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OLG Düsseldorf Urteil vom 12.07.1993 - 1 U 161/92 - Der Anscheinsbeweis gilt auch bei einem Straßenbahnzug

OLG Düsseldorf v. 12.07.1993: Der Anscheinsbeweis gilt auch bei einem Straßenbahnzug


Das OLG Düsseldorf (Urteil vom 12.07.1993 - 1 U 161/92) hat entschieden:
Die Regeln des Anscheinsbeweises für ein Verschulden des auf ein vorausfahrendes Fahrzeug auffahrenden Fahrers gelten auch für den Fahrer eines Straßenbahnzuges; allerdings ist die Anscheinslage bei einem Straßenbahnzug mit Rücksicht auf dessen Schienengebundenheit, den langen Bremsweg und das deshalb bestehende Durchfahrtsrecht nach § 2 III StVO naturgemäß eine ganz andere, als sie es bei einem Kfz ist (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung).


Siehe auch Straßenbahn - Tram - Stadtbahn und Öffentlicher Nahverkehr


Zum Sachverhalt: Der KI. verlangt im Berufungsverfahren 50% seines ihm durch einen Verkehrsunfall entstandenen Fahrzeugschadens gegen die Erstbekl. als Halterin und die Zweitbekl. als Fahrerin des unfallbeteiligten Straßenbahnzuges.

Am 13. 5. 1991 hielt der Straßenbahnzug der Erstbekl. am Beginn einer Straßenbrücke. die über eine größere Eisenbahngleisanlage führt. an der dortigen Haltestelle. Anschließend setzte er seine Fahrt auf der linken Geradeausspur, in der sich die Straßenbahngleise befinden, fort.

Der Kl. überholte die Straßenbahn mit seinem Pkw auf der rechten Geradeausspur und wechselte auf der Brücke nach links in den linken Fahrstreifen, auf welchem auch der Straßenbahnzug fuhr. Der Kl. beabsichtigte, kurz hinter der Brücke nach links in eine Seitenstraße abzubiegen. Infolge Gegenverkehrs mußte er jedoch sein Fahrzeug auf der Gleisspur in Höhe der Seitenstraße anhalten. Der sich von hinten annähernde Straßenbahnzug fuhr auf den Pkw des Kl. auf, wobei die Zweitbekl. die Schnellbremsung des Zuges erst kurz vor der Kollision einleitete.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. blieb ohne Erfolg.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... I. 1. Zwar haftet die Erstbekl. als Betriebsunternehmerin der unfallbeteiligten Straßenbahn grundsätzlich gem. § 1 I HPflG auf Schadensersatz. Auf einen Wegfall der Ersatzpflicht gem. § 1 II HaftpflG kann sie sich nicht berufen. Sie hat nicht nachgewiesen, daß der Unfall, der sich unstreitig innerhalb des Verkehrsraumes einer öffentlichen Straße ereignete, durch ein für sie unabwendbares Ereignis verursacht worden ist.

Da sowohl nach den widersprüchlichen Aussagen der vom LG vernommenen Zeugen als auch nach den Ausführungen des mit der Unfallrekonstruktion beauftragten Sachverständigen S nicht mehr feststellbar ist, in welcher Entfernung das Klägerfahrzeug sich vor der Straßenbahn befand, als der Zweitbekl. als Führerin der Straßenbahn erkennbar werden mußte, daß das Fahrzeug auf ihrem Schienenweg möglicherweise die Durchfahrt verhindern würde, kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß ein äußerst sorgfältiger Straßenbahnführer anstelle der Zweitbekl., die Gefahrensituation früher hätte erkennen können und die Straßenbahn rechtzeitig vor dem Kollisionsort durch Notbremsung zum Stehen hätte bringen können.

2. Eine Haftung der Zweitbekl. besteht hingegen von vornherein nicht, weil ihr unfallursächliches Verschulden als Voraussetzung für die allein in Betracht kommende Haftung gem. § 823 I BGB - wie noch ausgeführt wird - nicht festgestellt werden kann.

3. Demgegenüber haftet auch der Kl. als Halter und Fahrer seines unfallbeteiligten Pkw Seine grundsätzliche Haftung gem. §§ 7 I, 18 I 1 StVG ist nicht mehr im Streit. ...

II. Da der Schaden einerseits durch ein Kfz und andererseits durch eine Straßenbahn verursacht worden ist, findet gem. § 4 HaftpflG, § 17 II StVG eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile statt.

