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OLG Jena Beschluss vom 22.06.2004 - 1 Ss 70/03 - Unfallbeteiligter kann nur sein, wer zum Unfallzeitpunkt am Unfallort anwesend ist

OLG Jena v. 22.06.2004: Unfallbeteiligter kann nur sein, wer zum Unfallzeitpunkt am Unfallort anwesend ist


Das OLG Jena (Beschluss vom 22.06.2004 - 1 Ss 70/03) hat entschieden:
  1. Unfallbeteiligter im Sinne des § 142 StGB kann nur sein, wer im Unfallzeitpunkt am Unfallort anwesend ist.

  2. Unfallort ist nur der Bereich, in dem der Unfallbeteiligte seine Pflicht, einem Berechtigten seine Unfallbeteiligung zu offenbaren, erfüllen kann, oder in dem - unabhängig davon - eine feststellungsbereite Person unter den gegebenen Umständen einen Wartepflichtigen vermuten und ggf. durch Befragen ermitteln würde. Dabei ist auf die Vorstellung eines im unmittelbaren Unfallbereich zurückgebliebenen Unfallbeteiligten, anderenfalls auf einen - gedachten - später hinzukommenden Feststellungsberechtigten abzustellen.

Siehe auch Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort und Stichwörter zum Thema unerlaubtes Entfernen vom Unfallort


Zum Sachverhalt: Das AG verurteilte den Angekl. am 7. 11. 2002 wegen einer OWi des Außer-Acht-Lassens der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt mit Schädigung eines anderen zu einer Geldbuße von 35 € und wegen eines Vergehens des unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen ä 7 €.

Das AG hat hierbei folgende Feststellungen getroffen:
„Der Angekl. begab sich am 4. 5. 2001 mit dem Pkw seines Vaters nach Sch. in die G.straße, um bei dem Zeugen R. H. eine Musikanlage und Schallplatten zu holen. Die Gegenstände sollten anschließend in eine Diskothek gebracht werden. Der Angekl. parkte das Fahrzeug am Fahrbahnrand und ca. 20 cm vom Bordstein entfernt. Er holte zunächst einen Teil der Anlage und belud damit das Fahrzeug, um sich anschließend nochmals zum Zeugen H. zu begeben und weitere Gegenstände zu holen, wie Schallplatten und das Mischpult. Als er sich mit den Gegenständen zum Fahrzeug begeben wollte, stand das Fahrzeug nicht mehr an der geparkten Stelle, sondern ca. 50 m weiter bergabwärts. Der Angekl. hatte nicht die nötigen Sicherungsmaßnahmen gegen das Wegrollen des Fahrzeugs getroffen. Es hatte sich aufgrund der Beladung in Bewegung gesetzt und war gegen einen Laternenmast gestoßen. Dieser hatte das Fahrzeug aufgehalten. Auf Grund des Anstoßes wurde der Laternenmast erst um 15 Grad in die Schräge versetzt. Am Fahrzeug des Angekl. hatte sich die Radkappe des rechten Vorderrades in Folge des Anstoßes gelöst. Ein leichter Kratzer war auf der Beifahrerseite erkennbar. Obwohl der Angekl. den Schaden am Lichtmast, nämlich die Schräge um 15 Grad bemerkte, verließ er mit dem Fahrzeug die Unfallstelle, ohne seinen Pflichten zu genügen. Am Lichtmast entstand ein Schaden von € 242,86.”
Hiergegen legte der Angekl. mit beim AG am 14. 11.2002 eingegangenem Telefaxschreiben seines Verteidigers „Rechtsmittel” ein. Das Rechtsmittel hat er nach am 3. 1. 2003 wirksam gewordener Urteilszustellung mit am 3. 2. 2003 beim AG eingegangenem weiteren Telefaxschreiben seines Verteidigers vom selben Tag als Revision bezeichnet und zugleich begründet. Die statthafte Sprungrevision hatte in der Sache teilweise Erfolg.


Aus den Entscheidungsgründen:

Die tatsächlichen Feststellungen des Urteils tragen den Schuldspruch wegen des Vergehens des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gem. § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht. Der objektive Tatbestand dieser Norm ist nicht erfüllt.

Zwar liegt ein Unfall im öffentlichen Straßenverkehr vor, wobei es keine Rolle spielt, dass das unfallverursachende Fahrzeug abgestellt war und sich damit im ruhenden Verkehr befand; auch ist durch den Unfall ein nicht belangloser Schaden herbeigeführt worden. Der Angekl. war jedoch nicht Unfallbeteiligter. Unfallbeteiligter i.S. d. § 142 StGB ist nach der gesetzlichen Begriffsbestimmung in § 142 Abs. 5 StGB jeder, dessen Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann.

