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OLG München Urteil vom 24.02.2017 - 10 U 4448/16 - Unfall beim Ausscheren aus einer Kolonne zum Überholen

OLG München v. 24.02.2017: Haftungsverteilung bei Unfall durch Ausscheren aus einer Kolonne zum Überholen


Das OLG München (Urteil vom 24.02.2017 - 10 U 4448/16) hat entschieden:
Schert ein Kfz-Führer aus einer Kolonne aus, um sich durch Überholen an deren Spitze zu setzen, und kommt es dabei zu einer Kollision mit einem nachfolgenden - ebenfalls überholwilligen Kfz -, weil der Ausscherende sich nicht genügend sorgfältig über von hinten herannahenden Verkehr vergewissert hat oder jedenfalls willens war, das Überholen noch vor dem von hinten herannahenden Fahrzeug zu beenden, so trifft ihn die Schuld an dem Unfall, wobei sein Haftungsanteil lediglich wegen der von dem von hinten Herannahenden ausgehenden Betriebsgefahr auf 80% vermindert wird.


Siehe auch Überholen einer Kolonne und Stichwörter zum Thema Überholen


Siehe auch den hierzu gehörenden Hinweisbeschluss des OLG München vom 21.12.2016das

Tenor:

  1. Auf die Berufung des Klägers vom 15.01.2016 wird das Endurteil des LG Deggendorf vom 11.10.2016, Az.: 31 O 266/16, abgeändert und wie folgt neugefasst:

    1. Die Beklagten werden verurteilt, samtverbindlich an den Kläger 6.320,96 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 30.06.2016 zu zahlen.

    2. Die Beklagten werden verurteilt, den Kläger samtverbindlich von der Inanspruchnahme durch die Kanzlei Rechtsanwälte P. und W., P., bezüglich vorprozessualer Rechtsanwaltskosten in Höhe von 650,34 € freizustellen.

    3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

    4. Von den Kosten des Rechtsstreits (erster Instanz) tragen der Kläger 1/5 und die Beklagten samtverbindlich 4/5.

  2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

  3. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

  4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

  5. Die Revision wird nicht zugelassen.


Gründe:

A.

Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO). B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg.

I.

Wie vom Senat bereits mit Verfügung vom 21.12.2016 ausgeführt, gilt Folgendes:

1.) Zur Haftungsverteilung:

Ausgehend von den vom Erstgericht in nicht zu beanstandender Weise festgestellten und daher den Senat gem. § 529 I Nr. 1 ZPO bindenden Tatsachen ist weder eine Haftungsverteilung im Verhältnis 60 : 40 zu Lasten der Beklagten (so das Erstgericht) noch eine solche im Verhältnis 100 : 0 zu Lasten der Beklagten (so der Kläger und Berufungskläger) zutreffend, sondern eine solche von 80 : 20 zu Lasten der Beklagten. Denn während der Beklagten zu 1) ein Verschulden an dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall nachgewiesen worden ist, ist dem Kläger kein Verschulden nachgewiesen worden. Allerdings tritt die allgemeine, mit 20% zu bewertende Betriebsgefahr des klägerischen Pkws nicht zurück. Im Einzelnen:

a) Der Beklagten zu 1) ist ein Verschulden am streitgegenständlichen Verkehrsunfall nachgewiesen worden, nämlich ein Verstoß gegen das in § 5 IV 1 StVO normierte Gebot, sich beim Überholen so zu verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob sie gegen dieses Gebot dadurch verstoßen hat, dass sie sich schlicht nicht hinreichend vergewissert hatte, dass sie zum Überholen ausscheren konnte, ohne den nachfolgenden Verkehr zu gefährden, worauf die klägerische Version vom Unfallhergang hindeutet, oder ob es so war, wie sie selbst vorgetragen hat, dass sie nämlich den bereits im Überholvorgang befindlichen klägerischen Pkw erkannt hatte und gleichwohl – unter grober Verkennung der Umstände – nach links ausscherte, um noch vor dem klägerischen Pkw ihrerseits das erste Fahrzeug der Kolonne zu überholen.

b) Entgegen den Ausführungen im Ersturteil ist demgegenüber dem Kläger kein Verschulden nachgewiesen worden. Soweit das Erstgericht ein solches in einem vermeintlichen Verstoß des Klägers gegen das in § 5 III Nr. 1 StVO normierte Verbot, bei unklarer Verkehrslage zu überholen, sieht und dies damit begründet, dass es angesichts der Gesamtumstände (erlaubte 100 km/h, ungehinderte Sicht nach vorne, kein Gegenverkehr, Geschwindigkeit des vordersten Fahrzeugs nur 80 km/h) „überaus nahe“ gelegen habe, dass auch weitere in der Kolonne fahrende Fahrzeugführer zum Überholen ansetzen würden, entspricht dies nicht der ständigen Rechtsprechung, wonach das Überholen einer Kolonne als solches noch keinen Fall des Überholens bei unklarer Verkehrslage darstellt, sondern dass dafür besondere Umstände hinzukommen müssen (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 5 StVO, Rdnr. 34 m.w.N.). Die o.g. vom Erstgericht genannten Umstände stellen keinesfalls solche besonderen Umstände dar. Anders würde es sich beispielsweise verhalten, wenn – wie in dem vom Senat mit Urteil vom 09.04.2010, Az.: 10 U 4406/09, juris, entschiedenen Fall – die zu überholenden Fahrzeuge langsamer werden und nach links blinken oder – wie in dem vom OLG Karlsruhe mit Urteil vom 26.07.2001, Az.: 9 U 195/00, NZV 2001,473, entschiedenen Fall – die Kolonne nur mit ca. 25 km/h fährt und ein Überholen zuvor durch eine durchgezogene gerade Linie auf der Fahrbahnmitte untersagt war.

