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Kammergericht Berlin Urteil vom 15.08.2005 - 12 U 41/05 - Unfall zwischen Überholer und Linksabbieger

KG Berlin v. 15.08.2005: Zur Haftung bei einem Unfall zwischen Überholer und Linksabbieger


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 15.08.2005 - 12 U 41/05) hat entschieden:
  1. Kommt es in einem unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug, spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers.

  2. Wegen der besonderen Sorgfaltspflichten des Linksabbiegers haftet dieser im Falle einer Kollision mit einem ordnungsgemäß überholenden Kfz grundsätzlich allein, wobei die Betriebsgefahr des Überholers zurücktritt.

Siehe auch Überholen allgemein und Stichwörter zum Thema Überholen


Aus den Entscheidungsgründen:

"... 1. Schadensersatzansprüche aus §§ 7, 17, 18 StVG, § 3 Nr. 1 und 2 Pflichtversicherungsgesetz, § 823 BGB stehen der Klägerin gegen den Beklagten aus dem Verkehrsunfall, der sich am 7. Oktober 2000 gegen 15.00 Uhr auf der in Berlin gelegenen Kreuzung T./B.straße ereignet hat, nicht zu.

a) Zutreffend ist das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen, dass gegen die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs, die Zeugin v.B., der Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, die beim Linksabbiegen nach § 9 Abs. 1 StVO zu beachtenden Sorgfaltspflichten verletzt zu haben, da sich der Unfall unstreitig im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegevorgang der Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs ereignet hat (vgl. Senat, DAR 2002, 557; Urteil vom 6. Dezember 2004, 12 U 21/04, st. Rspr.). Dem Amtsgericht ist auch darin zu folgen, dass die Klägerin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bewiesen hat, dass sich die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs, wie dies in § 9 Abs. 1 StVO vorgeschrieben ist, äußerst links eingeordnet hat (Urteil Seite 4). Das Berufungsgericht folgt dem Amtsgericht auch darin, dass hinsichtlich der Frage, ob Frau v.B. als Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs vor dem Einbiegen den linken Blinker gesetzt hat, keine Veranlassung besteht, den klägerischen Zeugen T., Gräfin v.B. und B. mehr Glauben zu schenken als den von den Beklagten benannten Zeugen S. und K., die übereinstimmend bekundet haben, die Zeugin v.B. habe das klägerische Fahrzeug plötzlich nach links gelenkt, ohne vorher den Blinker gesetzt zu haben.

b) Nicht gefolgt werden kann dem Amtsgericht jedoch, wenn es bei diesem Ergebnis der Beweisaufnahme zu einer Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Klägerin gelangt. Die rechtlichen Ausführungen des Amtsgerichts auf Seite 5 des angefochtenen Urteils sind mehrdeutig. Einerseits führt das Amtsgericht aus, die Klägerin habe bewiesen, dass der Beklagte zu 2) unter Verstoß gegen § 5 StVO in einer für ihn unklaren Verkehrslage überholt habe. Andererseits meint das Amtsgericht im selben Satz, dies (der Verstoß gegen § 5 StVO) könne nicht als feststehend angesehen werden, was nahe legt, dass das Amtsgericht von einem ungeklärten Unfallhergang ausgegangen ist.

...

Soweit das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil ausführt, die Klägerin habe bewiesen, dass der Beklagte zu 2) unter Verstoß gegen § 5 StVO in einer für ihn unklaren Verkehrslage überholt habe, handelt es sich um eine rechtliche Wertung des festgestellten Sachverhalts, die für das Berufungsgericht nicht bindend ist. Anders wäre der Sachverhalt nur dann zu werten, wenn das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil ausgeführt hätte, aufgrund welcher konkret festgestellten Umstände es von einem Verstoß gegen § 5 StVO ausgeht, etwa weil es ein rechtzeitiges Betätigen des linken Fahrtrichtungsanzeigers als erwiesen ansieht. Derartiges kann dem Urteil indessen nicht entnommen werden. Das Amtsgericht hat nicht ausgeführt, aufgrund welcher konkreten Feststellungen es von einer unklaren Verkehrslage ausgegangen ist.

bb) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats liegt eine unklare Verkehrslage, die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ein Überholen verbietet, dann vor, wenn nach allen Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf (Senat, DAR 2002, 557 f. m. w. N.). Sie ist auch dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden. Dies ist dann der Fall, wenn bei einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird und dies der nachfolgende Verkehrsteilnehmer erkennen konnte und dem überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war (Senat a.a.O.).

Einen solchen Sachverhalt hat das Amtsgericht angesichts der sich widersprechenden Zeugenaussagen gerade nicht festgestellt. Nur der Vollständigkeit halber weist das Gericht daher darauf hin, dass erhebliche Zweifel daran bestehen, ob die Klägerin überhaupt ein rechtzeitiges Betätigen des linken Fahrtrichtungsanzeigers durch die Fahrerin ihres Fahrzeugs dargetan hat. Rechtzeitig ist das Zeichen, wenn sich der Verkehr auf das Abbiegen einstellen kann. Dafür ist weniger die Entfernung zum Abbiegepunkt maßgebend als vielmehr die Zeit zwischen Anzeigebeginn und Abbiegen unter Berücksichtigung der Fahrtgeschwindigkeit (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Auflage § 9 StVO Rdnr. 20 m. w. N.). Bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 30 km/h reichen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 5 Sekunden vor dem Abbiegen aus (BGH VRS 25, 264). Hier hat die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Klägerin nicht konkret vorgetragen, wie lange vor dem Abbiegevorgang die Zeugin v.B. den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat.

cc) Allein der Umstand, dass die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs, wovon das Amtsgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ausgeht, ihre Geschwindigkeit verringert und sich etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet hat, begründet noch keine unklare Verkehrslage, bei der Überholen nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO unzulässig ist (Senat, DAR 2002, 557, 558).

e) Spricht mithin gegen die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs der Beweis des ersten Anscheins, die beim Linksabbiegen erforderliche Sorgfalt nicht beachtet zu haben, während ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 2) nicht festgestellt werden kann, so entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Überholenden hinter dem Verschulden desjenigen, der verkehrswidrig nach links abbiegt, vollständig zurücktritt (Senat, NJW-RR 1987, 1251; DAR 2002, 557; Urteil vom 6. Dezember 2004 - 12 U 21/04). Mithin hat die Klägerin ihren gesamten Schaden selbst zu tragen. ..."