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BGH Urteil vom 13.07.71 - VI ZR 2/70 - Zur Kollision eines Linksfahrenden mit einem zum Überholen nach links Ausscherenden auf der Autobahn

BGH v. 13.07.1971: Zur Kollision eines Linksfahrenden mit einem zum Überholen nach links Ausscherenden auf der Autobahn


Zur Gefährlichkeit eines auf der Autobahn einen Lkw mit nicht sehr hoher Geschwindigkeit überholenden Lkw-Fahrers (Elefantenrennen) und der daraus folgenden Haftung für einen Unfall eines schnelleren Dritten sowohl des Pkw-Führers wie auch des Halters des Lkw aus unerlaubter Handlung hat der BGH (Urteil vom 13.07.71 - VI ZR 2/70) ausgeführt:
Der Unfall eines auf der Überholspur der Bundesautobahn (BAB) nachfolgenden Kraftfahrzeugs, das angesichts eines ausscherenden, die gesamte Fahrbahn sperrenden langsameren Fahrzeugs nicht mehr rechtzeitig abgebremst werden kann, geschieht auch dann "beim Betrieb" des ausscherenden Fahrzeugs, wenn schuldhaftes Verhalten des Nachfolgenden die ausweglose Lage mit herbeigeführt hat.


Siehe auch Überholen allgemein und Stichwörter zum Thema Überholen


Zum Sachverhalt: Am 22.6.1966 gegen 20 Uhr befuhr der Kl. in seinem PKW die BAB zunächst mit einer Geschwindigkeit von 140-160 km/st, und als es zu regnen begann, mit 120-140 km/st. Er hatte kein Licht eingeschaltet, da die Sonne noch nicht untergegangen war. Vor dem Kl. fuhr in gleicher Richtung ein von dem Erstbekl. als angestellter Fahrer gesteuerter leichterer LKW des Zweitbekl. und noch weiter vorne ein schwerer LKW, der von dem Zeugen A. gesteuert wurde und eine Geschwindigkeit von 52 km/st einhielt.

Nunmehr überholte der Erstbekl. auf der zweispurigen Fahrbahn den schweren LKW des A. Im Zusammenhang damit prallte der von hinten auf der Überholspur herangekommene Kl. mit seinem Fahrzeug gegen den linken hinteren Zwillingsreifen des schweren LKW; darüber, wieweit in diesem Augenblick der Überholvorgang vorgeschritten war, stritten die Parteien. Der Kl. und sein mitfahrender Verkaufsleiter wurden schwer verletzt, die beiden Fahrzeuge beschädigt.

Mit Zahlungs- und Feststellungsklage machte der Kl. Schadenersatzansprüche gegen beide Bekl. geltend. Nach Abweisung in den Vorinstanzen führte die Revision des Kl. zur Aufhebung und Zurückverweisung.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... I. Das Berufungsgericht führt aus: Da sich die Fahrzeuge der Parteien nicht berührt hätten, obliege dem Kl. der Beweis dafür, dass sich der Erstbekl. verkehrswidrig verhalten und dadurch ihn, den Kl., zu einer unfallursächlichen Fahrweise veranlasst habe. Diesen Beweis habe der Kl. nicht erbracht, vielmehr liege es nach seiner Darstellung sogar nahe, dass sich der Erstbekl. richtig verhalten habe. Es genüge nicht, dass eine schadenursächliche Handlung oder Unterlassung des Erstbekl. nur möglich sei.

Der Erstbekl. habe den schwereren und langsameren LKW dann überholen dürfen, wenn er ihn als Erster erreicht habe, und habe nicht etwa dem schneller fahrenden Kl. den Vortritt zu lassen brauchen. Das Berufungsgericht stellt in diesem Zusammenhang fest, dass sich der LKW der Bekl. mit dem schwereren LKW mindestens schon auf gleicher Höhe befunden habe. Schon dies so meint das Berufungsgericht -stütze hinreichend die Abweisung der Klage.

Nur vorsorglich führt das Berufungsgericht weiter aus, es sei nicht erwiesen, dass der Erstbekl. den Kl. unter Verstoß gegen § 1 StVO (a. F.) zu einer Gefahrenbremsung gezwungen habe. Es lasse sich nämlich nicht ausschließen, dass dem Kl. acht oder sogar mehr Sekunden zur Verfügung gestanden hätten, um seine Geschwindigkeit durch leichte betriebsmäßige Bremsung auf diejenige des überholenden LKW herabzusetzen.

Darauf, ob der Erstbekl. vor dem Ausscheren geblinkt habe, komme es nicht an, da dies weder im Gesetz vorgeschrieben noch bisher von der Rechtsprechung verlangt worden sei. Es komme auch nicht darauf an, ob der Erstbekl. bei der gebotenen Rückschau das Herannahen des Kl. habe bemerken können, da er deshalb seine Überholabsicht nicht habe aufzugeben brauchen. Schließlich komme es nicht darauf an, dass dem Erstbekl. die Fahrerlaubnis entzogen gewesen sei, denn das habe den Unfall nicht verursacht.

II. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Prüfung nicht stand.

