Das Verkehrslexikon

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VGH München Urteil vom 18.02.2016 - 11 BV 15.1164 - Fahrtenbuchauflage - Mitwirkungsobliegenheit hinsichtlich der Fahrerfeststellung

VGH München v. 18.02.2016: Fahrtenbuchauflage - Mitwirkungsobliegenheit hinsichtlich der Fahrerfeststellung


Der VGH München (Urteil vom 18.02.2016 - 11 BV 15.1164) hat entschieden:
  1. Die Behörde kann den Zugang mit einfacher Post versandter Anhörungen des Fahrzeughalters im Wege des Anscheinsbeweises nachweisen, wenn zumindest der Versand hinreichend belegt ist.

  2. Auch dann, wenn der Fahrzeughalter seiner Mitwirkungsobliegenheit hinsichtlich der Fahrerfeststellung nicht nachkommt, muss die Verfolgungsbehörde naheliegende und mit wenig Aufwand realisierbare Ermittlungen zur Fahrerfeststellung durchführen und dokumentieren.

Siehe auch Fahrtenbuch-Auflage: Erforderlicher Ermittlungsaufwand und Fahrtenbuch-Auflage - Fahrtenbuch führen


Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuchs.

Am 22. Januar 2014 überschritt ein unbekannter Fahrer mit dem auf die Klägerin unter dem amtlichen Kennzeichen BT-​... zugelassenen Fahrzeug in Chemnitz die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften nach Toleranzabzug um 23 km/h. Die Akten der Stadt Chemnitz enthalten ein Anhörungsschreiben an die Klägerin vom 4. Februar 2014 mit Zeugenfragebogen und dem an der Messstelle gefertigten Frontfoto, auf dem ein männlicher Fahrer zu erkennen ist, mit der Bitte um Rücksendung innerhalb einer Woche, sowie ein Erinnerungsschreiben vom 7. März 2014 mit der Bitte um Benennung des Fahrzeugführers innerhalb einer Woche und dem Hinweis auf die Möglichkeit einer Fahrtenbuchauflage. In den Akten befinden sich weder Postauslaufvermerke noch Zustellnachweise zu diesen Schreiben. Ebenfalls mit Schreiben vom 7. März 2014 bat die Stadt Chemnitz die Verwaltungsgemeinschaft Weidenberg um Angaben zu den Familienangehörigen der Klägerin. Ein von dort an die Stadt Chemnitz übermitteltes Foto des Ehemanns der Klägerin ist in den Akten mit der handschriftlichen Bemerkung versehen: „scheidet aus – zu alt“.

Nach einem Aktenvermerk der um weitere Ermittlungen gebetenen Polizeiinspektion Bayreuth-​Land sprach der Sohn der Klägerin am 4. April 2014 dort vor. Er scheide aufgrund seines Erscheinungsbilds als Fahrer aus. Nach Vorlage des Lichtbilds habe er angegeben, den Fahrer des Fahrzeugs nicht zu kennen. Der Beifahrer sei jedoch ein Freund von ihm namens C.... Mit per Fax vorab versandtem Schreiben vom 9. April 2014 bat die Polizeiinspektion Bayreuth-​Land das Polizeirevier Mittweida unter Hinweis auf die drohende Verjährung um Durchführung weiterer Ermittlungen. Der Ehemann der Klägerin habe am 28. März 2014 auf telefonische Nachfrage angegeben, sie könnten zu der Geschwindigkeitsüberschreitung nichts sagen, da das Fahrzeug hauptsächlich durch den Sohn genutzt werde, der in Mittweida studiere. Dem Schreiben der Polizeiinspektion Bayreuth-​Land zufolge studiere der Beifahrer C... ebenfalls in Mittweida, scheide aber nach einem Bildabgleich als Fahrer aus. Er habe an seinem Hauptwohnsitz in Bayreuth bislang nicht angetroffen werden können. Deshalb werde um Ermittlungen im Umfeld des Sohns der Klägerin und „insbesondere um Befragung des benannten Beifahrers“ gebeten, dessen Adresse in Mittweida dem Schreiben beigefügt war.

Mit Schreiben vom 29. April 2014 sandte die Polizeidirektion Chemnitz/Polizeirevier Mittweida den Vorgang an die Stadt Chemnitz zurück. Der Fahrer habe in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht ermittelt werden können.

