Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Urteil vom 07.10.2002 - 12 U 41/01 - Das Langsamerwerden und Einordnen zur Straßenmitte eines vorausfahrenden Fahrzeugs bilden noch keine unklare Verkehrslage

KG Berlin v. 07.10.2002: Keine unklare Verkehrslage bei Langsamerwerden und Einordnen zur Straßenmitte durch den Vorausfahrenden


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 07.10.2002 - 12 U 41/01) hat entschieden.

Eine unklare Verkehrslage, die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ein Überholen verbietet, liegt vor, wenn nach allen Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf. Sie ist auch dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden. Dies ist dann der Fall, wenn bei einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird und dies der nachfolgende Verkehrsteilnehmer erkennen konnte und dem überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war. Dagegen liegt eine unklare Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt, selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet haben sollte.


Siehe auch Unklare Verkehrslage und Stichwörter zum Thema Überholen


Grüne:

Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache keinen Erfolg.

Zur Frage der Haftung der Beklagten folgt der Senat den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils. Im Hinblick auf das Vorbringen in der Berufung weist er ergänzend auf Folgendes hin:

1. Da sich der Unfall unstreitig im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Versuch des Klägers ereignet hat, nach links in eine Grundstückseinfahrt einzubiegen, um sodann einen Wendevorgang durchzuführen, spricht gegen den Kläger der Anschein, den Unfall dadurch verschuldet zu haben, dass er die besonderen Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5 StVO nicht beachtet hat. Danach hatte der Kläger nicht nur rechtzeitig den linken Fahrtrichtungsanzeiger zu setzen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 StVO), sondern er musste sich rechtzeitig möglichst weit nach links zur Straßenmitte einordnen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 StVO) und vor dem Einordnen einmal und vor dem Abbiegen noch einmal auf den nachfolgenden Verkehr achten (§ 9 Abs. 1 Satz 4 StVO). Darüber hinaus hatte er sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war (§ 9 Abs. 5 StVO). Im Rahmen des § 9 Abs. 1, 5 StVO spricht der Beweis des erste Anscheins gegen den nach links in ein Grundstück abbiegenden Kraftfahrer. Kommt es zwischen ihm und einem überholenden Fahrzeug zum Unfall, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der nach links abbiegende Kraftfahrzeugführer die ihm nach §§ 9 Abs. 1 StVO und insbesondere nach § 9 Abs. 5 StVO obliegende gesteigerte Sorgfaltspflicht verletzt hat (Senat VM 1998, 34 Nr. 43; Urteil vom 13. Januar 1997 - 12 U 7147/95 -​, ständige Rechtsprechung).

Wegen dieser besonderen Sorgfaltspflichten haftet nach ständiger Rechtsprechung beider Verkehrssenate des Kammergerichts derjenige, der verkehrswidrig nach links abbiegt und dabei mit einem ihn ordnungsgemäß überholenden Kraftfahrzeug zusammenstößt, für den entstandenen Schaden grundsätzlich allein, ohne dass den Überholenden die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs angerechnet wird (Senat, NJW-​RR 1987, 1251; KG, Urteil vom 31. Oktober 1994 - 22 U 4618/93-​).

2. Der Kläger hat den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttert oder ausgeräumt. a) Schon nach der eigenen Sachdarstellung des Klägers, die im Übrigen durch das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme bestätigt wird, ist davon auszugehen, dass der Kläger seiner Verpflichtung zur doppelten Rückschau nicht entsprochen hat. Der Kläger trägt auf S. 2 der Berufungsbegründung selbst vor, der Beklagte zu 2. habe mit dem von ihm geführten Fahrzeug zunächst vier in Kolonne fahrende Fahrzeuge überholen müssen, bevor es zur Kollision mit dem klägerischen Fahrzeug gekommen sei. Wäre der Kläger jedoch zügig nach links in die Grundstückseinfahrt eingebogen, so hätte der Beklagte zu 2. auch bei starker Beschleunigung die Entfernung von über 20 m, die nach der Darstellung des Klägers im Zeitpunkt des Abbiegens zwischen den Fahrzeugen bestanden haben muss, nicht überwinden können, bevor der Kläger den Abbiegevorgang beendet hatte. Dies spricht dafür, dass der Beklagte zu 2. zu dem Zeitpunkt, als der Kläger zum Abbiegen in die Grundstückseinfahrt ansetzte, bereits aus der ursprünglichen Fahrspur nach links ausgeschert war, so dass der Kläger, wenn er den rückwärtigen Verkehr sorgfältig beobachtet hätte, ihn hätte wahrnehmen müssen.

Dass der Kläger erst nach links abgebogen ist, als sich der Beklagte zu 2. bereits zum Zweck des Überholens auf der Gegenfahrbahn befand, ergibt sich, worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen hat, auch aus der Aussage des Zeugen M. Dieser hat bekundet, er habe die Heinrich-​Heine-​Straße in entgegengesetzter Richtung wie der Kläger und der Beklagte zu 2. befahren. Er habe ein Fahrzeug (dasjenige des Beklagten zu 2.) gesehen, das ihm relativ stark beschleunigend unter Benutzung der Gegenfahrbahn entgegengekommen sei. Das Fahrzeug des Klägers war dem Zeugen M zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgefallen. Hätte der Kläger zu dieser Zeit bereits zum Linksabbiegen angesetzt, so hätte der Zeuge M. sein Fahrzeug aber sehen müssen. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger erst zu dem Zeitpunkt versucht hat, nach links abzubiegen, als der Beklagte zu 2. bereits zum Abbiegen links ausgeschert war.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Aussagen der Zeugen ... und M M. Beide konnten keine Angaben dazu machen, woher das Fahrzeug des Beklagten zu 2. gekommen war. Keiner der Zeugen hat ausgesagt, er habe vor dem Unfall darauf geachtet, ob sich auf der linken Fahrspur der Gegenfahrbahn vor dem Abbiegevorgang des Klägers von hinten ein Fahrzeug näherte.

