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BGH Urteil vom 18.12.1991 - IV ZR 204/90 - Kein Versicherungsschutz für Wildschaden bei fahrlässiger Überreaktion des Fahrers

BGH v. 18.12.1991: Kein Versicherungsschutz für Wildschaden bei fahrlässiger Überreaktion des Fahrers


Der BGH (Urteil vom 18.12.1991 - IV ZR 204/90) hat entschieden:
  1. Der Versicherungsschutz nach der Wildschadenklausel des AKB § 12 Abs 1 UAbs 1 Buchst d, wonach die Fahrzeug-Teilversicherung Beschädigungen durch einen Zusammenstoß mit Haarwild umfasst, setzt einen Ursachenzusammenhang zwischen der Berührung mit dem Wild und dem Unfallschaden voraus.

  2. Dieser Ursachenzusammenhang kann auch bestehen, wenn der Zusammenstoß mit dem Wild die adäquate Ursache für ein späteres zum Unfall führendes Verhalten des Fahrzeugführers war. Das Verhalten ist nicht mehr adäquat ursächlich, wenn es eine grob fahrlässige Überreaktion darstellt.

Siehe auch Wildschäden


Zum Sachverhalt: Der Kläger hatte bei dem Beklagten für seinen Pkw Porsche 944 eine Fahrzeug-Teilversicherung mit 300 DM Selbstbehalt abgeschlossen. Am 1. August 1987 geriet er gegen 23.15 Uhr auf der Autobahn zwischen G. und K. mit seinem Pkw ins Schleudern, kam von der Fahrbahn ab und prallte schließlich gegen einen betonierten Kanaldurchlass. Er wurde dabei verletzt und in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort wurde er von der Gendarmerie vernommen, die von einem Aquaplaning-Unfall ausging. Nach dem Protokoll der Gendarmerie hat der Kläger bei seiner Vernehmung angegeben, er sei mit circa 120 km/h auf der regennassen Fahrbahn in Richtung Kärnten gefahren. Als er auf der Seite einen dumpfen Knall gehört habe, von dem er annehme, dass er von einem Hasen herrühre, habe er gebremst. Sein Wagen sei hinten ausgebrochen, habe sich um die eigene Achse gedreht und sei dann über die Böschung gerutscht.

Im vorliegenden Rechtsstreit behauptet der Kläger, seine Geschwindigkeit habe 90 bis 100 km/h betragen. Das habe er auch bei der österreichischen Gendarmerie angegeben. Der Unfall sei auf einen Zusammenprall mit einem Hasen, nicht etwa auf ein Ausweichmanöver zurückzuführen. Er verlangt daher von dem Beklagten den Ersatz der Reparaturkosten von 38.199,32 DM nebst Zinsen abzüglich des Selbstbehalts.

Der Beklagte hat vorgetragen:

Er bestreite, dass ein Zusammenstoß mit Haarwild im Sinne des Bundesjagdgesetzes stattgefunden habe. Bei nasser Fahrbahn und einer Geschwindigkeit des Klägers von 120 km/h liege Aquaplaning als Unfallursache nahe. Unterstelle man aber einen Zusammenstoß mit einem Wildhasen und das Abkommen von der Fahrbahn aufgrund einer Reaktion hierauf, müsse jedenfalls die Kausalität verneint werden. Aufgrund des von dem Landgericht eingeholten Gutachtens des Sachverständigen N. stehe fest, dass durch den Aufprall die Fahrtrichtung des Fahrzeugs nicht geändert worden sei. Deswegen müsse der Unfall auf einer falschen Reaktion beruhen. Scharfes Bremsen sei unangemessen gewesen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat ihr stattgegeben. Mit seiner zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Die Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... 1. Das Berufungsgericht ist aufgrund des von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens davon ausgegangen, dass die am Fahrzeug des Klägers gefundenen Haare von einem Wildhasen stammen und bei dem Unfall an das Fahrzeug geraten sind. Diese Feststellungen enthalten keinen Rechtsfehler. Sie werden auch von der Revision nicht angegriffen.

