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OLG Hamm Urteil vom 23.04.2013 - I-9 U 12/13 - Haftungsverteilung bei Lückenunfall

OLG Hamm v. 23.04.2013: Zur Haftungsverteilung bei Unfall zwischen an einer Kolonne vorbeifahrendem und aus einer Lücke in die Vorfahrtstraße einbiegenden Fahrzeug


Das OLG Hamm (Urteil vom 23.04.2013 - I-9 U 12/13) hat entschieden:
Wer bei dichtem Verkehr an einer zum Stehen gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, muss bei erkennbaren Verkehrslücken in Höhe von Kreuzungen und Einmündungen trotz seiner Vorfahrt seine Fahrweise so einrichten, dass er auch vor unvorsichtig aus der Lücke herausfahrenden Fahrzeugen rechtzeitig anhalten kann.


Siehe auch Lückenunfälle - Überholen einer haltenden Kolonne und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Gründe:

I.

Gemäß § 540 Abs.1 ZPO wird auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils Bezug genommen, soweit sich aus dem Nachfolgenden nichts anderes ergibt. Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht nach Anhörung des Beklagten zu 1) und der Vernehmung von Zeugen eine Haftung der Beklagten in Höhe von 2/3 angenommen und die Beklagten unter Abweisung der weitergehenden Klage verurteilt, an den Kläger über die während des Rechtsstreits erster Instanz einschließlich Nebenforderungen gezahlten 2.982,48 EUR hinaus weitere 2.622,89 EUR nebst Zinsen und anteiliger Nebenforderungen zu zahlen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten.

Sie meinen, die nach § 17 Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung ergebe allenfalls eine Haftung der Beklagten von 1/3. Berechtigte Ansprüche des Klägers seien daher durch die im Laufe des Rechtsstreits erster Instanz geleistete Zahlung erfüllt.

Die Beklagten beantragen,
das angefochtene Urteil teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Sachvortrags. Die Akte 32 Js-​Owi 896/12 StA Paderborn lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.


II.

Die Berufung der Beklagten ist begründet. Auf das Rechtsmittel der Beklagten hin war das angefochtene Urteil teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Denn die Beklagten haften dem Kläger gem. §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB, 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG nur mit einem Drittel für die dem Kläger durch den Verkehrsunfall vom 29.03.2012 in I entstandenen Schäden. Nachdem die Beklagten im Laufe des Rechtsstreits ausgehend von einer Haftung von 1/3 an den Kläger insgesamt 2.982,48 EUR gezahlt haben, stehen dem Kläger keine weitergehenden Ansprüche mehr zu.

Der Unfall hat sich bei dem Betrieb der beteiligten Kfz ereignet und war für keinen der Beteiligten Folge höherer Gewalt, § 7 Abs. 2 StVG, noch unabwendbar iSd § 17 Abs. 3 StVG.

In die somit nach § 17 Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge fließen neben der Betriebsgefahr der unfallbeteiligten Fahrzeuge auch ein eventuelles schuldhaftes Verhalten der Fahrzeugführer ein. Dabei sind nur solche Umstände in die Abwägung einzubeziehen, die unstreitig oder bewiesen sind und sich unfallursächlich ausgewirkt haben.

Ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ist aus Rechtsgründen zu verneinen. Denn die Überholverbote nach Abs. 3 und Abs. 3 a schützen den Gegenverkehr, Vorausfahrende und den nachfolgenden Verkehr, die durch falsches Fahren des Überholenden gefährdet werden können (König in Hentschel-​König-​Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 5 Rn. 33), nicht aber den aus einer im Querverkehr befindlichen nachgeordneten Straße Einfahrenden (KG, KGR 2009, 235; juris).

Der Beklagte zu 1) hat durch seine Fahrweise aber unfallursächlich gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Grundsätzlich durfte der Beklagte zu 1) auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts durch die Zeugin G vertrauen. Dieser Grundsatz ist jedoch eingeschränkt durch die so genannte Lückenrechtsprechung. Danach gilt: wer bei dichtem Verkehr an einer zum Stehen gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, muss bei erkennbaren Verkehrslücken in Höhe von Kreuzungen und Einmündungen trotz seiner Vorfahrt seine Fahrweise so einrichten, dass er auch vor unvorsichtig aus der Lücke herausfahrenden Fahrzeugen rechtzeitig anhalten kann (§ 1 Abs. 2 StVO, vgl. dazu KG a.a.O.). Er muss es insbesondere Verkehrsteilnehmern im Querverkehr ermöglichen, aus der freigehaltenen Lücke heraus bis zur Erlangung freier Sicht auf den vor der haltenden Kolonne nicht besetzten Straßenraum herauszufahren. Dazu muss er entweder in ausreichendem Sicherheitsabstand an der Kolonne vorbeifahren oder eine so geringe Geschwindigkeit einhalten, dass er notfalls vor einem aus der Lücke herausfahrenden Verkehrsteilnehmer anhalten kann.