Die Aussage des Zeugen Schröder ist nicht geeignet, die Unfalldarstellung des Klägers zu beweisen. Zutreffend weisen die Beklagten darauf hin, dass der Zeuge Schröder bekundet hat, er habe einen Unfall im Gegenverkehr wahrgenommen. Er sei sich ganz sicher, dass der Audi (des Klägers) ihm, dem Zeugen, sowie dem Fahrer des Corsa (dem Beklagten zu 2.) entgegengekommen sei. Dies trifft unstreitig nicht zu. Im Übrigen hat der Zeuge Schröder bekundet, nach seiner Erinnerung würden die beiden Fahrbahnhälften an der fraglichen Stelle durch eine durchgezogene Linie getrennt. Demgegenüber ergibt sich aus dem vom Kläger selbst eingereichten Foto, dass dies nicht zutrifft. Die Wahrnehmungen des Zeugen Schröder sind also in mehrfacher Hinsicht unzutreffend.

b) Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger seiner Verpflichtung nachgekommen wäre, seine Absicht, nach links abzubiegen, rechtzeitig durch Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers anzukündigen. Der Kläger hat schon nicht hinreichend dargetan, wann er den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat. Rechtzeitig ist das Zeichen, wenn sich der Verkehr auf das Abbiegen einstellen kann. Dafür ist weniger die Entfernung zum Abbiegepunkt maßgebend, als vielmehr die Zeit zwischen Anzeigebeginn und Abbiegen unter der Berücksichtigung der Fahrtgeschwindigkeit (Henschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 9 StVO, Rdnr. 20 m.w.N.). Bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 30 km/h reichen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 5 Sekunden vor dem Abbiegen aus (BGH VRS 25, 264). Der Kläger beschränkt sich insoweit jedoch darauf, zu behaupten, er habe den Fahrtrichtungsanzeiger "rechtzeitig" gesetzt (S. 2 der Berufungsbegründung, Bl. 133), ohne näher vorzutragen, in welcher Zeit bzw. Entfernung vor dem Abbiegevorgang er den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt haben will. Im Übrigen folgt der Senat dem Landgericht darin, dass der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zu beweisen vermocht hat, dass er den Fahrtrichtungsanzeiger überhaupt betätigt hat.

3. Ein die Mithaftung der Beklagten begründendes Mitverschulden kann nicht festgestellt werden. a) Da der Kläger nicht bewiesen hat, dass er rechtzeitig vor dem beabsichtigten Linksabbiegen den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat, kann ein Mitverschulden des Beklagten zu 2. an dem Unfall nicht damit begründet werden, dieser habe entgegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO trotz Bestehens einer unklaren Verkehrslage versucht, eine Kolonne zu überholen.

aa) Zunächst ist festzuhalten, dass das Überholen einer Fahrzeugkolonne auch nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 StVO nicht generell verboten ist (Senat VM 1995, 38 = NZV 1995, 359).

bb) Eine unklare Verkehrslage, die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ein Überholen verbietet, liegt vor, wenn nach allen Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf (KG VerkMitt 1990, 91; Henschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 5 StVO Rdnr. 34). Sie ist auch dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden (Senat, NJW-​RR 1987, 1251). Dies ist dann der Fall, wenn bei einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird und dies der nachfolgende Verkehrsteilnehmer erkennen konnte (Senat, NZV 1993, 272) und dem überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war (KG VerkMitt 1990, 91; 1995, 38). Dagegen liegt eine unklare Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt, selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet haben sollte (ständige Rechtsprechung des Senats, NJW-​RR 1987, 1251 ff.; Henschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 5 Rdnr. 35).

Soweit der Kläger geltend macht, der Beklagte zu 2. habe die zum Überholen erforderliche Strecke nicht überschauen können, ist dies angesichts der örtlichen Verhältnisse, die sich aus dem vom Kläger selbst eingereichten Foto vom Unfallort ergeben, nicht nachvollziehbar. Die Heinrich-​Heine-​Straße ist an der fraglichen Stelle über eine Entfernung von mehreren hundert Metern einsehbar. Im Übrigen hätte der Kläger selbst seinen Abbiegevorgang nicht einleiten dürfen, wenn die Gefahr bestanden hätte, dass sich Fahrzeuge im Gegenverkehr näherten.

b) Auch eine unfallursächliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den Beklagten zu 2. hat der Kläger weder hinreichend dargetan noch unter Beweis gestellt. Er hat weder vorgetragen, wie schnell der Beklagte zu 2. konkret gefahren sein soll, noch in welcher Entfernung er sich mit seinem Fahrzeug befunden haben soll, als der Abbiegevorgang des Klägers für ihn erkennbar wurde. Mithin kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 2. bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit die Möglichkeit gehabt hätte, unfallverhütend zu reagieren (vgl. zur erforderlichen Ursächlichkeit Senat, VM 2000, 67 = DAR 2000, 260 = NZV 2000, 377). Im Übrigen hat auch keiner der vom Landgericht vernommenen Zeugen konkrete Angaben zur Geschwindigkeit des Beklagten zu 2. machen können.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da weder die Sache grundsätzliche Bedeutung hat, noch eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO n. F.).

5. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO i. V. mit § 26 Nr. 7 EGZPO.