlich, wenn der Betroffene innerhalb dieser Wartezeit mitteilt, daß er sich verspäten, aber noch innerhalb angemessener Zeit erscheinen werde, einen weiteren angemessenen Zeitraum abzuwarten. Dies gilt unabhängig von einem Verschulden des Betroffenen an seinem verspäteten Eintreffen.

KG Berlin v. 13.04.2006:
Aus der dem Gericht obliegenden Fürsorgepflicht ergibt sich, dass vor der Verwerfung eines Einspruchs mit einer gewissen Verzögerung des Betroffenen zu rechnen und eine Wartezeit von etwa 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten ist. Wenn der Betroffene innerhalb dieser Wartezeit mitteilt, dass er sich verspäten werde, ist ein weiterer Zeitraum zuzuwarten. Dies gilt unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder gar Mutwilligkeit zur Last fällt.

OLG Jena v. 29.08.2011:
Im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht ist eine gewisse Verspätung des Betroffenen in Rechnung zu stellen, wenn dieser ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er nicht mehr erscheinen werde. Eine Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung ist angemessen. Eine über 15 Minuten hinausgehende Wartepflicht besteht dagegen regelmäßig nicht.

OLG Frankfurt am Main v. 28.02.2012:
Maßgeblich für die Berechnung der Wartepflicht ist die angesetzte Terminsstunde und nicht der Beginn der Hauptverhandlung (Änderung OLG Frankfurt, 14. Dezember 1999, 2 Ss 351/99, NStZ 2001, 85). Ohne Bedeutung für die vom Gericht einzuhaltende Wartezeit ist dagegen der für keinen der Beteiligten genau vorhersehbare Zeitpunkt des tatsächlichen Aufrufs der Sache.

KG Berlin v. 04.07.2012:
Die Verwerfung des Einspruchs gemäß § 74 Abs. 2 OWiG beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Rechtsbeschwerde dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Betroffene noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt. Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten. Diese über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht auch unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last.

KG Berlin v. 30.04.2013:
Die aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens abzuleitende Fürsorgepflicht gebietet es, vor Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO einen längeren Zeitraum zuzuwarten, wenn der Angeklagte noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt. Die - die Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO begründende - Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet, entfällt in dieser Konstellation. Die über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht dabei unabhängig davon, ob den Angeklagten an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last oder der Kammer ist ein weiteres Zuwarten wegen anstehender weiterer Termine - auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter - schlechterdings nicht zumutbar.

OLG Köln v. 08.07.2013:
Bei telefonisch angekündigter Verspätung des Angeklagten infolge witterungsbedingter schlechter Verkehrsverhältnisse ist - ungeachtet eines möglichen Verschuldens durch verspäteten Reiseantritt - regelmäßig eine über den üblichen Zeitraum von 15 Minuten hinaus gehende Wartezeit geboten.

KG Berlin v. 08.05.2015:
Bei einer Verspätung des Betroffenen hat das Gericht die Grundsätze des fairen Verfahrens und insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht zu beachten. Aus dieser ergibt sich nicht nur die Pflicht, mit einer gewissen Verzögerung des Betroffenen zu rechnen und eine Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten, sondern zusätzlich, wenn der Betroffene innerhalb dieser Wartezeit mitteilt, dass er sich verspäten, aber noch innerhalb angemessener Zeit erscheinen werde, einen weiteren Zeitraum zuzuwarten. Dies gilt unabhängig davon, ob dem Betroffenen an dem verspäteten Eintreffen eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder gar Mutwilligkeit zur Last fällt.

OLG Dresden v. 30.07.2021:
  1.  Die Grundsätze eines fairen Verfahrens und die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht gebieten es dem Berufungsgericht, vor einer Verwerfung der Berufung wegen nicht genügend entschuldigten Ausbleibens des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO eine den Umständen nach angemessene Zeit, die in der Regel 15 Minuten beträgt, zuzuwarten. Eine Wartezeit ist auch nach kürzeren Unterbrechungen während eines Verhandlungstages ( Verhandlungspausen ) vor einer Entscheidung nach § 329 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO einzuhalten.