Es kann dahin stehen, ob die von dem Zeugen G2 mit seinem mit Holzstämmen beladenen LKW offen gehaltene Lücke für den Beklagten zu 1) als solche erkennbar war. Jedenfalls waren dem Beklagten zu 1) die Örtlichkeiten bekannt, so dass er mit dem Vorhandensein einer Lücke vor der Einmündung der Straße "X" rechnen musste. Angesichts dessen erscheint die von dem Beklagten zu 1) eingeräumte Geschwindigkeit von 40 km/h in Annäherung an die Straßeneinmündung zu hoch. Denn auch für den Beklagten zu 1) erkennbar verdeckte der hoch aufragende LKW die Sicht auf den Einmündungsbereich. Da er bei Tempo 40 gut 11 m pro Sekunde zurücklegte, schränkte er seine eigenen Wahrnehmungs- und Reaktionsmöglichkeiten erheblich ein. Dass der Beklagte zu 1) den LKW mit zu geringem Seitenabstand passiert hat, wodurch er seine Wahrnehmungsmöglichkeiten noch weiter reduziert hätte, kann nicht festgestellt werden.

Der Zeugin G ist ein unfallursächlicher Vorfahrtsverstoß nach § 8 StVO vorzuwerfen. Die Zeugin hatte dem im Überholvorgang begriffenen Beklagten zu 1) die Vorfahrt einzuräumen. Ein Wartepflichtiger, der durch eine von der in der vorfahrtberechtigten Straße zum Stehen gekommenen Kolonne freigehaltene Lücke nach links abbiegen will, muss in der Regel auch damit rechnen, dass andere Fahrzeuge neben der haltenden Kolonne vorbeifahren. Deshalb darf er, wenn er den nicht von der Kolonne in Anspruch genommenen Fahrbahnteil nicht zuverlässig einsehen kann, sich in diesen nur langsam hineintasten. Langsames Fahren bzw. Schrittgeschwindigkeit, wie der Zeuge G es geschildert hat, entspricht dabei nicht einem vorsichtigen Hineintasten, durch das dem Verkehr auf der bevorrechtigten Straße die Möglichkeit eingeräumt werden soll, das einfahrende Fahrzeug rechtzeitig wahrzunehmen und auf dieses zu reagieren (BayObLG NZV 1988, 77). Die Angaben der übrigen Zeugen vermögen angesichts der Aussage des Zeugen G dem Senat nicht die erforderliche Überzeugung zu vermitteln, dass die Zeugin G sich in die Lücke hineingetastet hat. Der Zeuge G2 hat zunächst ausgesagt, die Zeugin G sei nicht schnell herausgefahren. Auf Vorhalt des Gerichts hat er das dahin beschrieben, sie habe sich hinausgetastet. Das passt aber nicht mit der Beschreibung im folgenden Satz, die Zeugin G habe geguckt und sei dann rumgefahren. Das ist gerade kein Hineintasten. Auch wenn die weiteren Zeugen C und T von einem langsamen in den Verkehr Tasten sprechen, vermag sich der Senat nicht davon zu überzeugen, dass sich die Zeugin G auch tatsächlich zentimeterweise vorgetastet hat. Wenn ein auch nur langsames Hineintasten bis zur Sichtlinie in der konkreten Situation nicht gefahrlos möglich war, weil der hoch aufragende LKW die Sicht nach links deutlich erschwerte, dann hätte die Zeugin den Einbiegevorgang zurückstellen müssen, bis ein Kraftfahrzeugführer erneut eine Lücke lassen würde. Ob der Zeuge G2 der Zeugin G ein von dieser dahin gedeutetes Zeichen gegeben hat, wonach sie durch die Lücke auf die Vorfahrtstraße einbiegen könne, kann dahin gestellt bleiben, weil dies die Zeugin G im Verhältnis zu dem Beklagten zu 1) nicht entlastet.

Denn die Zeugin G musste sich in eigener Verantwortung gegenüber dem bevorrechtigten Verkehr davon überzeugen und dementsprechend verhalten, dass ein gefahrloses Einbiegen durch die Lücke in die Vorfahrtstraße möglich war.

Unter Abwägung der zuvor aufgezeigten Verursachungsbeiträge trifft das überwiegende Verschulden an dem Zustandekommen des Verkehrsunfalls die Zeugin G, was in der auszuurteilenden Haftungsquote von 2/3 zu 1/3 zu Lasten des Klägers zum Ausdruck kommen muss.

Nachdem die Beklagte zu 2). im Laufe des Rechtsstreits erster Instanz die sich nach dieser Haftungsquote ergebenden berechtigten und der Höhe nach unstreitigen Ansprüche des Klägers ausgeglichen hat, standen dem Kläger darüber hinausgehende Ansprüche nicht mehr zu, so dass die Klage insoweit insgesamt abzuweisen war.

An den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz sind die Beklagten mit 18 % zu beteiligen. Denn die Beklagten treffen gem. § 91a ZPO die Kosten des Rechtsstreits, soweit die Parteien mit Blick auf die von der Beklagten zu 2) erbrachte Zahlung in Höhe von 2.982,48 EUR den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Die auf der Grundlage der Ausgleichung der Ansprüche nach einer Quote von 1/3 geltend gemachte Forderung war im Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses begründet. Mit dieser Leistung befanden sich die Beklagten mit Ablauf des 16.05.2012 aufgrund des Schreibens der Prozessbevollmächtigten des Klägers v. 03.05.2012 in Verzug. Auf das Ansinnen der Beklagten zu 2), zunächst das Bußgeldverfahren abzuwarten, ist der Kläger nicht eingegangen, so dass die Beklagte zu 2) damit rechnen musste, dass der Kläger seine berechtigten Forderungen notfalls auch gerichtlich geltend machen würde.

Die Nebenentscheidungen beruhen im Übrigen auf den §§ 91 ZPO, 708. Nr. 10, 713 ZPO.

Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht, § 543 ZPO.