Dies setzt nach ganz herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, der sich der Senat anschließt, die Anwesenheit am Unfallort im Zeitpunkt des Unfallereignisses voraus (BGHSt 15, 1, 4; OLG Köln NJW 1989, 1683 f; OLG Stuttgart NStZ 1992, 384 f; OLG Frankfurt NZV 1997, 125 f; BayObLG NZV 2000, 133; S/S/ Cramer/Starnberg-Lieben, StGB, 26. Aufl. § 142 Rdn. 21; SK-Rudolphi, StGB, § 142 Rdn. 16a; Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., § 142 Rdn. 16; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 142 Rdn. 29; Lackner/Kühl, StGB, 24. Aufl., § 142 Rdn. 4; Janiszewski NStZ 1987, 112, 113; a.M. etwa LK-Geppert, StGB, 11. Aufl., § 142 Rdn. 37.

Schon der Wortlaut des § 142 Abs. 1 StGB („nach einem Unfall vom Unfallort entfernt") macht deutlich, dass der Gesetzgeber als Normadressaten nur im Unfallzeitpunkt anwesende mögliche Unfallverursacher betrachtet hat (ebenso Tröndle/Fischer a.a.O.). Auch der Zweck des § 142 Abs. 1 StGB erfordert keine Einbeziehung im Unfallzeitpunkt nicht anwesender Personen. Mit der Statuierung der Warte- und Feststellungsermöglichungspflicht nach Abs. 1 soll den feststellungsberechtigten Personen die vergleichsweise günstige Beweissituation, die unmittelbar im Anschluss an den Unfall am Unfallort gegeben ist, (eine Zeit lang) erhalten werden (siehe nur OLG Stuttgart NStZ 1992, 384). Nicht bezweckt ist die Sicherung einer späteren – in aller Regel zufälligen (siehe OLG Köln NJW 1989, 1683, 1684) – möglichen Verbesserung dieser Beweissituation aufgrund des Hinzukommens potentieller Unfallverursacher. Eine derartige Ausweitung wäre zudem mit der ultima-ratio-Funktion des Strafrechts unvereinbar und würde zu einer schwer erträglichen Ungleichbehandlung des später hinzukommenden möglichen Unfallverursachers gegenüber einem solchen potentiellen Unfallverursacher führen, der zeitnah von dem Unfall erfährt, ihn vielleicht sogar aus der Entfernung beobachtet, jedoch davon absieht, den Unfallort nunmehr aufzusuchen (so schon OLG Köln NJW 1989, 1683, 1684). Letzterer bliebe straflos, während ersterer bei vorzeitigem Sichwiederentfernen zu bestrafen wäre. Schließlich besteht kein nennenswertes Schutzbedürfnis gegenüber dem Sichentfernen von erst später hinzugekommenen Unfallverursachern. In aller Regel handelt es sich um Unfälle unter Beteiligung geparkter Fahrzeuge. Das Fahrzeug und sein Zustand sind bekannt, die mögliche Schadensersatzpflicht ergibt sich meist unproblematisch aus der Halterhaftung, der Halter lässt sich unschwer durch amtliche Auskunft ermitteln. Feststellungen zur Person des Halters oder Fahrers am Unfallort erscheinen somit entbehrlich.

Der Angekl. hat den Unfall zwar mitverursacht, indem er das geparkte Fahrzeug auf der abschüssigen Straße nicht ordnungsgemäß absicherte. Er befand sich im Zeitpunkt des Unfallereignisses aber weder in noch bei dem von ihm zuvor abgestellten Pkw, der sich von seinem ursprünglichen Standpunkt aus 50 m weiterbewegt hatte, bis es zu dem eigentlichen Unfallereignis kam. Vielmehr hielt sich der Angekl. im Unfallzeitpunkt in der Wohnung des Zeugen H. auf. Erst nach Eintritt des Schadensereignisses gelangte der Angekl. zur Unfallstelle („als er sich mit den Gegenständen zum Fahrzeug zurückbegeben wollte, stand das Fahrzeug nicht mehr an der geparkten Stelle, sondern ca. 50 m weiter bergabwärts"). Damit war der Angekl. nicht, wie von § 142 Abs. 1 StGB vorausgesetzt, während des Unfalls am Unfallort anwesend.