  2.  Verwirft das Berufungsgericht die Berufung unter Bezugnahme auf § 329 Abs. 1 StPO, ohne die Wartezeit einzuhalten, und erscheint hiernach der Angeklagte noch vor Ablauf der Wartefrist am Sitzungssaal, ist ihm auf seinen Antrag nach § 329 Abs. 7 Satz 1 StPO analog Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Insoweit steht der nichtsäumige dem säumigen Angeklagten gleich.

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Zusage der Terminsverlegung:


Terminsverlegung

OLG Oldenburg v. 27.09.2012:
Die Säumnis des Betroffenen in der Hauptverhandlung ist hinreichend entschuldigt, wenn er auf Grund einer telefonischen Mitteilung des Amtsgerichts gegenüber seinem Verteidiger davon ausgehen durfte, dass auf der Grundlage des von ihm vorgelegten Schreibens eine Terminsverlegung erfolgen werde.

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Vertrauen auf (Falsch-)Beratung durch den Verteidiger:


Vertrauen des säumigen Betroffenem bzw. Angeklagten auf (Falsch-)Beratung durch den Verteidigers

Anwaltsverschulden - Haftung des Rechtsanwalts gegenüber dem Mandanten

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Fehlinterpretation der Ladung:


OLG Celle v. 29.04.2016
Die fehlerhafte Interpretation einer Ladung zu einem Fortsetzungstermin als Mitteilung einer Verlegung des Beginns einer Berufungshauptverhandlung, die bei sorgfältigem Lesen des weiteren Ladungsschreibens vermeidbar gewesen wäre, vermag ein Ausbleiben bei Beginn der Berufungshauptverhandlung nicht genügend zu entschuldigen.

OLG Frankfurt am Main v. 01.08.2017:
Es liegt keine genügende Entschuldigung für das Fernbleiben eines Betroffenen von einer Hauptverhandlung vor, wenn es sich bei der Ladung zu einem "Termin zur Haftprüfung" erkennbar um ein offensichtliches Schreibversehen des Gerichts handelt.

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Krankheit / Arbeitsunfähigkeit:


Säumnis des Betroffenen bzw. Angeklagten in der Hauptverhandlung wegen Krankheit

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Niederkunft der Ehefrau:


KG Berlin v. 30.09.2015:
Die Niederkunft der Ehefrau stellt, zumal wenn Komplikationen während der Geburt drohen, einen anzuerkennenden Entschuldigungsgrund für das Nichterscheinen in der Hauptverhandlung dar.

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Reise / Auslandsaufenthalt:


OLG Hamm v. 21.02.2012:
Ein von vornherein befristeter längerer Auslandsaufenthalt (hier: einjähriges Studienförderprogramm in Neuseeland und Australien) stellt jedenfalls dann eine genügende Entschuldigung im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG dar, wenn sich der Betroffene bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Bußgeldbescheides im Ausland aufhielt, der - vor allem finanzielle - Aufwand für eine Rückreise außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht und weder unter dem Gesichtspunkt des drohenden Verlustes von Beweismitteln noch unter dem Gesichtspunkt einer drohenden Verfolgungsverjährung eine Hauptverhandlung vor dem geplanten Rückkehrtermin erforderlich ist.

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Verkehrsstau / Nahverkehr:


OLG Brandenburg v. 18.05.2005:
Die Säumnis des Betroffenen, der infolge eines Verkehrsstaus nicht zum Hauptverhandlungstermin erscheint, ist regelmäßig selbst verschuldet, weil bei der Anfahrt mit einem Kraftfahrzeug (in vertretbarem Rahmen) mögliche und meist nicht genau vorhersehbare Verzögerungen einzukalkulieren sind. Der Bußgeldrichter hat sich in seinem Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG mit allen Umständen auseinanderzusetzen, aus denen die Unzulässigkeit der Einspruchsverwerfung gefolgert werden könnte.

OLG Zweibrücken v. 16.09.2009:
Die Urteilsgründe des Tatgerichts müssen sich mit einer verkehrsbedingten Verspätung des Betroffenen auseinandersetzen.

OLG Köln v. 08.07.2013:
Bei telefonisch angekündigter Verspätung des Angeklagten infolge witterungsbedingter schlechter Verkehrsverhältnisse ist - ungeachtet eines möglichen Verschuldens durch verspäteten Reiseantritt - regelmäßig eine über den üblichen Zeitraum von 15 Minuten hinaus gehende Wartezeit geboten.