Mit Schreiben vom 13. Mai 2014 hörte das Landratsamt Bayreuth die Klägerin auf Ersuchen der Stadt Chemnitz zur Auferlegung eines Fahrtenbuchs an. Hierzu ließ die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten erklären, die Schreiben der Stadt Chemnitz vom 4. Februar 2014 und vom 7. März 2014 niemals erhalten zu haben. Es sei nicht der Klägerin, sondern der verzögerten Bearbeitung durch die Stadt Chemnitz anzulasten, dass der Fahrer trotz der rechtzeitigen Angabe der Anschriften des Beifahrers durch ihren Sohn nicht habe ermittelt werden können.

Mit Bescheid vom 7. August 2014 verpflichtete das Landratsamt Bayreuth die Klägerin unter Anordnung des Sofortvollzugs zur Führung eines Fahrtenbuchs für das Fahrzeug BT-​... und zukünftig zugelassene Folge- bzw. Ersatzfahrzeuge für die Dauer von sechs Monaten und zu dessen monatlicher Vorlage.

Mit Beschluss vom 29. September 2014 stellte das Verwaltungsgericht Bayreuth auf Antrag der Klägerin die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Fahrtenbuchauflage wieder her und ordnete diese gegen die im Bescheid verfügten Zwangsgeldandrohungen an. Mit Gerichtsbescheid vom 20. April 2015 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid vom 7. August 2014 auf. Es könne nicht festgestellt werden, dass die Klägerin vor dem Eintritt der Verfolgungsverjährung nachweislich überhaupt in eigener Person über die Verkehrsordnungswidrigkeit benachrichtigt und um Benennung des Fahrzeugführers gebeten worden sei. Auch wenn ihre Anschrift auf den Schreiben der Stadt Chemnitz zutreffend angegeben sei, folge daraus nicht zwingend, dass der Zeugenfragebogen und die nachfolgende Erinnerung sie tatsächlich erreicht hätten. Die Zugangsvermutung des § 41 Abs. 2 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes sei vorliegend weder unmittelbar noch analog anwendbar. Die materielle Beweislast für die Rechtzeitigkeit der Anhörung liege ungeachtet des Umstands, dass die Stadt Chemnitz nicht verpflichtet gewesen sei, den Anhörungsbogen förmlich zuzustellen, beim Beklagten. Mache die Behörde von ihrem Recht auf formlose Anhörung Gebrauch, könne dies nicht zur Folge haben, dass dann der Adressat der Anhörung beweisen müsse, das Schreiben nicht erhalten zu haben. Die Klägerin sei auch nicht telefonisch oder persönlich befragt worden. Daher sei zu ihren Gunsten davon auszugehen, dass sie zu keinem Zeitpunkt vor dem Eintritt der Verfolgungsverjährung schriftlich über die Verkehrsordnungswidrigkeit informiert worden sei, weshalb auch ihre Obliegenheit, bei der Ermittlung des Fahrers mitzuwirken, nicht zum Zuge komme.

Zur Begründung der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung führt der Beklagte aus, die Stadt Chemnitz habe alle nach den Umständen des Einzelfalls angemessenen und zumutbaren Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung ergriffen. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin zumindest eines der beiden an sie versandten Schreiben der Stadt Chemnitz vom 4. Februar 2014 und 7. März 2014 erhalten habe. Die Befragung mit einfachem Brief sei bei Massenverfahren im Zusammenhang mit Verkehrsordnungswidrigkeiten jedenfalls dann ausreichend, wenn – wie hier – diesbezüglich zwei Schreiben versandt würden. Beide Schreiben seien korrekt adressiert worden und nicht in Rücklauf gelangt. Hinsichtlich des Zugangs komme es auch auf die Glaubwürdigkeit des Bestreitens an. Aus dem Abgabeschreiben der Polizeiinspektion Bayreuth-​Land vom 9. April 2014 gehe hervor, dass der zuvor telefonisch kontaktierte Ehemann der Klägerin von der Verkehrszuwiderhandlung keineswegs überrascht gewesen sei. Auch seine dort wiedergegebene Aussage, wonach „sie“ zur Geschwindigkeitsüberschreitung „nichts sagen könnten“, spreche für eine vorausgegangene Informiertheit der Klägerin und sei ein weiteres Indiz für den Zugang wenigstens eines der Anhörungsschreiben. Die Klägerin habe durch ihre unterbliebene Reaktion auf die Schreiben der Stadt Chemnitz eine Mitwirkung an der Aufklärung erkennbar abgelehnt. Im Übrigen sei ein etwaiger Nichtzugang der Schreiben nicht kausal für die Nichtermittelbarkeit des Fahrers, da hauptsächlich der Sohn der Klägerin das Fahrzeug an seinem Studienort nutze. Es könne als ausgeschlossen angesehen werden, dass die Klägerin den Fahrer gekannt habe bzw. anhand des Frontfotos hätte identifizieren können. Ihre Befragung hätte somit nicht zu dessen Ermittlung geführt.

Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 20. April 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin sei für den Nichtzugang der Schreiben nicht beweispflichtig. Deren ordnungsgemäße Adressierung und Versendung könne keineswegs als gesichert gelten, zumal die Stadt Chemnitz auch die zuständigen Polizeibehörden verwechselt und die Verfahrensakte an die Polizeiinspektion Kulmbach versandt habe. Hierdurch sei eine – ohnehin nicht bestehende – Zugangsvermutung erschüttert. Eine „Vorinformiertheit“ der Klägerin ergebe sich auch nicht daraus, dass ihr Ehemann telefonisch angegeben habe, er könne zu der Sache nichts sagen. Die Stadt Chemnitz habe durch ihre Nachlässigkeit eine Mithilfe der Klägerin, die bei Kenntnis der Schreiben an ihren Sohn herangetreten wäre und von diesem die Telefonnummer des Beifahrers abverlangt hätte, vereitelt und müsse die Konsequenzen für die unterbliebene Versendung der Anhörungsschreiben per Einschreiben mit Rückschein tragen.

Auf gerichtliche Nachfrage hat die Landesanwaltschaft Bayern mitgeteilt, bei der Polizeiinspektion Bayreuth-​Land seien keine weiteren Dokumentationen über die Telefonate mit dem Ehemann der Klägerin und die Befragung ihres Sohns vorhanden. Die hiermit befassten Polizeibediensteten könnten hierzu angesichts des langen Zeitablaufs keine weiteren Angaben mehr machen. Auch das Polizeirevier Mittweida habe zu den dortigen Ermittlungen keine über die Abgabenachricht vom 29. April 2014 hinausgehenden Erkenntnisse mitteilen können. Allerdings müsse das Ermittlungsersuchen an die Polizeidienststelle in Mittweida ebenso wie eine kaum Aussicht auf Erfolg bietende Nachforschung am Nebenwohnsitz des Beifahrers durch eine Polizeistreife als überobligatorisch angesehen werden und stehe daher der Fahrtenbuchauflage nicht entgegen. Die Fahrerfeststellung bleibe auch dann unmöglich, wenn zunächst angedachte überobligatorische Maßnahmen nicht ergriffen würden. Die Klägerin und ihr Sohn seien weder ihrer Obliegenheit nachgekommen, bei Überlassung des Fahrzeugs an einen Unbekannten vorher dessen Identität festzustellen und sich hierüber Notizen zu machen, noch hätten sie nach Begehung der Zuwiderhandlung dessen Namen und Anschrift in Erfahrung gebracht und mitgeteilt. Die Polizei habe davon ausgehen können, dass der Sohn der Klägerin das Fahrzeug nicht dem Beifahrer C..., sondern unmittelbar einem ihm unbekannten Fahrer überlassen habe. Die Überlassung des Fahrzeugs an einen Unbekannten und die fehlenden Bemühungen des Sohns der Klägerin, diesen in Erfahrung zu bringen, senkten die Schwelle des gebotenen polizeilichen Ermittlungsaufwands. Weitere Ermittlungen der Polizei Mittweida an der Nebenwohnung des C... seien daher nicht veranlasst gewesen.