Die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes hängen im Verhältnis der Parteien zueinander gem. § 17 I StVG von den Umständen und insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Dabei richtet sich die Schadensverteilung auch nach dem Grad einer etwaigen Schuld der Beteiligten. Für das Maß der Verursachung ist ausschlaggebend. mit welchem Grad von Wahrscheinlichkeit ein Umstand allgemein geeignet ist, einen solchen Schaden herbeizuführen. Jedoch können im Rahmen dieser Abwägung zu Lasten einer Partei nur solche unfallursächlichen Tatsachen berücksichtigt werden, auf welche diese Partei sich beruft, die unstreitig oder bewiesen sind. Ist das Maß der Verursachung auf der einen Seite so groß, daß demgegenüber die von der anderen Partei zu verantwortende Mitversursachung nicht mehr nennenswert ins Gewicht fällt. so kann der Schaden ganz der einen Partei auferlegt werden. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall zu Lasten des Kl. gegeben.

1. Die Erstbekl. belastet zunächst die außerordentlich erhöhte Betriebsgefahr ihrer Straßenbahn, die wegen der Schienengebundenheit und wegen des bedingt durch das hohe Fahrzeuggewicht sehr langen Bremsweges erheblich höher als diejenige eines Pkw ist.

Hingegen läßt sich ein unfallursächliches Verschulden der Zweitbekl., welches sich die Erstbekl. als haftungserhöhenden Umstand zurechnen lassen müßte, nicht feststellen. Einen Verstoß der Zweitbekl. gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 1 II StVO oder die Pflicht, genügenden Abstand zu wahren (§ 41 StVO), hat der Kl., der insoweit die Beweislast trägt, nicht nachgewiesen.

Allerdings hat der Sachverständige S für den Fall, daß der Kl. mit seinem Pkw relativ dicht, nämlich 5 bis 10 m, vor der Straßenbahn auf deren Fahrspur gewechselt sein sollte, errechnet, daß in einem solchen Fall, unterstellt der Kl. hätte normal vor dem Abbiegevorgang abgebremst, die Zweitbekl. etwa 76 m vor dem Kollisionspunkt eine Reaktionsaufforderung zum Abbremsen erhalten hätte, eine Strecke, die als Anhalteweg ausgereicht hätte. In einem derartigen Fall hätte die Zweitbekl. die Bremsung zu spät eingeleitet, folglich eine schuldhafte Ursache für den Unfall gesetzt.

Da aber der genaue Fahrweg des kl. Pkw. sein Abstand im Zeitpunkt des Hinüberwechselns in den Gleisbereich und sein Abstand im Zeitpunkt des Aufleuchtens seiner Bremsleuchten nicht feststeht, kann auch ein Verschulden der Zweitbekl. nicht festgestellt werden. Diese war nicht verpflichtet, sofort zu bremsen, als der Kl. vor ihr auf den Schienenbereich wechselte. Denn grundsätzlich darf sich der Straßenbahnführer darauf verlassen, daß andere Verkehrsteilnehmer auf seinen Vorrang gem. §§ 2 111, 9 III StVO Rücksicht nehmen (so schon Senat, VersR 1966, 764). Das gilt auch für den Fall, daß der einscherende Pkw - wie hier - links blinkt und die Möglichkeit, daß er durch Gegenverkehr am zügigen Abbiegen gehindert wird, nicht ausgeschlossen ist (vgl. Full/ Möhl/Rüth, StraßenverkehrsR, 1980, § 1 HaftpflG Rdnr. 24). Erst in dem Augenblick, in dem sich die Gefahr einer Kollision aufdrängt und eine rechtzeitige Räumung des Gleisbereiches unwahrscheinlich ist oder sich die Straßenbahn sonst einer unklaren Verkehrssituation nähert, entfällt die Berechtigung des Straßenbahnführers, auf seinen Vorrang zu vertrauen, und er ist zur Einleitung einer Bremsung, notfalls auch einer Schnellbremsung, verpflichtet (vgl. BGH, DAR 1991, 57f.). Daß diese Umstände vorlagen, hat der Kl. jedoch nicht bewiesen. Die vernommenen Zeugen haben zum Abstand des Pkw zur Straßenbahn im Zeitpunkt des abbremsenden Pkw keine Angaben machen können, so daß nicht feststeht, ob die Kollisionsgefahr für die Zweitbekl. so rechtzeitig erkennbar war, daß sie bei sofortiger Bremsung den Unfall hätte vermeiden können. Selbst dann blieben aber noch Zweifel an der Verpflichtung, eine Schnellbremsung mittels Sand durchzuführen, weil dies einerseits zu einer erheblichen Gefährdung der Fahrgäste geführt hätte und der Kl. andererseits durch einfaches Weiterfahren in Geradeausrichtung ... die Kollision ohne weiteres hätte verhindern können, so daß die Zweitbekl. sich zunächst auf ein normales Abbremsen verbunden mit einem Warnsignal, das die Zweitbekl. nach der Aussage des Zeugen S auch gegeben hat, beschränken durfte.