1. Das Berufungsurteil geht, obwohl es eingangs den Nachweis eines unabwendbaren Ereignisses gem. § 7 Abs. 2 StVG erwägt, im weiteren auf die Frage nicht ein, ob sich der Unfall des Kl. "beim Betrieb des LKW der Beklagten" zugetragen hat.

Schon der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsurteils, die Haftung aus § 7 StVG sei nicht gegeben, weil der Kl. den ihm obliegenden Beweis einer verkehrswidrigen unfallursächlichen Fahrweise des Erstbekl. nicht erbracht habe, ist verfehlt. Auf diesem Rechtsfehler beruht die Abweisung der Klage.

Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die vom Betrieb des LKW der Bekl. ausgehende Gefahr für Dritte durch den im Gang befindlichen, zwangsläufig etwas langwierigen Überholvorgang erhöht war. Angesichts der auf der BAB zulässigen hohen Geschwindigkeiten wurde durch die damit verbundene zeitweise Sperrung der gesamten Fahrbahn der nachfolgende Verkehr erheblich gefährdet. Auch das Berufungsgericht geht ersichtlich davon aus, dass der eingetretene Unfall letztlich durch diese Versperrung der Überholbahn verursacht wurde. Dass der Kl. dann schliesslich nicht auf das Fahrzeug der Bekl., sondern sei es infolge einer Lenkbewegung, sei es im Zuge eines Schleudervorgangs auf ein anderes, weniger gefährliches Hindernis aufgeprallt ist, ändert an diesem ursächlichen Zusammenhang nichts. Es muss für die Frage, ob sich der Unfall beim Betrieb des Kfz der Bekl. zugetragen hat, ferner außer Betracht bleiben, dass sich der Kl. auch oder überwiegend durch eigenes Verschulden erst in eine ausweglose Lage gebracht haben mag.

Bei solcher Sachlage einen Unfall beim Betrieb des überholenden LKW zu verneinen, entspräche nicht dem Sinn der in § 7 StVG vorgesehenen Gefährdungshaftung: denn die auf seiten des LKW unfallursächliche konkrete Gefahrensituation ist aus einem typisch gefährlichen Betriebsvorgang, dem Überholen eines zweiten LKW auf der Autobahn, erwachsen. Dem wird weder das Berufungsgericht noch das von ihm angeführte Urteil des OLG Stuttgart VersR 64, 78 gerecht, wenn es die Annahme eines betriebsbedingten Unfalls vom Nachweis eines verkehrswidrigen Fahrverhaltens abhängig macht.

Eine Unbilligkeit für Fahrer und Halter des gefährdenden Fahrzeuges ergibt sich bei Bejahung eines betriebsverursachten Unfalls auch dann nicht, wenn das Fehlverhalten des Nachfolgenden die entscheidende Unfallursache bildet.

Abgesehen von der Möglichkeit des mitunter schwer zu führenden Nachweises eines unabwendbaren Ereignisses (§ 7 Abs. 2 StVG) hat in solchen Fällen nämlich jeweils eine Verursachungsabwägung gem. § 17 StVG (evtl. i. Vbdg. m. § 254 BGB) stattzufinden, in deren Rahmen jeder Partei nach feststehender Rechtsprechung nur ein ihr nachgewiesener Verursachungsbeitrag zur Last gelegt werden darf. Dies wird, wenn ein erhebliches Verschulden des Nachfolgenden feststeht und bei dem ersten Überholer nur die vom erlaubten Betrieb ausgehende Gefahr zu berücksichtigen ist, vielfach zur gänzlichen Freistellung des letzteren führen.

2. Das angefochtene Urteil kann aber auch insoweit keinen Bestand haben, als es eine Haftung beider Bekl. aus unerlaubter Handlung (§ 823 bzw. 831 BGB) verneint.

a) Der dritte Zivilsenat des BGH hat ausgesprochen (Urteil vom 24.2.1958 - III ZR 184/56 - LM GG Art. 34 Nr. 42 VersR 58, 320), dass der Halter des Kfz hinsichtlich eines Unfalls, für den der Fahrer aus § 18 StVG hafte, stets nach § 831 BGB haften müsse, sofern er nicht beweise, dass sich der Fahrer verkehrsrichtig (ordnungsgemäß) verhalten habe, welcher Beweis hier als nicht geführt angesehen worden ist. Von dieser Rechtsprechung abzuweichen sieht der erk. Senat jedenfalls für Fälle der vorliegenden Art. in denen unkontrolliertes technisches Versagen nicht in Frage steht, keinen Anlass. Damit ergibt sich nach den bisherigen Feststellungen schon dem Grunde nach eine Haftung des Zweitbeklagten nach Deliktsrecht.

b) Bei Prüfung der Frage, ob den Erstbeklagten ein Verschulden trifft, hätte das Berufungsgericht berücksichtigen müssen, dass schon nach altem Recht das Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers vor dem Ausscheren nicht nur von gewissenhaften Kraftfahrern bei sichtbarem Folgeverkehr auf der Überholspur fast allgemein geübt wurde, sondern auch nach der Rechtsprechung durchaus die Voraussetzung für die Inanspruchnahme eines "Vortrittsrechts" vor einen herannahenden schnelleren Verkehrsteilnehmer bilden konnte (vgl. etwa das Senatsurteil vom 21.2.1961 = VersR 61, 444 (446); Urteil vom 9.6.1964 - VI ZR 80/63 = VersR 64, 848 -VRS 27, 254). Damit hätte das Berufungsgericht in diesem Punkt auf etwa mögliche Feststellungen nicht verzichten dürfen.