Ergänzend wird auf die vorgelegten Unterlagen des Beklagten und die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Verfahrensbeteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat in der Sache keinen Erfolg. Es kann dahinstehen, ob die Klägerin als Fahrzeughalterin und Zeugin das Anhörungsschreiben der Stadt Chemnitz vom 4. Februar 2014 und das Erinnerungsschreiben vom 7. März 2014 erhalten hat (1.a). Unabhängig davon war die Fahrerfeststellung jedenfalls nicht unmöglich, weil die um Amtshilfe ersuchte Polizeidienststelle Mittweida entweder nicht rechtzeitig versucht hat, den Beifahrer des Fahrzeugs als Zeugen zur Identität des Fahrers zu befragen, oder entsprechende Bemühungen jedenfalls nicht ausreichend dokumentiert hat (1.b).

1. Nach § 31a Abs. 1 Satz 1 der Straßenverkehrs-​Zulassung-​Ordnung (StVZO) vom 26. April 2012 (BGBl I S. 679), zuletzt geändert durch Verordnung vom 9. März 2015 (BGBI I S. 243), kann die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene oder künftig zuzulassende Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Die Feststellung des Kraftfahrzeugführers ist im Sinne von § 31a Abs. 1 StVZO unmöglich, wenn die Behörde nach den Umständen des Einzelfalls alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um ihn zu ermitteln. Art und Ausmaß der Ermittlungen hängen insbesondere von der Art des jeweiligen Verkehrsverstoßes und der Bereitschaft des Kraftfahrzeughalters zur Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrers ab. Die Behörde hat in sachgemäßem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen zu treffen, die in gleich gelagerten Fällen erfahrungsgemäß zum Erfolg führen (vgl. etwa BVerwG, U.v. 17.12.1982 – 7 C 3.80 – BayVBl 1983, 310; B.v. 21.10.1987 – 7 B 162.87 – Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 18; B.v. 23.12.1996 – 11 B 84.96 – juris; BayVGH, B.v. 23.2.2015 – 11 CS 15.6 – juris; B.v. 25.1.2016 – 11 CS 15.2576 – juris Rn. 14). Verweigert der Fahrzeughalter seine Mitwirkung bei der Ermittlung des Fahrzeugführers, sind weitere Ermittlungen in der Regel nicht zumutbar (BVerwG, U.v. 17.12.1982 a.a.O.). Vielmehr darf ein Fahrzeughalter, der unter Vernachlässigung seiner Aufsichtsmöglichkeiten nicht dartun kann oder will, wer im Zusammenhang mit einer Verkehrszuwiderhandlung zu einem bestimmten Zeitpunkt sein Fahrzeug gefahren hat, grundsätzlich durch das Führen eines Fahrtenbuchs zu einer nachprüfbaren Überwachung der Fahrzeugbenutzung angehalten werden (BVerwG, B.v. 23.6.1989 – 7 B 90.89 – NJW 1989, 2704 Rn. 8; BayVGH, B.v. 6.5.2010 – 11 ZB 09.2947 – juris Rn. 8). Allerdings muss die Verfolgungsbehörde auch in solchen Fällen naheliegenden und mit wenig Aufwand durchführbaren Ansätzen zur Fahrerermittlung nachgehen und das Ergebnis ihrer Bemühungen dokumentieren.

a) Grundsätzlich gehört es zu einem angemessenen Ermittlungsaufwand der Verfolgungsbehörde, den Fahrzeughalter unverzüglich, d.h. regelmäßig innerhalb von zwei Wochen von der mit seinem Kraftfahrzeug begangenen Zuwiderhandlung zu benachrichtigen (vgl. BVerwG, U.v. 13.10.1978 – VII C 77.74 – Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 5). Die Wahrscheinlichkeit einer weiterführenden Auskunft des Halters über den Fahrzeugführer sinkt wegen des nachlassenden Erinnerungsvermögens mit zunehmendem Zeitabstand zur begangenen Ordnungswidrigkeit. Die Zweiwochenfrist jedoch gilt nicht für vom Regelfall abweichende Gestaltungen, in denen bei typisierender Betrachtung auch eine spätere Anhörung zur effektiven Rechtsverteidigung genügt. Gleiches gilt, wenn feststeht, dass die Rechtsverteidigung des Fahrzeughalters durch dessen verzögerte Anhörung nicht beeinträchtigt worden ist.