2. Das Berufungsgericht legt die Wildschadenklausel des § 12 Abs. 1 Nr. I d der Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrzeugversicherung (AKB) dahin aus, dass sie eine Beweisregelung enthalte.

Die Klausel lautet:
Die Fahrzeugversicherung umfasst die Beschädigung ... des Fahrzeugs ... in der Teilversicherung ... durch einen Zusammenstoß des in Bewegung befindlichen Fahrzeugs mit Haarwild ...
Das Berufungsgericht führt aus, die Auslegung dieser Vorschrift dürfe sich nicht ausschließlich auf den Wortlaut stützen, sondern müsse in erster Linie ihre Entstehungsgeschichte und die zugrundeliegenden versicherungswirtschaftlichen Überlegungen berücksichtigen. Der Versicherungsnehmer könne leicht in eine die Effektivität des Versicherungsschutzes in Frage stellende Beweisnot geraten, würde ihm die Wildschadenklausel auferlegen, den Unfallhergang in allen Einzelheiten zu beweisen. Andererseits habe aber auch der Versicherer davor geschützt werden müssen, dass das Haarwild in der Teilkaskoversicherung alsbald die Rolle spielen würde, die Beschuldigte im Strafverfahren häufig dem "großen Unbekannten" zuschieben wollten. Dieses Beweisproblem löse das Kausalitätserfordernis "durch einen Zusammenstoß". Komme es bei der Begegnung zwischen einem Kraftfahrzeug und Wild zu einem Unfall, so spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Begegnung ursächlich für den Unfall gewesen sei, zumal wenn die Begegnung zu einem Zusammenstoß zwischen dem Wild und dem Kraftfahrzeug geführt habe. Weitere Voraussetzungen für die Eintrittspflicht des Versicherers stelle die Wildschadenklausel nicht auf.

3. Diesen Ausführungen kann weder im Ausgangspunkt noch im Ergebnis zugestimmt werden.

a) Nach gefestigter Rechtsprechung des Senats sind Allgemeine Versicherungsbedingungen so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer die Allgemeinen Bedingungen bei verständiger Würdigung verstehen muss (Senatsurteil vom 9. Dezember 1987 - IVa ZR 151/86 - VersR 1988, 282 unter II m.w.N.). Deshalb ist für die Auslegung nicht maßgeblich, was sich der Verfasser der Bedingungen bei der Abfassung vorstellte (Senatsurteil vom 2. Oktober 1985 - IVa ZR 184/83 - VersR 1986, 177, 178). Die Entstehungsgeschichte, die der Versicherungsnehmer typischerweise nicht kennt, hat bei der Auslegung außer Betracht zu bleiben. Versicherungswirtschaftliche Überlegungen können allenfalls insoweit Berücksichtigung finden, wie sie sich aus dem Wortlaut der Bedingungen für den verständigen Versicherungsnehmer unmittelbar erschließen.

b) Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann dem Wortlaut der Wildschadenklausel der AKB entnehmen, dass es zu einer Berührung mit dem Wild gekommen und dies die Ursache für den Unfallschaden sein muss, wenn der Versicherer den Schaden ersetzen soll (ebenso OLG Hamm, NJW-RR 1987, 985; OLG Frankfurt, VVGE § 12 AKB Nr. 8 und VersR 1985, 851; OLG Karlsruhe, VersR 1983, 122; OLG Nürnberg, VersR 1981, 1069 = NJW 1980, 1857; Knappmann in Prölss/Martin, VVG 24. Aufl. § 12 AKB Anm. 5; Stiefel/Hofmann, Kraftfahrtversicherung 14. Aufl. § 12 AKB Rdn. 53). Die Ursächlichkeit zwischen Zusammenstoß und Schaden ist eine Tatbestandsvoraussetzung für den Deckungsschutz. Nach anderer Ansicht (ÖOGH, VersR 1984, 452 und Bruck/Möller/Johannsen, VVG 8. Aufl. Bd. V Anm. J 59) soll eine Berührung mit dem Wild ausreichen, auch wenn sie für den Unfall nicht ursächlich war. Diese Auffassung übersieht, dass der Wortlaut "durch einen Zusammenstoß" für den verständigen Versicherungsnehmer ein klarer Hinweis darauf ist, dass der Unfall nicht durch ein anderes Ereignis als den Zusammenstoß verursacht sein darf (etwa durch das Bemühen, den Zusammenstoß zu vermeiden - vgl. zum Ersatz von Rettungskosten aber Senatsurteil BGHZ 113, 359).

