Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 26.09.1995 - VI ZR 151/94 - Grundsätze und Haftungsverteilung für Kollisionen zwischen wartepflichtigem Rechtseinbieger und vorfahrtberechtigtem Überholer (Sichtbehinderung für beide) BGH v. 26.09.1995: Grundsätze und Haftungsverteilung für Kollisionen zwischen wartepflichtigem Rechtseinbieger und vorfahrtberechtigtem Überholer (Sichtbehinderung für beide)

Der BGH (Urteil vom 26.09.1995 - VI ZR 151/94) hat die Grundsätze zur Haftungsabwägung bei einem Zusammenstoß zwischen einem wartepflichtigen Rechtseinbieger und einem in der Vorfahrtstraße auf der linken Fahrbahnseite überholenden Kfz-Führer wie folgt formuliert:
  1. Das Überholen ist unzulässig, wenn ein Verkehrsteilnehmer, dessen Sicht auf eine Straßenkreuzung durch ein vorausfahrendes Fahrzeug und wegen einer Straßenkrümmung verdeckt ist, den Verkehrsraum vor sich nicht voll übersehen kann. Er darf sich nicht darauf verlassen, daß wartepflichtige Verkehrsteilnehmer, die auf einer untergeordneten Straße herannahen, während des Überholvorgangs nicht in die bevorrechtigte Straße einbiegen.

  2. Ein Wartepflichtiger, der wegen der Straßenführung die auf der Vorfahrtstraße herannahenden Verkehrsteilnehmer nicht sehen kann, muß mit dem Einbiegen in die bevorrechtigte Straße nach rechts solange warten, bis er den Verkehrsraum dort ausreichend übersehen kann. Er kann sich nicht darauf verlassen, daß hinter einem die Sicht verdeckenden Fahrzeug keine Verkehrsteilnehmer zum Überholen ansetzen.

Siehe auch Das Vorfahrtrecht und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Es kann vermutet werden, daß der BGH Schadensteilung für angemessen hält; konkret wird zur Quote nicht Stellung genommen: In erster Instanz hatte das LG Schadensteilung vorgenommen. Gegen diese Quote hatte sich nur der (wartepflichtige) Kläger gewandt, während die (überholenden vorfahrtberechtigten) Beklagten diese Quote nicht angegriffen hatten. Das OLG Frankfurt hatte dann dem wartepflichtigen Kläger 80 % zugesprochen. Hiergegen haben die Beklagten Revision eingelegt und wollten nun plötzlich nur zu 20 % haften. Weil sie aber die 50 % aus dem LG-Urteil niemals angegriffen hatten, war ihre Revision nur wegen der Differenz zwischen 50 und 80 % zulässig und unzulässig, soweit sie eine Quote von unter 50 % verfolgten. Das Berufungsurteil wurde vom BGH aufgehoben, die Sache zurückverwiesen. Die Ausführungen in den Urteilsgründen deuten aber wohl in Richtung Schadensteilung.

"... 1. a) Das Überholverbot ergab sich für den Zweitbekl. freilich, wie das Berufungsgericht zu Recht annimmt, nicht schon aus § 5 Abs. 2 StVO. Hiernach darf nur überholen, wer übersehen kann, daß während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Diese Vorschrift bezweckt lediglich den Schutz des Gegenverkehrs (amtliche Begründung zu § 5 StVO, abgedruckt bei Jagusch / Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 33. Aufl., StVO § 5 Rdnr. 3 und 4; Senatsurteil ... VersR 1977, 524; BGH ... VersR 1975,37). Der Kl. gehörte hier aber noch nicht zum Gegenverkehr, denn bei Beginn des Überholvorganges hatte er gleichfalls erst mit dem Einbiegen in die L 3073 begonnen und sich zur Zeit des Unfalls noch nicht voll in die Längsrichtung der bevorrechtigten Straße eingeordnet (KG VRS 45, 466).

b) Unzulässig war das Überholen für den Zweitbekl. aber deshalb, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, weil die Verkehrslage für ihn unklar war (§ 5 Abs. 3 StVO). Die Unklarheit ergab sich daraus, daß der Bekl. die Strecke von 450 m, die er nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zum Überholen des Busses benötigte, nicht voll überblicken und daher nicht erkennen konnte, was sich in diesem Verkehrsraum ereignete. In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß sich die Unklarheit der Verkehrslage auch aus einer sichtbehindernden Straßenführung ( vgl. OLG Düsseldorf VRS 65, 54; VerkMitt 1966, 44; OLG Koblenz VRS 47, 31; BayObLG VRS 21, 378) sowie daraus ergeben kann, daß ein vorausfahrender Lkw die Sicht auf den Verkehrsraum vor ihm verdeckt (OLG Braunschweig i.V.m. Nichtannahme-Beschluß des Senats ... DAR 1993, 345). Schon deshalb konnte sich der Zweitbekl. hier entgegen der Auffassung der Revision nicht darauf verlassen, daß wartepflichtige Verkehrsteilnehmer, die aus einer untergeordneten Straße kommen, sein Vorfahrtrecht, das sich auf die ganze Breite der Straße erstreckte, beachten und während des Überholvorgangs nicht in die L 3073 einbiegen.