Ergänzend hierzu ist im Hinblick auf das Vorbringen der Beklagten im Berufungserwiderungsschriftsatz vom 19.01.2017 Folgendes zu bemerken: Widersprüchlich ist die Auffassung der Beklagten, wonach es einerseits das Erstgericht nicht verkannt habe, dass das Überholen einer Kolonne nicht verboten ist, es andererseits für die Beklagten nicht nachvollziehbar sei, weshalb der Senat von seiner Ansicht abrücke, dass jedes Überholen einer Kolonne gegen § 5 III Nr. 1 StVO verstoße. Tatsächlich ist das Überholen einer Kolonne, wie bereits ausgeführt, per se nicht verboten. Soweit die Beklagten demgegenüber das Urteil des Senats vom 09.04.2010, Az.: 10 U 4406/09, juris, im gegenteiligen Sinne verstehen, ist, wie ebenfalls bereits ausgeführt, darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung nicht nur von dem Fall eines Überholens einer Kolonne als solchem geprägt wurde, sondern davon, dass die zu überholenden Fahrzeuge langsamer wurden und zwei Fahrzeuge nach links blinkten. Zutreffend und unmissverständlich heißt es dann auch bei juris im ersten Orientierungssatz zu dieser Entscheidung: „Überholt ein Kraftfahrer eine Fahrzeugkolonne in unklarer Verkehrslage i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO, die sich daraus ergibt, dass zwei Fahrzeuge vor ihm die Geschwindigkeit verringert haben und nach links blinken…“ Entgegen der weiterhin geäußerten Ansicht der Beklagten stellt es per se auch keinen besonderen Umstand dar, welcher den Tatbestand einer unklaren Verkehrslage i.S.d. § 5 III Nr. 1 StVO begründet, wenn die Fahrzeuge innerhalb der zu überholenden Kolonne dicht auffahren. Denn erstens ist darauf hinzuweisen, dass es dem Begriff der Kolonne immanent ist, dass die Fahrzeuge hintereinander dicht aufgeschlossen fahren. Zweitens schützt § 5 III Nr. 1 StVO zwar die zu überholenden Fahrzeuge, den Querverkehr und den nachfolgenden Verkehr, nicht aber auch den Gegenverkehr; letzterer wird vielmehr durch § 5 II StVO geschützt (vgl. auch König, a.a.O. m.w.N.). Drittens ist hier von einem Verstoß des Klägers gegen § 5 III Nr. 1 StVO (bzw. richtig: § 5 II StVO) aber auch aus tatsächlichen Gründen nicht auszugehen: Denn es liegen keine Feststellungen dazu vor, dass der Kläger es nicht hätte übersehen können, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist (bzw. dass er vorzeitig in die Kolonne einscheren muss). Nur am Rande sei angemerkt, dass der Kläger mit einem BMW 745i fuhr, einem gerichtsbekannt mit 245kW motorisierten Pkw, welcher über eine Beschleunigung von 0 km/h auf 100 km/h innerhalb nur 6,3 s verfügt, und dass es um das Überholen einer Kolonne geht, welche sich mit einer Geschwindigkeit von nur ca. 80 km/h bei zulässigen 100 km/h fortbewegt, ggf. nur aus drei Pkws besteht und aufgrund besonders dichten Auffahrens innerhalb der Kolonne eine Gesamtlänge aufweist, welche ggf. nicht wesentlich länger als die eines Lastzuges (bis zu 18,75 m gem. § 32 IV Nr. 4 StVZO) ist.

c) Die mit 20 % zu bewertende allgemeine Betriebsgefahr des klägerischen Pkws tritt nicht zurück. Denn zum einen war der Unfall für den Kläger bereits deswegen nicht unvermeidbar, weil das Überholen der Kolonne zwar nicht unzulässig war, ein Idealfahrer dies jedoch angesichts der mit derartigem Kolonnenspringen verbundenen abstrakten Selbst- und Fremdgefährdung unterlassen hätte. Zum anderen ist das Verschulden der Beklagten zu 1) auch nicht dermaßen überwiegend, dass unter diesem Gesichtspunkt nur eine Haftung im Verhältnis von 100 : 0 angemessen wäre. Dabei kann abermals dahin gestellt bleiben, ob die Beklagte zu 1) schlicht unaufmerksam war oder ob sie aufmerksam war, aber die Umstände grob verkannte. Denn beide Alternativen sind als gleichgewichtig zu bewerten. In jedem Fall stand diesem Fehlverhalten der Beklagten zu 1) das Kolonnenspringen durch den Kläger gegenüber, welches zwar nicht zu einer Erhöhung des Betriebsgefahr des klägerischen Pkws führt, diese aber eben auch nicht zurücktreten lässt.

2.) Zur Anspruchshöhe:

a) Auszugehen ist – entsprechend den insoweit nicht zu beanstandenden Ausführungen im Ersturteil – von einem Gesamtschaden in Höhe von 7.901,20 €. 80 % hiervon sind 6.320,96 €.

b) Hinsichtlich der vorgerichtlichen Anwaltskosten ergibt sich folgende Rechnung: (405,00 € x 1,3 + 20,00 €) x 1,19 = 650,34 €

II.

Die Kostenentscheidungen beruhen jeweils auf § 92 I 1, 100 IV 1 ZPO.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10 S. 1 ZPO, 711, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gemäß § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.