Das Verkehrslexikon

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OLG Braunschweig Beschluss vom 13.05.2014 - 1 Ss (OWiZ) 85/13 - Beweisantrag auf Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung einer stationären Messstelle

OLG Braunschweig v. 13.05.2014: Verfahrensrüge bei Ablehnung eines Beweisantrages auf Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung einer stationären Messstelle und vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung


Das OLG Braunschweig (Beschluss vom 13.05.2014 - 1 Ss (OWiZ) 85/13) hat entschieden:
  1. Die Feststellung, dass der Betroffene vor der Messstelle bereits mehrere die Geschwindigkeit begrenzende Verkehrsschilder passiert hat, ist zur Begründung vorsätzlicher Begehungsweise regelmäßig nicht ausreichend, weil nicht auszuschließen ist, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsbegrenzungen beachtet und nur die letzte (vor der Messung) missachtet hat.

  2. Es wird daran festgehalten (OLG Braunschweig, Beschl. v. 7. Februar 2011, Ss (OWiZ) 225/10, juris), dass eine vorsätzliche Begehungsweise nicht angenommen werden kann, wenn die Geschwindigkeitsüberschreitung weniger als 40% beträgt und weitere Tatsachen, aus denen auf Vorsatz geschlossen werden kann, nicht feststellbar sind.

  3. Wird im Zusammenhang mit durch das Gericht entgegen einem Antrag nicht zur Verfügung gestellten Unterlagen die Versagung des rechtlichen Gehörs gerügt, muss die Rechtsbeschwerde substantiiert darlegen, was der Betroffene im Falle seiner Anhörung in der Hauptverhandlung zu seiner Verteidigung vorgebracht hätte und welche Anstrengungen bis zum Ablauf der Frist zur Erhebung der Verfahrensrüge unternommen wurden, um die Unterlagen zu erhalten (Anschluss an OLG Celle, Beschl. v. 28. März 2013, 311 SsRs 9/13). Im Zusammenhang mit einem abgelehnten Beweisantrag auf Einsichtnahme der Bedienungsanleitung gilt dies bei einer stationären Messstelle um so mehr, weil dort nicht ohne weiteres angenommen werden kann, dass nach der Ersteinrichtung und der regelmäßigen zu wiederholenden Eichung weitere Bedienungsschritte notwendig werden, die die erzielten Messergebnisse verfälschen könnten.

Siehe auch Zur Annahme von Vorsatz bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Einhaltung der Bedienungsanleitung bei Messgeräten


Gründe:

I.

Das Amtsgericht Hann. Münden hat den Betroffenen durch das angefochtene Urteil wegen einer auf der BAB 7 („Laubacher Berg“) begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit (Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts um 33 km/h) zu einer Geldbuße von 240,- € verurteilt. Dabei hat das Amtsgericht angenommen, dass der Betroffene vorsätzlich gehandelt hat und hat dies wie folgt begründet:
„Der Betroffene handelte angesichts der Beschilderung vor der Messstelle hinsichtlich der Geschwindigkeitsüberschreitung vorsätzlich. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ordnungsgemäß aufgestellte Verkehrszeichen von den Verkehrsteilnehmern auch wahrgenommen werden (vgl. OLG Celle, NZV 2011, 618). Da der Betroffene vor der Messstelle bereits 11 die Geschwindigkeit begrenzende Schilder passiert hatte (drei große Schilderbrücken auf einer Strecke von drei Kilometern, die vierte Schilderbrücke zum Zeitpunkt der Messung praktisch direkt vor Augen!), ist es schlechterdings nicht vorstellbar, dass ein Kraftfahrzeugführer derartig viele, die Geschwindigkeit begrenzende Schilder übersieht. Ein Kraftfahrer handelt bedingt vorsätzlich bzgl. einer Geschwindigkeitsüberschreitung, wenn er die Geschwindigkeitsbegrenzung wahrnimmt und es unterlässt durch ein winziges Senken des Blickes auf den Tacho zu schauen und die Geschwindigkeit zu kontrollieren und ggfs. herabzusetzen (vgl. OLG Braunschweig, Ss (OWi) 28/06, m. w. N.), jedenfalls dann, wenn die Geschwindigkeitsbeschränkung durch so viele Schilder über eine Strecke von ca. 4 Kilometern wiederholt wird und der Betroffene also genügend Zeit vor der Messstelle hatte, seine Geschwindigkeit zu kontrollieren. Das hat er nicht getan und deshalb zumindest billigend in Kauf genommen, dass er schneller fährt als erlaubt.“
Der Betroffene hat beantragt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen; dazu rügt er zum einen, dass das Amtsgericht die Annahme eines vorsätzlichen Verkehrsverstoßes unzureichend begründet habe und trägt zum anderen vor, dass ihm zu Unrecht die Einsichtnahme in die „Lebensakte und Bedienungsanleitung“ der Messstelle nicht gewährt worden sei.<

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt wie erkannt.