KG Berlin v. 08.05.2015:
Bei einer Verspätung des Betroffenen hat das Gericht die Grundsätze des fairen Verfahrens und insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht zu beachten. Aus dieser ergibt sich nicht nur die Pflicht, mit einer gewissen Verzögerung des Betroffenen zu rechnen und eine Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten, sondern zusätzlich, wenn der Betroffene innerhalb dieser Wartezeit mitteilt, dass er sich verspäten, aber noch innerhalb angemessener Zeit erscheinen werde, einen weiteren Zeitraum zuzuwarten. Dies gilt unabhängig davon, ob dem Betroffenen an dem verspäteten Eintreffen eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder gar Mutwilligkeit zur Last fällt

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Haftbefehl / Vorführungsbefehl:


KG Berlin v. 22.07.2015:
In einem Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl ist der Erlass eines Vorführungsbefehls oder Haftbefehls im Falle des unentschuldigten Nichterscheinens des Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung und Anwesenheit eines mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidigers bei angeordnetem persönlichen Erscheinen des Angeklagten zulässig. - Allein der Wohnsitz des Angeklagten im Land Brandenburg in einem Umkreis von weniger als 100 km von Berlin entfernt steht dem Erlass eines Vorführungsbefehls als milderes Zwangsmittel nicht entgegen.

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Verwerfung des Einspruchs:


Verwerfung des Einspruchs im Bußgeldverfahren

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Verwerfung der Berufung - Berufungshauptverhandlung:


Die Berufungshauptverhandlung im Strafverfahren

BayObLG v. 11.04.1978:
Kann sich der Angeklagte in der Berufungsverhandlung gemäß StPO § 411 Abs 2 durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten lassen, so muß auf diese Möglichkeit in der Ladung ausdrücklich hingewiesen werden, andernfalls eine Verwerfung der Berufung ohne Sachverhandlung nicht zulässig ist.

OLG Zweibrücken v. 18.01.2007:
Geht der Angeklagte bei einer gestaffelten Ladung für ihn und seine Freundin als Zeugin versehentlich davon aus, dass die Berufungshauptverhandlung nicht zu dem in seiner Ladung angegebenen Zeitpunkt, sondern zu dem in der Ladung für seine Freundin angegebenen, 40 Minuten später liegenden Zeitpunkt beginnen werde, und lässt über seinen Verteidiger sein Eintreffen bei Gericht gemeinsam mit seiner Freundin und damit 40 Minuten nach Hauptverhandlungsbeginn ankündigen, so ist das Gericht zu einem über die allgemein übliche Wartezeit von15 Minuten hinausgehenden Zuwarten verpflichtet. Wird die Berufung stattdessen wegen des Nichterscheinens des Angeklagten verworfen, so stellt dies einen Verfahrensfehler dar, der zur Aufhebung des Urteils führt.

BGH v. 25.11.2008:
Ein Prozessbevollmächtigter, der infolge Erkrankung an der Wahrnehmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung gehindert ist, hat alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um das Gericht rechtzeitig von seiner Verhinderung zu unterrichten.

OLG München v. 17.01.2013:
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 8. November 2012, 30804/07, StraFO 2012, 490ff., wonach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht mit Art. 6 Abs. 1 und 3 MRK vereinbar sei, verkennt das Regelungsgefüge dieser Vorschrift und die Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht. Selbst bei einer unterstellten Konventionswidrigkeit ist die Vorschrift angesichts ihres eindeutigen Wortlautes von deutschen Gerichten aufgrund ihrer Bindung an die geltenden Gesetze anzuwenden und eine auf die Konventionswidrigkeit der Vorschrift gestützte Revision offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

OLG Bamberg v. 06.03.2013:
Die Entschuldigung des Ausbleibens ist "genügend", wenn die abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Erscheinenspflicht andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen. Entscheidend ist nicht, ob sich der Angeklagte genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist. Den Angeklagten trifft daher hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis. Vielmehr muss das Gericht, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachgehen. Bloße Zweifel an einer "genügenden Entschuldigung" dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen.

OLG Bremen v. 10.06.2013:
Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR steht allein die Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Strafverteidigers einer Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht entgegen.