Dem Kl. kommen im Rahmen der zum Nachteil der Zweitbekl. durchzuführenden Verschuldensprüfung auch nicht die Regeln über den Anscheinsbeweis beim Auffahrunfall zugute, wonach die Lebenswahrscheinlichkeit im allgemeinen dafür spricht, daß der Auffahrende entweder zu spät reagiert oder keinen genügenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten oder aufgebaut hat.

Allerdings hält der Senat seine bisherige Rechtsprechung, wonach beim Auffahren einer Straßenbahn auf ein in ihrem Gleisbereich befindliches Kfz die Regeln des Anscheinsbeweises nicht anwendbar sind (vgl. Senat, VersR 1988, 90f. = StVE § 17 StVG Nr. 6; VersR 1976, 499 f.), nicht mehr aufrecht. Auch in diesem Teilbereich des verkehrsrechtlichen Haftpflichtrechtes können - ebenso wie im übrigen Schadensersatzrecht - Erfahrungssätze im Rahmen der Beweiswürdigung angewendet werden. Folglich können auch bei dem Auffahren einer Straßenbahn auf ein fahrendes oder stehendes Kfz, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, nach der allgemeinen Lebenserfahrung Rückschlüsse auf den Ursachenzusammenhang sowie auf das Verschulden des Straßenbahnführers gezogen werden. Ebenso wie bei dem Auffahren eines Kfz auf ein anderes Kfz ist freilich derjenige, der sich auf den Anscheinsbeweis beruft, verpflichtet, die Tatsachen, aus denen sich der typische Geschehensablauf ergibt, in vollem Umfang darzulegen und zu beweisen, wobei sich der Anscheinsbeweis dadurch auszeichnet, daß seine Tatsachengrundlage aus wenigen Einzelheiten besteht. Sie müssen nur ausreichen, uni die Typizität des Geschehensablaufes bejahen zu können (vgl. hierzu Lepa, NZV 1992, 131). Dabei unterscheidet sich allerdings der typische Geschehensablauf beim Auffahrunfall der Straßenbahn wegen der anderen Bedingungen, unter denen dieses Fahrzeug geführt wird, von demjenigen, aus dem beim Auffahren eines Kfz der Anscheinsbeweis hergeleitet wird.

So läßt sich z.B. nach dem Einscheren eines Vordermannes auf dieselbe Fahrspur der von dem Straßenbahnführer einzuhaltende Sicherheitsabstand gem. § 4 I StVO erst nach viel längerer Zeit des Hinterherfahrens aufbauen, als dies einem Pkw-Fahrer möglich ist. Wegen der Schienengebundenheit und geringen Bremsverzögerung der Straßenbahn sind darüber hinaus Rückschlüsse auf ein Verschulden des Straßenbahnführers nur dann möglich, wenn er genügend lange Zeit hatte, sich auf ein für ihn erkennbares Hindernis einzustellen. Inwieweit dann der fehlende Nachweis von Einzelheiten des Geschehensablaufes durch den Rückgriff auf Erfahrungssätze im Wege des Anscheinsbeweises ersetzt werden kann, ist jeweils im Einzelfall zu entscheiden. Jedenfalls rechtfertigen es die bei der Straßenbahn zu beachtenden verkehrstechnischen Sonderheiten nicht, von vornherein den Rückgriff auf Erfahrungssätze mit der Begründung auszuschließen, es gäbe solche typischen Geschensabläufe nicht.