Die an das Landratsamt Bayreuth übermittelten Unterlagen der Stadt Chemnitz enthalten ein an die Klägerin adressiertes Anhörungsschreiben vom 4. Februar 2014 und ein Erinnerungsschreiben vom 7. März 2014, deren Zugang die Klägerin bestreitet. Beide Schreiben wurden jedenfalls nicht mit Zustellungsnachweis und auch nicht per Einschreiben versandt. In den Akten befinden sich auch keine Auslaufvermerke oder Datenauszüge, die den Versand belegen würden (zu diesem Erfordernis vgl. HessVGH, U.v. 22.3.2005 – 2 UE 582/04 – NJW 2005, 2411 = juris Rn. 27; NdsOVG, B.v. 10.3.2006 – 12 ME 48/06 – juris Rn. 12; OVG Berlin-​Bbg, B.v. 21.1.2013 – OVG 1 S 50.12 – juris Rn. 4; Haus in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 1. Auflage 2014, § 31a StVZO Rn. 69). Soweit der Beklagte hierzu mit der Berufungsbegründung eine Bestätigung der Sachbearbeiterin der Stadt Chemnitz vom 5. Mai 2015 vorgelegt hat, wonach der Zeugenfragebogen am 4. Februar 2014 „über das Rechenzentrum gedruckt wurde und in den Postauslauf ging“ und das Schreiben vom 7. März 2014 „am Arbeitsplatz gedruckt und von mir persönlich kuvertiert und in den Postversand gegeben“ wurde, ist der Versand hierdurch nicht hinreichend nachgewiesen, zumal sich die Sachbearbeiterin der Mitteilung der Landesanwaltschaft Bayern vom 10. Dezember 2015 zufolge an den Inhalt eines Telefonats am 28. April 2014 mit dem Polizeirevier Mittweida in der gleichen Angelegenheit nicht mehr erinnern kann. Unter diesen Umständen erscheint es zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber nach allgemeiner Lebenserfahrung eher unwahrscheinlich, dass der Sachbearbeiterin ein in den Akten nicht dokumentierter Routinevorgang wie der Versand einfacher Schreiben nach mehr als einem Jahr noch in Erinnerung geblieben ist.

Gleichwohl deutet vieles darauf hin, dass die Klägerin das Anhörungsschreiben der Stadt Chemnitz vom 4. Februar 2014 und das Erinnerungsschreiben vom 7. März 2014 erhalten hat. Zu einer förmlichen Zustellung war die Stadt Chemnitz nicht verpflichtet (§ 50 Abs. 1 Satz 1 OWiG). Zwar trägt die Verfolgungsbehörde die Beweislast für die rechtzeitige Anhörung und den Zugang des Anhörungsschreibens (BayVGH, B.v. 10.10.2006 – 11 CS 06.607 – juris Rn. 19; B.v. 30.9.2008 – 11 CS 08.1953 – juris Rn. 5). Auch ist die Zugangsfiktion gemäß § 1 Satz des Gesetzes zur Regelung des Verwaltungsverfahrens- und des Verwaltungszustellungsrechts für den Freistaat Sachsen vom 19. Mai 2010 (SächsGVBl. S. 142), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2013 (SächsGVBl. S. 503), i.V.m. § 41 Abs. 2 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt bei (formloser) Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gilt, vorliegend weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar, da das Verwaltungsverfahrensgesetz für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten nicht gilt (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG) und die Zugangsfiktion nicht Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens ist (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2006 u.v. 30.9.2008, a.a.O.).