2. Ebensowenig durfte unter den gegebenen Umständen aber auch der Kl. nach rechts in die bevorrechtigte L 3073 einbiegen. Der Wartepflichtige darf zwar - wie der Senat wiederholt entschieden hat (vgl. ... VersR 1994, 492 .. m.w.Nachw.) - auch bei Zugrundelegung der Vorfahrtregeln des § 8 StVO in die bevorrechtigte Straße grundsätzlich ohne weiteres einbiegen, wenn zu diesem Zeitpunkt kein bevorrechtigtes Fahrzeug sichtbar ist. Ein solcher Fall lag hier aber wegen des herannahenden Busses und der durch ihn verdecken Sicht auf den sich möglicherweise hinter ihm bewegenden Verkehr nicht vor. Bei dieser Sachlage war der Kl. vielmehr nach § 8 StVO verpflichtet, mit dem Einfahren in die Vorfahrtstraße solange zu warten, bis er den Verkehrsraum in der L 3073 hinter dem herannahenden Bus ausreichend übersehen und sicher sein konnte, daß möglicherweise hinter dem Bus befindliche Fahrzeuge nicht zum Überholen ausscheren.

... trifft den Wartepflichtigen , der in eine Vorfahrtstraße einbiegen will, ganz allgemein eine gesteigerte Sorgfaltspflicht (BayObLG VerkMitt 1975, 58; OLG Karlsruhe DAR 1977, 248; OLG Frankfurt NZV 1990, 472). Von ihm wird verlangt, daß er mit Mißtrauen an die Vorfahrtstraße heranfährt und im Zweifel wartet (BGHZ (VGS) 14, 232 ...). Diese gesteigerte Sorgfaltspflicht bringt es mit sich, daß er sich auf den Vertrauensgrundsatz nur in eingeschränkter Weise berufen kann (vgl. BGHSt 20, 238; BGH ... VRS 22, 134; BayObLG VerkMitt 1975, 58; 1979, 10). Mit einem verkehrswidrigen Verhalten des Vorfahrtberechtigten - von groben Verkehrsverstößen abgesehen - muß er daher grundsätzlich rechnen. Insbesondere muß er damit rechnen, daß der Vorfahrtberechtigte verkehrswidrig seine linke Straßenseite benutzt und ihm daher von rechts auf der Gegenfahrbahn entgegenkommt (RGZ 167, 357; BGHSt 20, 238; Senatsurteil ... VRS 10, 19; ...).

Allerdings hat der Senat in seinem Urteil vom 15.06.1982 - ... VersR 1982, 903 = NJW 1982, 2668 - ausgeführt, daß ein Wartepflichtiger, der nach rechts in eine Vorfahrtstraße einbiegen will, grundsätzlich davon ausgehen darf, er werde keinen der vorfahrtberechtigten Fahrer in der Weiterfahrt behindern, wenn beim Beginn des Einbiegens sich nicht nur von links keine Fahrzeuge nähern, sondern auch die für ihn rechte Straßenseite frei ist und keine Anzeichen dafür sprechen, daß eines der sich auf der bevorrechtigten Straße von rechts nähernden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechseln werde. Als Anzeichen dieser Art hat der Senat z.B. das Anzeigen der Richtungsänderung, Einordnung zur Fahrbahnmitte, besonders geringe, zum Überholen herausfordernde Geschwindigkeit vorausfahrender Fahrzeuge und dergleichen angesehen. ...

Die Ausführungen in dem vorgenannten Senatsurteil vom 15.06.1982 beziehen sich auf Fälle, in denen der Wartepflichtige die auf der Vorfahrtstraße von rechts herannahenden Fahrzeuge sehen kann. In solchen Fällen muß sich der Wartepflichtige mangels anderweitiger Anzeichen in der Tat darauf verlassen können, daß aus einer von rechts sich nähernden Fahrzeugkolonne nicht ein Fahrzeug plötzlich zum Überholen ausschert.

Anders verhält es sich aber, wenn der Wartepflichtige wegen der Straßenführung die auf der Vorfahrtstraße herannahenden, von einem vorausfahrenden Fahrzeug verdeckten Verkehrsteilnehmer nicht sehen kann. ...

In einem solchen Fall ist für einen Vertrauensschutz des Wartepflichtigen kein Raum. Kann dieser einen verdeckt hinter einem anderen Fahrzeug herannnahenden Verkehrsteilnehmer nicht sehen, so kann er dessen Fahrverhalten nicht abschätzen und es damit nicht zur Grundlage seines eigenen Verhaltens machen. Für ein Vertrauen, es werde hinter dem Bus kein Verkehrsteilnehmer zum Überholen ansetzen, fehlt daher die notwendige Basis."