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Verwaltungsgerichtshof München Beschluss vom 31.01.2017 - 11 CS 17.2 - Wer alkoholabhängig ist, ist ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen.

VGH München v. 31.01.2017: Wer alkoholabhängig ist, ist ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen.


Der Verwaltungsgerichtshof München (Beschluss vom 31.01.2017 - 11 CS 17.23 hat entschieden:

Ergibt sich die Diagnose Alkoholabhängigkeit aus einem ärztlichen Attest, ist es für de Verwertung durch die Fahrerlaubnisbehörde unerheblich, dass dieses ärztliche Attest zur Vorlage beim Betreuungsgericht erstellt worden ist, denn die medizinische Diagnose nach ICD-10 hängt nicht davon ab, zu welchem Zweck ein Attest oder ein Gutachten erstellt wird.


Siehe auch Alkoholabhängigkeit und Alkohol und Führerschein im Fahrerlaubnisrecht


Gründe:


I.

Die im Jahr 1956 geborene Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis des Klasse 3 (alt, erteilt im Jahr 1996).

Mit Schreiben vom 10. August 2016 übersandte das Amtsgericht Augsburg dem Landratsamt Augsburg (im Folgenden: Landratsamt) einen Beschluss zur vorläufigen Unterbringung der Antragstellerin in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses. Daraus geht hervor, dass die Antragstellerin gemäß einem aktuellen ärztlichen Zeugnis des Bezirkskrankenhauses A... an einer schizo affektiven Störung (ICD-10: F25.8) sowie an einer Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F10.2) leide.

Am 18. August 2016 legte das Amtsgericht Augsburg dem Landratsamt ein im Unterbringungsverfahren eingeholtes nervenärztliches Gutachten des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie J. S... vom 16. August 2016 vor. Daraus ergibt sich, dass bei der Antragstellerin ein Mischbild einer jahrzehntelang verlaufenden endogenen Psychose mit schizoaffektiver Symptomatik und einer wesentlich mitbestimmenden hirnorganischen Folgesymptomatik eines schwergradigen Alkoholmissbrauchs mit derzeit korsakow-artiger Symptomatik vorliege. Sie sei körperlich massiv vorgealtert und leide unter Suchtfolgeerkrankungen.

Mit Bescheid vom 4. Oktober 2016 entzog das Landratsamt der Antragstellerin die Fahrerlaubnis und ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die Abgabe des Führerscheins innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung des Bescheids sowie die sofortige Vollziehung an. Zur Begründung gab das Landratsamt an, die Fahrerlaubnis sei nach § 11 Abs. 7 FeV i.V.m. Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV zu entziehen. Gemäß dem Beschluss des Amtsgerichts vom 9. August 2016 sei die Antragstellerin alkoholabhängig und damit ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Dieser Befund werde durch das nervenärztliche Gutachten vom 16. August 2016 gestützt. Der Nachweis einer mindestens einjährigen Abstinenz könne nicht erbracht werden. Die Antragstellerin hat den Führerschein am 13. Oktober 2016 beim Landratsamt abgegeben.

Über die gegen den Bescheid vom 4. Oktober 2016 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Augsburg noch nicht entschieden (Az. 7 K 16.1446). Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 16. Dezember 2016 abgelehnt. Die Klage werde voraussichtlich erfolglos bleiben. Das Gutachten vom 16. August 2016 sei zwar für die Frage der Alkoholabhängigkeit wenig ergiebig. Das Landratsamt habe aber im Gerichtsverfahren auch noch das ärztliche Attest des Bezirkskrankenhauses A... vom 26. Juli 2016 vorgelegt, mit dem eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert worden sei. Aufgrund dieser Feststellungen könne ohne vorherige Anordnung eines ärztlichen Gutachtens von der Fahrungeeignetheit der Antragstellerin ausgegangen werden. Den vom Verwaltungsgericht angeforderten Entlassungsbericht des Bezirkskrankenhauses habe die Antragstellerin nicht vorgelegt. Selbst eine von den Erfolgsaussichten unabhängige umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen führe hier zu dem Ergebnis, dass die Teilnahme der Antragstellerin am Straßenverkehr mit sofortiger Wirkung zu unterbinden sei. Auch nach dem eigenen Vortrag der Antragstellerin komme es zu Alkoholproblemen, wenn sie ihre Medikamente nicht ordnungsgemäß einnehme. Darüber hinaus komme es durch den ausgeprägten Alkoholkonsum auch zu weiteren schwerwiegenden gesundheitlichen Gefährdungen.




Dagegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Die Antragstellerin macht geltend, sie habe 40 Jahre unbeanstandet mit einem Kraftfahrzeug am Straßenverkehr teilgenommen, ohne jemals einen Menschen zu gefährden. Seit 27 Jahren leide sie unter einer schizoaffektiven Störung und sei gleichwohl nicht auffällig geworden. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb nunmehr behauptet werde, sie stelle eine Gefährdung im Straßenverkehr dar. Die beiden herangezogenen medizinischen Aussagen seien nicht verwertbar. Herr S... habe die Klägerin nur ca. zehn Minuten untersucht, aber keine körperliche Untersuchung durchgeführt, die es rechtfertigen würde, von einer Alkoholkrankheit zu sprechen. Dem Kurzattest des Dr. G... liege auch keine Untersuchung bezüglich Alkoholabhängigkeit zugrunde.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig wäre. Ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts auf mehrere Gründe gestützt, so muss sich die Beschwerdebegründung mit allen tragenden Gründen auseinandersetzen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 146 Rn. 41). Hat das Verwaltungsgericht aufgrund einer Interessenabwägung entschieden, müssen Zweifel an den Abwägungsüberlegungen ausgeführt werden (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 146 Rn. 22).

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Mai 2016 (BGBl I S. 1217), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2015 (BGBl I S. 1674), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Steht die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, unterbleibt die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens (§ 11 Abs. 7 FeV).

Gemäß Nr. 8.3 der Anlage 4 zu §§ 11, 13, und 14 FeV besteht bei Alkoholabhängigkeit keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen unabhängig davon, ob der Betreffende im Straßenverkehr auffällig geworden ist. Nach dem ärztlichen Attest des Bezirkskrankenhauses A... vom 26. Juli 2016 leidet die Antragstellerin an einer Alkoholabhängigkeit. Dabei ist unerheblich, dass dieses ärztliche Attest zur Vorlage beim Betreuungsgericht erstellt worden ist, denn die medizinische Diagnose nach ICD-10 hängt nicht davon ab, zu welchem Zweck ein Attest oder ein Gutachten erstellt wird. Welche Untersuchungen der Diagnose zu Grunde lagen, lässt sich dem Attest nicht entnehmen. Das Verwaltungsgericht hat die Antragstellerin aber aufgefordert, den Entlassungsbericht des Bezirkskrankenhauses A... vorzulegen, aus dem sich eventuell weitere Erkenntnisse zur Anamnese und Behandlung ergeben könnten. Dies hat die Antragstellerin jedoch ausdrücklich abgelehnt und auch die angekündigte Stellungnahme ihres Hausarztes nicht vorgelegt.

Soweit die Antragstellerin ausführt, das Gutachten des Neurologen J. S... könne nicht verwertet werden, kann dies nicht zum Erfolg ihrer Beschwerde führen. Das Verwaltungsgericht hatte selbst Zweifel daran, ob mit diesem Gutachten eine Alkoholabhängigkeit belegt werden kann, und hat sich deshalb hinsichtlich der Alkoholabhängigkeit nicht auf dieses Gutachten gestützt, sondern die Ausführungen des Gutachters nur ergänzend herangezogen. Im Übrigen wird mit dem Gutachten aber festgestellt, dass sich die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Begutachtung für eine Entzugsbehandlung auf einer Spezialstation für Suchtkranke im Bezirkskrankenhaus befunden hat, erhebliche Komplikationen durch organische Folgeerscheinungen einer Alkoholkrankheit mit Korsakow-Syndrom-Symptomatik, eine Entzugssymptomatik und ein körperlich stark reduzierter Allgemeinzustand vorlagen. Zudem bestehe eine langjährige endogene Psychose, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Kritikfähigkeit sowie einer Affekt- und Antriebsnivellierung geführt habe. Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen diese Aussagen des Gutachtens nicht verwertet werden könnten. Die Feststellungen hinsichtlich eine Korsakow-Syndroms würden im Übrigen auch schon ausreichen, um nach dem Kriterium A 5.3 N Nr. 6 der Beurteilungskriterien (Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung, Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie/Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin, 3. Aufl. 2013, mit Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 27.1.2014 [VkBl 2014, 132] als aktueller Stand der Wissenschaft eingeführt, S. 158) davon auszugehen, dass bei der Antragstellerin psychiatrische Beeinträchtigungen vorliegen, die das ausreichend sichere Führen von Kraftfahrzeugen ausschließen.

Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht unter der Prämisse, dass die Erfolgsaussichten der Klage offen sind, hilfsweise eine ausführliche Interessenabwägung vorgenommen. Dabei hat es zu Lasten der Antragstellerin berücksichtigt, dass sie selbst vorgetragen hat, es komme zu Alkoholproblemen, wenn sie ihre Medikamente nicht ordnungsgemäß einnehme. Weiterhin hat das Erstgericht auch berücksichtigt, dass die Antragstellerin nicht bereit gewesen ist, den Entlassungsbericht des Bezirksklinikums A... vorzulegen und damit nicht davon ausgegangen werden kann, dass von ihr derzeit wegen ordnungsgemäßer Medikamenteneinstellung und -kontrolle keine Gefährdung ausgehe. Die Beschwerdebegründung setzt sich mit diesen Abwägungsüberlegungen nicht auseinander und zeigt nicht auf, aus welchen Gründen die Interessenabwägung anders ausfallen müsste.

Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, Anh. § 164 Rn. 14).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).