II.

1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen war gem. § 80 Abs. 1 OWiG zuzulassen, weil es geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu den an die Begründung vorsätzlicher Begehungsweise zu stellenden Anforderungen zu ermöglichen. Dazu war die Sache zudem durch den Einzelrichter auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen.

2. Die teilweise Aufhebung des angefochtenen Urteils ist zunächst geboten, weil die Feststellungen die Schuldform des Vorsatzes nicht tragen. Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 15. April 2013 unter Hinweis auf einen Beschluss des Senats vom 07. Februar 2011 (Ss (OWiZ 225/10, veröffentlicht bei juris) Folgendes ausgeführt:
„Einen Teilerfolg muss die Rechtsbeschwerde hingegen auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts hin haben.

Denn die Feststellungen des tatrichterlichen Urteils tragen nicht die Schuldform des Vorsatzes. Da der Betroffene zu dem Vorwurf schweigt, kann die innere Tatseite des Vorsatzes nur aus den objektiven Tatumständen hergeleitet werden. Dies gilt sowohl für das Wissens- als auch für das Wollenselement, die beide Voraussetzung für eine Verurteilung wegen einer vorsätzlich begangenen Tat sind (Gürtler in Göhler, a. a. O., § 10 Rn. 2).

Vorliegend kann dahinstehen, ob der Betroffene die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 100 km/h auch tatsächlich (möglicherweise trotz Unaufmerksamkeit) erkannt hat (Wissenselement). Selbst wenn man dies im vorliegenden Fall bejaht, konnten (insbesondere wegen des Schweigens des Betroffenen) offensichtlich keine ausreichenden Feststellungen zum Wollenselement getroffen werden.

Bei der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit drängt sich eine vorsätzliche Begehungsweise umso mehr auf, je massiver das Ausmaß der Überschreitung ist (OLG Braunschweig, Beschl. v. 07.02.2011 – Ss (OWiZ) 225/10 –, juris, Rn. 9 f.; KG NStZ-​RR 2002, 116 m. w. N.). Dabei kommt es nach der neueren Rechtsprechung nicht auf die absolute, sondern auf die relative Geschwindigkeitsüberschreitung an, das heißt, auf das Verhältnis zwischen der vorgeschriebenen und der gefahrenen Geschwindigkeit. Je höher die prozentuale Überschreitung ausfällt, desto eher wird sie von einem Kraftfahrer, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit kennt, aufgrund der stärkeren Fahrgeräusche und der schneller vorbeiziehenden Umgebung bemerkt (OLG Braunschweig a. a. O.; OLG Karlsruhe NZV 2006, 437; KG NZV 2004, 598 und a. a. O.).

Vorliegend erreicht jedoch die relative Geschwindigkeitsüberschreitung von 33 % (festgestellte 33 km/h gegenüber erlaubten 100 km/h) nicht das Ausmaß von mindestens ca. 40%, das die Rechtsprechung zur Annahme vorsätzlicher Begehungsweise - auch bei Fahrzeugen mit gehobener technischer Ausstattung - voraussetzt, wenn weitere Tatsachen, aus denen auf Vorsatz geschlossen werden kann, nicht feststellbar sind (OLG Braunschweig a. a. O.; KG a. a. O.; OLG Karlsruhe a. a. O.; vgl. auch OLG Brandenburg DAR 2008, 532, wonach eine Überschreitung um 32% mangels Feststellbarkeit weiterer vorsatzbegründender Tatsachen nicht ausreichend ist, sowie weitere Rechtsprechung hierzu, zitiert in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-​Verfahren, 2. Aufl., Rn. 1594, der in Rn. 1593 sogar von einer „Faustregel“ von ca. 50% statt 40% ausgeht). Einen allgemeinen Erfahrungssatz, dass ein Kraftfahrer, der nicht regelmäßig oder überhaupt nicht auf den Tachometer sieht, eine Geschwindigkeitsüberschreitung billigend in Kauf nimmt und deshalb „bedingt vorsätzlich“ handelt, gibt es nicht (OLG Braunschweig a. a. O., Rn. 13; OLG Hamm, Beschl. v. 03.05.1994 – 4 Ss (OWi) 217/94 –, zit. nach Burhoff, a. a. O., Rn. 1594). Dem Betroffenen kann daher kein vorsätzliches, sondern nur fahrlässiges Handeln vorgeworfen werden.“
Dem tritt der Senat auf der Grundlage seiner bisherigen Rechtsprechung (OLG Braunschweig, Beschluss vom 07.02.2011, Ss (OWiZ) 225/10; Beschluss vom 23.02.2011, Ss (OWiZ) 26/11; Beschluss vom 28.11.2011, Ss (OWiZ 190/11), zu deren Änderung der vorliegende Fall keinen Anlass gibt, bei und fügt ergänzend hinzu:

Das Amtsgericht hat seiner Entscheidung zur Vorsatzfrage ersichtlich die Annahme zugrunde gelegt, dass der Betroffene über eine längere Fahrstrecke hinweg unaufmerksam gewesen sei und hat dazu ausführt, dass „der Betroffene vor der Messstelle bereits 11 die Geschwindigkeit begrenzende Schilder (drei große Schilderbrücken auf einer Strecke von drei Kilometern, die vierte Schilderbrücke zum Zeitpunkt der Messung praktisch direkt vor Augen!) passiert habe“. Schon diese - die Wissensseite des Vorsatzes betreffende - Überlegung ist aber keineswegs zwingend, weil es ebenso gut sein kann, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsbegrenzungen beachtet und nur die letzte (vor der Messung) missachtet hat. Gerade das vom Amtsgericht herausgestellte - für Autobahnen ungewöhnlich starke - Gefälle von 8% unmittelbar vor der Messstelle, das eine selbstständige stetige Beschleunigung des Fahrzeuges bedingt und daher einen aktiven Bremseingriff des Fahrzeugführers erfordert, lässt eine Unaufmerksamkeit nur in diesem Moment und damit eine fahrlässige Begehungsweise ebenso möglich erscheinen.

3. Die Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG), die mit der Verfahrensrüge geltend zu machen ist (OLG Köln NZV 1999, 264 [265]; Seitz, a. a. O., Rn. 16i; Senge in KK-​OWiG, 3. Aufl., § 80 Rn. 41b und 42), ist allerdings bereits nicht in zulässiger Weise erhoben worden. Denn im Falle der Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs muss die Rechtsbeschwerde substantiiert darlegen, was der Betroffene im Falle seiner Anhörung geltend gemacht hätte (OLG Celle, Beschl. v. 28.03.2013 – 311 SsRs 9/13 –, BeckRS 2013, 06415 m. w. Rspr.nachw.; Seitz, a. a. O., Rn. 16c), weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in die Lage versetzt wird zu prüfen, ob die angefochtene gerichtliche Entscheidung auf einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruht und dem Betroffenen tatsächlich rechtliches Gehör verwehrt worden ist. Dies hat auch für diese Rüge zur Folge, dass der Betroffene sich noch nach Abschluss eines Verfahrens bis zum Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist um entsprechende Einsicht in die vom ihm begehrten Unterlagen bemühen muss, um aufgrund dann zu gewinnender Erkenntnisse konkret darzulegen, was in der Hauptverhandlung vorgetragen worden wäre (OLG Celle a. a. O.). Auch im vorliegenden Fall gilt dies umso mehr, als es sich um eine stationäre Messstelle handelt, bei der nicht ohne weiteres angenommen werden kann, dass nach der Ersteinrichtung und der regelmäßigen zu wiederholenden Eichung weitere Bedienungsschritte notwendig werden, die die erzielten Messergebnisse verfälschen könnten. 4. Weil es ausgeschlossen erscheint, dass eine neue Hauptverhandlung zu weitergehenden Feststellungen zur Schuldform führen wird, konnte der Senat den Schuldspruch selbst abändern (§ 79 Abs. 6 OWiG) und konnte auch über den Rechts-​folgenausspruch selbst entscheiden (§ 79 Abs. 6 OWiG), weil die zugehörigen Feststellungen des Amtsgerichts – abgesehen von der abgeänderten Schuldform – vollständig und zutreffend sind. Gründe, die eine Abweichung von der Regelgeldbuße angemessen erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich.


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 473 Abs. 4 StPO, 46 Abs. 1 OWiG.