Eine Behörde kann ihrer Beweispflicht hinsichtlich des Zugangs jedoch auch nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins genügen, wenn sie Tatsachen vorträgt, aus denen nach allgemeiner Lebenserfahrung geschlossen werden kann, dass der Empfänger einen Bescheid oder ein Schreiben tatsächlich erhalten haben muss (vgl. BayVGH, B.v. 6.7.2007 – 7 CE 07.1151 – NVwZ-​RR 2008, 252 – juris Rn. 8; B.v. 11.5.2011 – 7 C 11.232 – juris Rn. 2; SächsOVG, B.v. 16.7.2012 – 3 A 663/10 – juris Rn. 7; SaarlOVG, B.v. 7.11.2011 – 3 B 371/11 – NVwZ-​RR 2012, 131 – juris Rn. 5; VG Düsseldorf, U.v. 24.5.2012 – 6 K 8411/10 – juris Rn. 32). Vorliegend wurden beide Schreiben an die Klägerin korrekt adressiert und sind nicht als unzustellbar in Rücklauf gekommen. Die Klägerin hat den Zugang auch lediglich pauschal bestritten und keinen atypischen Geschehensablauf schlüssig vorgetragen, aus dem sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass ihr die Schreiben – ihren Versand unterstellt – nicht zugegangen sind und dass sie etwa im Postbetrieb verloren gegangen sein könnten. Auch die von der Polizei dokumentierte Äußerung ihres telefonisch kontaktierten Ehemanns vom 28. März 2014, „sie könnten“ (und nicht „er könne“, wie in der Berufungserwiderung vom 24.7.2015 behauptet) „zu der Geschwindigkeitsüberschreitung nichts sagen“, da das Fahrzeug hauptsächlich durch den Sohn genutzt werde, spricht dafür, dass die Klägerin zumindest eines der beiden Schreiben erhalten hat. Aufgrund der verbliebenen und vom Beklagten nicht ausgeräumten Zweifel daran, dass die beiden Schreiben überhaupt versandt wurden, kann jedoch nicht ohne Weiteres von deren Zugang ausgegangen werden. Die Stadt Chemnitz als Verfolgungsbehörde hat die Klägerin persönlich als Fahrzeughalterin auch nicht anderweitig vor Eintritt der Verfolgungsverjährung von der begangenen Ordnungswidrigkeit und den Ermittlungen in Kenntnis gesetzt.

b) Die Frage des Zugangs des Anhörungs- und Erinnerungsschreibens und einer sich daraus ergebende Verletzung der Mitwirkungspflicht der Klägerin kann jedoch offen bleiben, da die nicht als überobligatorisch anzusehenden Ermittlungen der Polizeidienststelle Mittweida hinsichtlich des Beifahrers als Zeugen nicht ausreichend waren oder jedenfalls nicht entsprechend dokumentiert wurden. Somit fehlt es an der erforderlichen Kausalität einer etwaigen Verweigerung der Mitwirkung durch die Klägerin für die Nichtfeststellbarkeit des Fahrers vor Ablauf der Verjährungsfrist hinsichtlich der begangenen Ordnungswidrigkeit.

aa) Zwar weist die Landesanwaltschaft Bayern zu Recht darauf hin, dass es dem Fahrzeughalter obliegt, sich vor der Überlassung des Fahrzeugs an einen ihm unbekannten Fahrer über dessen Identität zu vergewissern und sich hierüber Notizen zu machen. Eine Verletzung dieser Obliegenheit rechtfertigt im Falle der Nichtfeststellbarkeit eines Fahrers, der mit dem Fahrzeug eine Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften begangen hat, in der Regel die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage (BayVGH, B.v. 8.3.2013 – 11 CS 13.187 – juris Rn. 22; B.v. 6.5.2010 – 11 ZB 09.2947 – juris Rn. 8; B.v. 6.3.2008 – 11 CS 07.3451 – juris Rn. 24). Das entbindet die Verfolgungsbehörde jedoch nicht davon, zumindest naheliegende und mit wenig Aufwand realisierbare Ermittlungen zur Fahrerfeststellung durchzuführen und zu dokumentieren.

bb) Den Unterlagen der Polizeiinspektion Bayreuth-​Land ist zu entnehmen, dass sie den Ehemann und den Sohn der Klägerin telefonisch kontaktiert und dass der Sohn der Klägerin am 4. April 2014 bei der Polizeiinspektion vorgesprochen hat. Er scheide als Fahrer aus und habe angegeben, diesen nicht zu kennen, wohl aber den mit ihm befreundeten Beifahrer C..., der eventuell Angaben zum Fahrer machen könne. Hier hätte es nahegelegen, den Sohn der Klägerin zu fragen, wem er das Fahrzeug überlassen hat, und die Antwort festzuhalten. Der Aktenvermerk der Polizeiinspektion Bayreuth-​Land vom 8. April 2014 enthält hierzu jedoch ebenso wie das Amtshilfeersuchen vom 9. April 2014 an das Polizeirevier Mittweida keine Angaben. Da die Landesanwaltschaft Bayern mit Schreiben vom 10. Dezember 2015 auf gerichtliche Nachfrage mitgeteilt hat, bei der Polizeiinspektion Bayreuth-​Land seien keine weiteren Dokumente über die Einvernahme vorhanden und die Polizeibeamten könnten sich auch nicht mehr an darüberhinausgehende Einzelheiten erinnern, bleibt unklar, ob diese dem Sohn der Klägerin die sich aufdrängende Frage, wem er das Fahrzeug überlassen hat, überhaupt gestellt oder ob sie lediglich dessen Antwort nicht dokumentiert haben. In beiden Fällen läge jedoch ein Versäumnis naheliegender Ermittlungen vor, das sich die Verfolgungsbehörde zurechnen lassen muss und das Zweifel daran aufkommen lässt, ob die Fahrerfeststellung i.S.v. § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO unmöglich war.