Im Entscheidungsfall hat der Kl. indessen die für einen typischen Geschehensablauf erforderlichen Tatsachen nicht nachgewiesen. Gerade bei einem plötzlichen und nach vorherigem Uberholen vor der Straßenbahn erfolgten Hinüberwechseln eines Pkw in den Gleisbereich spricht kein Erfahrungssatz für ein unfallursächliches Verschulden des Straßenbahnführers. der im Gegenteil zunächst darauf vertrauen darf, daß der Pkw den Gleisbereich, den er in Kenntnis des herannahenden Schienenfahrzeuges benutzt. nicht blockieren wird.

2. Auf der anderen Seite belastet den Kl. die außerordentlich erhöhte Betriebsgefahr seines Pkw, der bei dem Versuch, nach links in eine Seitenstraße abzubiegen, im Schienenbereich einer Straßenbahn angehalten und dort von dieser angestoßen worden ist. Diese Betriebsgefahr wird ferner durch das schuldhaft verkehrswidrige Fahrverhalten des Kl. erhöht. Er hat nämlich unter Verstoß gegen §§ 2 III, 9 V StVO ohne Rücksicht auf die ihm folgende Straßenbahn im Schienenbereich angehalten, weil er seinen Abbiegevorgang infolge des Gegenverkehrs nicht durchführen konnte.

Nach § 2 III StVO hat die Straßenbahn gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern ein Vorrecht, wenn auch kein allgemeines Vorfahrtrecht. Der Straßenbahn, deren Verkehrsanlagen in der Fahrbahn einer öffentlichen Straße liegen, ist - soweit möglich - Platz zu machen und die ungehinderte Durchfahrt zu ermöglichen. Dieses Vorrecht findet seinen Grund in der Eigenschaft der Straßenbahn als eines schienengebundenen, schweren Fahrzeuges, das dem städtischen Massenverkehr dient und an einen Fahrplan gebunden ist.

Zwar ist dem Fahrzeugverkehr die Benutzung des Schienenbereichs nicht generell verboten. Situationen, in denen der Schienenverkehr hinter dem Fahrzeugverkehr zurückstehen muß, sind im Miteinander von Fahrzeug- und Schienenverkehr bei in der Fahrbahn integrierten Schienen unvermeidlich. So muß der Vorrang der Straßenbahn dann zurückstehen, wenn die übrigen Verkehrsteilnehmer ihm nur in unzumutbarer Weise genügen können.

Ein derartiger Ausnahmefall lag hier jedoch nicht vor. Dem Kl., der kurz vor dem Unfall die unfallbeteiligte Straßenbahn rechts überholt hatte, war bewußt. daß er sich bei dem Hinüberwechseln in die linke Fahrspur auf den Schienenweg einer Straßenbahn begab, die ihm in relativ kurzer Entfernung folgt. Der Kl. durfte nicht davon ausgehen, daß ihm ein Linksabbiegen ohne Verzögerung möglich sein würde, denn er mußte im städtischen Straßenverkehr jederzeit mit Gegenverkehr rechnen. Von daher hätte sich ihm die Gefahr einer Behinderung und einer möglichen Kollision mit der nachfolgenden Straßenbahn wegen deren langen Bremsweges aufdrängen müssen. Mit diesem Verhalten wurde der Kl. seiner Sorgfaltspflicht aus § 9 III StVO, wonach er in gleicher Richtung fahrende Fahrzeuge als Abbieger durchfahren lassen mußte. nicht gerecht. Der Kl. hätte auch eine Gefährdung oder Behinderung der Straßenbahn unschwer vermeiden können. Er hätte entweder hinter der Straßenbahn zurückbleiben können, um den Abbiegevorgang ungefährdet hinter ihr durchzuführen, oder aber er hätte, wenn er sich schon vor die Straßenbahn setzte, diese durch Blick in den Rückspiegel im Auge behalten müssen und bei Erkennbarkeit der Annäherung der Straßenbahn an sein Fahrzeug nach vorne wegfahren müssen, was ihm angesichts der Gegebenheiten am Unfallort ohne weiteres möglich gewesen wäre.

3. Eine Abwägung aller Umstände ergibt, daß der Kl. durch sein schwerwiegendes verkehrswidriges Verhalten die entscheidende Ursache für den Unfall gesetzt hat. Dieses Fehlverhalten wiegt so schwer, daß demgegenüber die nicht unbeträchtliche Betriebsgefahr der Straßenbahn, die nicht nachgewiesenermaßen durch ein Verschulden der Straßenbahnführerin erhöht worden ist, zurücktritt. Folglich kommt eine Haftung der Bekl. auf Schadensersatz nicht in Betracht. ..."