Unfallort ist nur der Bereich, in dem der Unfallbeteiligte seine Pflicht, einem Berechtigten seine Unfallbeteiligung zu offenbaren, erfüllen kann, oder in dem – unabhängig davon – eine feststellungsbereite Person unter den gegebenen Umständen einen Wartepflichtigen vermuten und ggf. durch Befragen ermitteln würde (OLG Karlsruhe NStZ 1988, 409, 410; OLG Stuttgart NStZ 1992, 384, 385; strenger etwa Tröndle/Fischer a.a.O. Rdn. 20). Dabei ist auf die Vorstellung eines im unmittelbaren Unfallbereich zurückgebliebenen Unfallbeteiligten, anderenfalls auf einen – gedachten – später hinzukommenden Feststellungsberechtigten abzustellen (OLG Karlsruhe NStZ 1988, 409, 410; OLG Stuttgart NStZ 1992, 384, 385). Wenngleich die Bestimmung des Bereichs des Unfallortes stets maßgeblich von den besonderen Umständen des Einzelfalles abhängt, hat die Rspr. den Radius des Unfallortes im Interesse eines wirksamen Rechtsgüterschutzes bisher allgemein eher eng gezogen (siehe nur OLG Karlsruhe NStZ 1988, 409, 410 mit zahlr. Beispielen; zustimmend etwa Tröndle/Fischer a.a.O. Rdn. 20). Dem ist zuzustimmen. Eine ausdehnende Auslegung des Begriffs Unfallort wäre auch nach Ansicht des Senats in doppelter Hinsicht verfehlt. Zum einen besteht, wie bereits ausgeführt, kein praktisches Bedürfnis dafür, Fälle der vorliegenden Art strafrechtlich zu erfassen. Zum anderen würden sich empfindliche Strafbarkeitslücken ergeben. Eine Ausweitung des mit dem Gesetzesbegriff Unfallort bezeichneten räumlichen Bereichs würde zwar dazu führen, dass sich mögliche Unfallverursacher, die sich im Unfallzeitpunkt in diesem Bereich befinden, nicht entfernen dürften. Umgekehrt wäre aber straflos, wer sich nach dem Unfall von der eigentlichen Unfallstelle in diesen (weiteren) räumlichen Bereich ,absetzt', in der dann sicher häufig berechtigten Erwartung, dort nicht als Unfallbeteiligter erkannt zu werden. Dass der Angekl. sich in der Wohnung eines Freundes aufhielt, war für feststellungsbereite Personen nicht erkennbar und wurde auch tatsächlich von niemandem erkannt. Eine der Zeuginnen sah das Auto den Abhang herunterrollen, bis es schließlich am Laternenmast stehen blieb. Die Zeugin hatte keine Kenntnis, von welchem Standpunkt aus das Fahrzeug sich in Bewegung gesetzt hatte. Weitere Zeugen sahen das Auto lediglich am Mast stehen, ihnen fehlte ebenso das Wissen, woher das Fahrzeug gekommen war. Keiner der am Unfallort Anwesenden und Feststellungsbereiten hatte irgendwelche Anhaltspunkte, wo sich der Fahrer des unfallursächlichen Pkw aufhalten könnte.

Anders hätte sich die Situation dargestellt, wenn beispielsweise ein mit einem Firmenlogo versehenes Fahrzeug in räumlicher Nähe zum Firmensitz oder ein in sonstiger Weise ohne weiteres einem bestimmten Anwohner zuzuordnendes Fahrzeug die abschüssige Straße hinabgerollt wäre. Solchenfalls hätten sich greifbare Anhaltspunkte zur Ermittlung des Fahrzeugführers ergeben. So lag es hier aber gerade nicht. Der Angekl. war räumlich vom Unfallort in der Art abwesend, dass ein Dritter die Unfallbeteiligung des . nicht mehr erkennen und ihn auch nicht ohne weiteres als Unfallbeteiligten ermitteln konnte.

Der Angekl. hat sich auf der Grundlage der vom AG getroffenen tatsächlichen Feststellung mithin nicht wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort in den hier allein in Betracht kommenden Alternativen des § 142 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB strafbar gemacht. Da ausgeschlossen werden kann, dass sich nach einer Zurückverweisung der Sache an das AG weitere Feststellungen treffen lassen, aufgrund derer eine erneute Verurteilung nach § 142 StGB oder wegen einer anderen Straftat in Betracht kommt, hatte der Senat gem. § 354 Abs. 1 StPO in der Sache selbst zu entscheiden und den Angekl. insoweit freizusprechen.