cc) Unabhängig davon steht der Fahrtenbuchauflage jedenfalls entgegen, dass die knapp zwei Wochen vor Eintritt der Verfolgungsverjährung um Amtshilfe ersuchte Polizeidienststelle Mittweida nicht dokumentiert hat, was sie nach Erhalt der Unterlagen am 9. April 2014 unternommen hat, um den Beifahrer des Fahrzeugs zur Person des Fahrers zu befragen. Die Mitteilung vom 29. April 2014 an die Stadt Chemnitz, der Fahrer habe in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht ermittelt werden können, enthält hierzu keine Angaben. Es hätte jedoch vor Eintritt der Verfolgungsverjährung gemäß § 26 Abs. 3 StVG i.V.m. § 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG am 22. April 2014 ausreichend Zeit bestanden, den Beifahrer C... an seiner Nebenwohnung aufzusuchen oder ihn schriftlich aufzufordern, bei der Polizeidienststelle vorzusprechen. Die dann unter Umständen noch vor Verjährungseintritt mögliche erste Vernehmung des Fahrers, die Bekanntgabe, dass gegen ihn das Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, oder die Anordnung dieser Vernehmung oder Bekanntgabe hätte zur Unterbrechung der Verfolgungsverjährung geführt (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG). Entgegen der Auffassung des Beklagten kann mangels Angaben über die durchgeführten Ermittlungen auch nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, aus der Formulierung im Schreiben des Polizeireviers Mittweida vom 29. April 2014, der Fahrer habe in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht ermittelt werden können, ergebe sich eindeutig, dass solche ergebnislos gebliebenen Ermittlungen tatsächlich stattgefunden hätten.

Dem kann der Beklagte auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, das Amtshilfeersuchen an das Polizeirevier Mittweida und die dortigen Bemühungen hinsichtlich einer Befragung des Beifahrers seien als überobligatorische Ermittlungen anzusehen, die der Fahrtenbuchauflage nicht entgegen stünden. Zwar hat der Senat erst jüngst bestätigt, dass die Fahrerfeststellung auch bei fehlgeschlagenen überobligatorischen Ermittlungsmaßnahmen als unmöglich anzusehen ist (BayVGH, B.v. 25.1.2016 – 11 CS 15.2576 – juris Rn. 20). Allerdings ist zumindest der einmalige Versuch, den Beifahrer an seiner Nebenwohnung zu erreichen und zur Identität des Fahrers zu befragen, hier nicht als überobligatorisch anzusehen. Die Polizei Mittweida kannte den Namen und die Adresse des Beifahrers, der Angaben zum Fahrer hätte machen können. Es handelte sich um einen konkreten und vielversprechenden Ermittlungsansatz, dem die Polizei mit vergleichsweise geringem Aufwand hätte nachgehen können. Wäre der Beifahrer an seiner Nebenwohnung nicht angetroffen worden und hätte er auch auf eine Aufforderung zur Vorsprache nicht reagiert, wären weitere Bemühungen allerdings als überobligatorisch anzusehen. Unter den gegebenen Umständen ist jedoch nicht auszuschließen, dass die Fahrerfeststellung auch ohne Mitwirkung der Klägerin mit geringem Aufwand möglich gewesen wäre. Damit wäre aber nicht (nur) deren etwaige Verweigerung der Mitwirkung an der Aufklärung, sondern auch der unterbliebene oder zumindest nicht dokumentierte Versuch der Polizei, den Beifahrer zu befragen, für die Unmöglichkeit der Fahrerfeststellung kausal. Die Voraussetzungen für eine Fahrtenbuchauflage gemäß § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO lagen daher nicht vor.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

3. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


Beschluss
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 2.400,- Euro festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 46.11 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der 2013 aktualisierten Fassung).