Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Beschluss vom 16.02.2017 - 7 L 187/17 - Umrechnung des Punktestandes und Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde

VG Gelsenkirchen v. 16.02.2017: Umrechnung des Punktestandes und Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde


Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Beschluss vom 16.02.2017 - 7 L 187/17) hat entschieden:
Hat ein Fahrerlaubnisinhaber bereits die Stufe 1 nach altem Recht durchlaufen, ist allein durch die Umrechnung die erste Maßnahmestufe gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n.F. nicht erneut zu ergreifen. Lediglich dann, wenn der Kontostand durch eine neue Ordnungswidrigkeit die 4-Punkte-Grenze des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG "von unten" neu überschreitetet, ist eine Ermahnung nach dieser Vorschrift erforderlich. Weist der Kontostand des Betroffenen nach dem 1. Mai 2014 aber zu keinem Zeitpunkt weniger als vier Punkte aus, entsteht keine Pflicht zur erneuten Ermahnung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVG.


Siehe auch Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem und Die Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörde


Gründe:

Der Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage 7 K 647/17 des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 14. Dezember 2016 anzuordnen,
ist gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig, aber unbegründet.

Die im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus.

Gemäß § 4 Abs. 9 des Straßenverkehrsgesetzes in der ab dem 5. Dezember 2014 geltenden Fassung (StVG n.F.) hat eine Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. keine aufschiebende Wirkung. Die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kommt nur dann in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtsmäßigkeit der Ordnungsverfügung bestehen oder wenn aus anderen Gründen ein überwiegendes Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung anzuerkennen ist.

Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verfügung. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist die Kammer zunächst auf die Ausführungen in der angegriffenen Ordnungsverfügung, denen sie folgt (§ 117 Abs. 5 VwGO). In Ergänzung dazu ist Folgendes auszuführen:

Die Bewertung der vom Antragsteller begangenen Ordnungswidrigkeiten nach dem Punktesystem begegnet keinen Bedenken. Die Antragsgegnerin ist bezüglich des Antragstellers im maßgeblichen Zeitpunkt am 10. Oktober 2016 von einem zutreffenden Punktestand von 9 Punkten nach Umrechnung bzw. nach neuem Punktesystem ausgegangen. Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG n.F. ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG n.F. hat die Fahrerlaubnisbehörde für das Ergreifen von Maßnahmen nach Abs. 5 Satz 1 der Vorschrift (hier: Entziehung der Fahrerlaubnis) auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zu Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit, hier die am 10. Oktober 2016 begangene Trunkenheitsfahrt, ergeben hat.

Im Einzelnen ist die Berechnung der Aufstellung auf Blatt 338 der Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin zu entnehmen. Die Kammer hat die Berechnung nachvollzogen und hierbei keinen Fehler festgestellt.

Insbesondere ist das Stufenverfahren nach § 4 Abs. 5 StVG alter und neuer Fassung ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Verwarnung gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 1 StVG a.F. (erste Stufe des alten Fahreignungs-​Bewertungssystems) erfolgte mit Schreiben vom 28. November 2013 bei einem Punktestand von 11 Punkten. Diese wurden im Zeitpunkt der Einführung des neuen Punktesystems am 1. Mai 2014 in fünf Punkte umgerechnet. Entgegen der Auffassung des Antragstellers bedurfte es einer Ermahnung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n.F. (erste Stufe nach dem neuen Fahreignungs-​Bewertungssystem) im Zeitpunkt der Umrechnung nicht. Unerheblich ist, dass sich die Verwarnung noch auf das alte Straßenverkehrsgesetz stützte. Ausweislich der Gesetzesbegründung führt lediglich eine Zuwiderhandlung und das hierauf folgende erstmalige Erreichen einer Maßnahmestufe - nach altem wie nach neuem Recht - zu einer Maßnahme.
BT-​Drs. 17/12636, S. 50. So auch die obergerichtliche Rechtsprechung: OVG NRW, Beschluss vom 7. Mai 2015 - 16 B 205/15 -, juris, Rn. 3; Bay.VGH, Beschluss vom 7. Januar 2015 - 11 CS 14.2653 -, juris, Rn. 9.
Da der Antragsteller bereits die Stufe 1 nach altem Recht durchlaufen hatte, war allein durch die Umrechnung die erste Maßnahmestufe gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n.F. nicht erneut zu ergreifen. Lediglich dann, wenn der Kontostand durch eine neue Ordnungswidrigkeit die 4-​Punkte-​Grenze des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG "von unten" neu überschritten hätte, wäre eine Ermahnung nach dieser Vorschrift erforderlich gewesen. Der Kontostand des Antragstellers wies nach dem 1. Mai 2014 aber zu keinem Zeitpunkt weniger als vier Punkte aus, so dass keine Pflicht zur erneuten Ermahnung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVG entstand.