III. 1. Nach alledem wird das Berufungsgericht bei der anderweiten Entscheidung davon auszugehen haben, dass beide Bekl. dem Grunde nach für den Schaden des Kl. haften. Ob sich diese Haftung bei dem Erstbekl. auf den Rahmen des StVG beschränkt, wird unter anderem davon abhängen, ob ihm aus den unter 2. näher ausgeführten Gründen die Unterlassung einer nach § 1 StVO a. F. gebotenen Fahrtrichtungsanzeige zur Last fällt. Zweckmäßigerweise wird das Berufungsgericht auch Feststellungen darüber treffen, aus welchem Grund dem Erstbekl. die Fahrerlaubnis entzogen worden war. Sollte sich ergeben, dass dies etwa wegen einer Neigung zur Rücksichtslosigkeit oder Unaufmerksamkeit im Verkehr geschehen ist, dann dürfte dieser Umstand im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung nicht außer Betracht bleiben. Es könnten dann vor allem auch die Grundsätze zu beachten sein, die von der Rechtsprechung allgemein zur Beweislage bei Schutzgesetzverletzungen entwickelt worden sind.

2. Alsdann wird das Berufungsgericht bezüglich des vom Kl. selbst zu verantwortenden Verursachungsbeitrags positive Feststellungen zu treffen und daraufhin gem., § 17 StVG, die dem Tatrichter vorbehaltene Abwägung gegenüber einem etwa erwiesenen Verursachungsbeitrag der Bekl. vorzunehmen haben.

Im Rahmen dieser Abwägung wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass das von ihm in dem angefochtenen Urteil überbewertete "Vortrittsrecht" des Fahrzeugs, das den zu Überholenden zuerst erreicht, gerade im Schnellverkehr auf der BAB häufig hinter der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Verständigung (§ I StVO a. F.) zurückstehen muss. Dies gilt vor allem, wo - wie hier - sich der Schluss auf die Möglichkeit einer erheblich höheren Geschwindigkeit des Nachfolgenden für einen sorgfältigen LKW-Fahrer schon aus den auf Autobahnen allgemein anzutreffenden Verkehrsverhältnissen, möglicherweise aber auch aus der Bauart des von hinten kommenden Fahrzeugs ergab. Die vom Berufungsgericht zunächst geprüfte Frage, welches der Fahrzeuge der Parteien ohne Rücksichtnahme auf das andere den schwereren Lastzug zuerst erreicht haben würde, ist damit für die rechtliche Beurteilung einer derartigen Verkehrslage nicht ausschlaggebend.

Aus dem vom Berufungsgericht für seine Auffassung herangezogenen Senatsurteil vom 21.12.1956 (VI ZR 296/54VRS 12, 174 = VersR 57, 84 = NJW 57, 502) ergibt sich nichts anderes. Das Berufungsgericht hat verkannt, dass dort ein in wesentlichen Punkten anders gelagerter Unfall auf einer Bundesstraße gegeben war, und dass der Senat auch in jenem Urteil bereits auf die typischen Gefahren hingewiesen hat, die der Schnellverkehr auf der Autobahn bei Überholvorgängen mit sich bringt und die hier dem ausscherenden LKW-Fahrer eine erhöhte Pflicht zur Sorgfalt und Rücksichtnahme auferlegen. Das ergibt sich vor allem daraus, dass auf Autobahnen mit wesentlich höheren Geschwindigkeitsunterschieden zu rechnen, eine sichere Einschätzung von Abstand und Geschwindigkeitsunterschied aber naturgemäß oft nicht möglich ist. Im übrigen erkennt das Berufungsgericht im Rahmen seiner Hilfserwägungen selbst, dass nach ständiger Rechtsprechung des BGH (Urteile vom 19.7.1957 - 4 StR 110/57 - VRS 13, 281; vom 21.2.1961 - VI ZR 107/60 = VersR 61, 444 (446); vom 12.7.1965 -111 ZR 44/64 = VersR 65, 1048) der Ausscherende nicht nur eine Notbremsung nachfolgender Fahrzeuge, sondern auch die Nötigung zu jeder raschen und erheblichen Geschwindigkeitsherabsetzung unbedingt vermeiden muss. Dies gilt auch dann, wenn der auf der Überholspur Nachfolgende sich durch eigenes verkehrswidriges Verhalten - etwa zu hohe Geschwindigkeit auf nasser Fahrbahn schuldhaft die Anpassung an das Überholmanöver eines anderen selbst erschwert hat, wobei dieser beeinträchtigende Straßenverhältnisse, soweit sie für ihn erkennbar sind, in Rechnung zu stellen hat. ..."