OLG Nürnberg v. 30.04.2018:
Die Berufung des Angeklagten kann gem. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen werden, wenn bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Die Verwerfung der Berufung des Angeklagten hat auch dann zu erfolgen, wenn eine unterbrochene Berufungshauptverhandlung in einem oder mehreren weiteren Terminen fortgesetzt wird (§ 229 StPO), in denen der Angeklagte oder sein Verteidiger im Falle der Vertretung ohne genügende Entschuldigung nicht erscheint.

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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand:


Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

LG Berlin v. 28.02.2013:
Ein Wiedereinsetzungsantrag kann nicht auf solche Tatsachen gestützt werden, die das erkennende Gericht bereits im Verwerfungsurteil als nicht ausreichenden Entschuldigungsgrund gewürdigt hat. Dies gilt auch dann, wenn mit dem Wiedereinsetzungsantrag weitere Tatsachen vorgetragen werden, die den Zweck haben, den bereits gewürdigten Entschuldigungsgrund zu ergänzen, zu verdeutlichen und glaubhaft zu machen.

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Keine Sachentscheidung bei Säumnis des Betroffenen:


OLG Hamm v. 22.08.2011:
Im Falle der Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG muss der Einspruch zwingend verworfen werden - ein Absehen vom Fahrverbot kann nicht ausgeurteilt werden.

OLG Karlsruhe v. 02.08.2016:
Eine Gehörsverletzung liegt nicht nur dann vor, wenn einem Betroffenen keine Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu allen entscheidungserheblichen und für ihn nachteiligen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, sondern auch dann, wenn das Gericht den Sachvortrag einer Partei aus unzulässigen verfahrensrechtlichen Gründen nicht zur Kenntnis nimmt. Dies ist der Fall, wenn sachliche Einwendungen des Betroffenen deshalb unberücksichtigt bleiben, weil bei seinem Ausbleiben in der Hauptverhandlung nicht in Abwesenheit des Betroffenen zur Sache verhandelt wird, obwohl die Voraussetzungen dafür nach § 74 Abs. 1 OWiG vorliegen.

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Rechtsbeschwerde:


Die Rechtsbeschwerde in Bußgeldsachen

KG Berlin v. 29.11.2000:
Verwerfungsurteile nach OWiG § 74 Abs 2 müssen die von dem Betroffenen vorgebrachten Entschuldigungsgründe und sonstige, das Ausbleiben des Betroffenen möglicherweise rechtfertigende Tatsachen wiedergeben und würdigen. - Eine Verletzung der Fürsorgepflicht gegenüber dem nicht pünktlich erschienenen Betroffenen rechtfertigt die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht. Der Wiederholungsgefahr kann dadurch begegnet werden, daß das Amtsgericht durch die Entscheidung des Senats auf diesen Rechtsfehler hingewiesen wird.



KG Berlin v. 11.01.2011:
Wenn mit der Rechtsbeschwerde gegen ein Verwerfungsurteil nach OWiG § 74 Abs 2 gerügt werden soll, dass der Betroffene zu Unrecht nicht von der Erscheinenspflicht in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung entbunden wurde, gehört es zum ordnungsgemäßen Vortrag, dass der Verteidiger, der einen Entbindungsantrag gestellt hatte, die besondere (schriftliche) Vertretungsvollmacht für den Betroffenen hatte und diese dem Bußgeldgericht auch nachgewiesen hat.

OLG Bamberg v. 04.07.2011:
Wird die rechtsfehlerhafte Entscheidung durch ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG beanstandet, kann im Rahmen der insoweit zu erhebenden Verfahrensrüge auf eine genaue und lückenlose Darstellung des Verfahrensgangs wenigstens im Vorfeld des den Einspruch verwerfenden Urteils grundsätzlich nicht verzichtet werden. Wird im Antragsverfahren auf Zulassung der Rechtsbeschwerde nach einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG mit der gebotenen Verfahrensrüge der Zulassungsgrund des Verstoßes gegen rechtliches Gehör geltend gemacht, muss dem Rügevortrag jedenfalls dann, wenn das Entschuldigungsvorbringen nicht schlicht übergangen wurde, zu entnehmen sein, ob und gegebenenfalls wie sich der Betroffene im Falle seiner Anhörung geäußert bzw. den Tatvorwurf bestritten hätte.

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