Durch die Ordnungswidrigkeiten vom 9. August 2014 (2 Punkte), 19. Oktober 2015 (1 Punkt) und 21. April 2016 (1 Punkt) erhöhte sich der Punktestand auf nun eigentlich 9. Da die Verwarnung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n.F. zum Tatzeitpunkt aber noch nicht zugestellt war, verringerte sich der Punktestand nach § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG n.F. auf 7. Der vom Antragsteller geltend gemachte Abzug sämtlicher zwischen Verwarnung nach altem und nach neuem Recht liegender 4 Punkte ist gesetzlich nicht vorgesehen. Mit der Ordnungswidrigkeit nach § 24 a StVG n.F., die mit 2 Punkten bewertet wird, erreichte der Antragsteller 9 Punkte.

Sämtliche Eintragungen, die zu diesen Punkten geführt haben, sind verwertbar. Sie sind nicht tilgungsreif und ihnen liegen bindende rechtskräftige Entscheidungen zu Grunde. Dies gilt insbesondere für sämtliche, bis zum 1. Mai 2014 eingetragene Ordnungswidrigkeiten des Antragstellers. Für deren Tilgung ist gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG n.F. die Tilgungsvorschrift in § 29 StVG a.F. maßgeblich, da die Verstöße nach § 28 Abs. 3 StVG a.F. gespeichert worden sind und auch nach § 28 Abs. 3 StVG n.F. zu speichern wären. Für diese Eintragungen war am maßgeblichen Tag des 10. Oktober 2016 noch keine Tilgungsreife eingetreten. Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StVG a.F. betragen die Tilgungsfristen bei Entscheidungen wegen einer Ordnungswidrigkeit zwei Jahre. Allerdings trat nach § 29 Abs. 6 StVG a.F. Ablaufhemmung ein, so dass nach Satz 4 dieser Vorschrift die Ordnungswidrigkeiten spätestens nach Ablauf von fünf Jahren ab Rechtskraft der beschwerenden Entscheidung (vgl. § 69 Abs. 4 Nr. 3 StVG a.F.) getilgt werden. Die Ordnungswidrigkeiten werden daher mit Ablauf des 13. November 2017 (Ordnungswidrigkeit vom 28. April 2012), 24. April 2018 (Ordnungswidrigkeit vom 9. Februar 2013) und 6. November 2018 (Ordnungswidrigkeit vom 24. September 2013) getilgt.

Die vom Antragsgegner verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis war gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. zwingend. Ein Ermessen steht dem Antragsgegner nicht zu. Eine Differenzierung zwischen den einzelnen Fahrerlaubnisklassen erfolgt nicht, da die mangelnde Kraftfahreignung sich auf alle Klassen erstreckt.

Dass das Interesse des Antragstellers, seine Fahrerlaubnis wenigstens bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nutzen zu können, aus anderen Gründen Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug der Entziehungsverfügung genießt, ist nicht festzustellen. Zwar kann die Fahrerlaubnisentziehung die persönliche Lebensführung und damit die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten des Erlaubnisinhabers gravierend beeinflussen und im Einzelfall bis zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage reichen. Die mit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis verbundenen persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten für den Antragsteller muss er als Betroffener jedoch angesichts des von fahrungeeigneten Verkehrsteilnehmern ausgehenden besonderen Risikos für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz - GG - ableitbaren Auftrags zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben hinnehmen.
So auch: OVG NRW, Beschluss vom 13. Februar 2015 - 16 B 74/15 -, juris, m. w. N. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Gerichtskostengesetz. Der Streitwert eines Klageverfahrens, das die Entziehung einer beruflich genutzten Fahrerlaubnis betrifft, beträgt 10.000,- EUR, wenn die berufliche Nutzung - wie bei einem Berufskraftfahrer der Fall - gerade im Führen eines Kraftfahrzeugs besteht. Dieser ist im Eilverfahren zu halbieren,
St. Rspr.: vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Mai 2009 - 16 E 550/09 -, juris, Rn. 2 f., vom 8. April 2014 - 16 B 207/14 -, juris, Rn. 8 und vom 22. Oktober 2015 - 16 E 415/15.