4. Für den Eintritt des Versicherungsfalls ist der Versicherungsnehmer grundsätzlich beweisbelastet. Das gilt auch beim Wildschaden. Freilich kann der Versicherungsnehmer den Beweis etwa für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Zusammenstoß mit dem Wild und dem Unfall auch im Wege des Anscheinsbeweises führen (vgl. Knappmann, aa0).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes greift der Beweis des ersten Anscheins aber nur bei typischen Geschehensabläufen ein, d.h. in Fällen, in denen ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist (BGHZ 100, 31, 33 m.w.N.).

Der vom Berufungsgericht festgestellte Sachverhalt, dass das Fahrzeug des Klägers einen Hasen berührt und einen Unfall erlitten hat, reicht für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs aber schon deshalb nicht aus, weil der Zusammenstoß eines Porsche-Pkw mit einem Hasen bei einer vom Kläger behaupteten Geschwindigkeit von 90 bis 100 km/h nach der Lebenserfahrung im allgemeinen nicht zu einem Unfall führt. Es handelt sich nicht um einen typischen Geschehensablauf. Auch das Berufungsgericht hat ausgeführt, durch das Gutachten des Sachverständigen N. sei die jedem Laien ohnehin einleuchtende Feststellung erhärtet, dass der von der Berührung des Wildhasen mit dem Fahrzeug des Klägers ausgehende Stoß nicht ausreichte, um dessen Fahrtrichtung zu ändern.

5. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Zusammenstoß mit dem Hasen und dem Unfall kann aber auch dann vorliegen, wenn der Kläger - wie er behauptet und nach dem Unfall bei seiner Vernehmung durch die österreichische Gendarmerie angegeben hat - einen dumpfen Knall gehört und wegen des vermuteten Aufpralls eines Hasen gebremst hat, worauf das Fahrzeug hinten ausbrach.

Das Tatbestandsmerkmal der Wildschadenklausel "durch einen Zusammenstoß" ist auch dann erfüllt, wenn der Zusammenstoß mit dem Wild die adäquate Ursache für ein späteres zum Unfall führendes Verhalten des Fahrzeugführers war (OLG Frankfurt, VVGE § 12 AKB Nr. 8; OLG Hamm, NJW-RR 1987, 985; OLG Karlsruhe, VersR 1983, 122). Der Zusammenstoß mit dem Wild ist auch ursächlich, wenn ein weiteres Glied in der Ursachenkette hinzutritt.

Anders ist der Fall nur zu beurteilen, wenn das Verhalten des Fahrzeugführers so überzogen ist, dass es die Grenze zur groben Fahrlässigkeit überschritten hat. Dann hätte der Fahrzeugführer mit der grob fahrlässigen Überreaktion den Versicherungsfall herbeigeführt, § 61 VVG, ein Umstand, für den der Versicherer beweisbelastet ist (vgl. die bei Prölss/Martin, aaO, § 61 Anm. 6 angeführte Rechtsprechung).

6. Da das Berufungsgericht über den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Zusammenstoß mit dem Hasen und dem Unfall keine konkreten Feststellungen getroffen hat, muss die Sache aufgehoben und an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen werden. Bei dem weiteren Verfahren wird es den Vortrag des Beklagten zu berücksichtigen haben, als Unfallursache läge Aquaplaning nahe, das Fahrzeug des Klägers könne den Hasen auch erst erfasst haben, nachdem es ins Schleudern geraten sei. Zur Beweiswürdigung über die Behauptungen des Klägers, der für das Unfallgeschehen wohl keine Zeugen hat, weist der Senat auf die Möglichkeit der ergänzenden Anhörung nach § 141 ZPO hin (Senatsurteil vom 24. April 1991 - IV ZR 172/90 - VersR 1991, 917). ..."