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Amtsgericht Lüdinghausen Urteil vom 18.01.2016 - 19 OWi - 89 Js 2283/15 - 214/15 - Berufsbedingtes Absehen vom Fahrverbot

AG Lüdinghausen v. 18.01.2016: Kein berufsbedingtes Absehen vom Fahrverbot bei gutem Familieneinkommen ohne Existenzgefährdung




Das Amtsgericht Lüdinghausen (Urteil vom 18.01.2016 - 19 OWi - 89 Js 2283/15 - 214/15) hat entschieden:

1. Die Abstandsmessung mit dem Verkehrskontrollsystems des Herstellers VIDIT VKS 3.0, Softwareversion 3.2 3D, sog. „Select-​System“ ist ein so genanntes standardisiertes Messverfahren. Aus dem Charakter als standardisiertes Messverfahren folgt, dass der Tatrichter grundsätzlich neben dem angewendeten Messverfahren VKS nur die gemessene Geschwindigkeit nebst Toleranzabzug sowie den ermittelten vorwerfbaren Abstandswert feststellen muss. Ausführungen zur Beachtung der Verfahrensbestimmungen muss der Tatrichter im Urteil erst dann machen, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese nicht eingehalten worden sind oder Messfehler von dem Betroffenen oder einem anderen Verfahrensbeteiligten behauptet werden.

2. Kein Absehen vom Fahrverbot bei einer Betroffenen mit zwei ausgeübten Berufen bei einem Familiennettoeinkommen von rund 5000 Euro, wenn weder Existenzgefährdung und noch Arbeitsplatzverlust konkret drohen.


Siehe auch
Die Video-Messanlage VIDIT VKS
und
Standardisierte Messverfahren

Gründe:

Die Betroffene ist verheiratet und kinderlos. Zu ihren wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen hat sie auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts angegeben, dass diese gesichert seien und zwar so, dass es weder zu einer Herabsetzung des im Bußgeldbescheid verhängten Bußgeldes, noch zu einer Ratenzahlung allein auf Grund der wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen kommen muss.

Ausweislich des Verkehrszentralregisterauszuges ist die Betroffene wie folgt vorbelastet:

Am 19.02.2015 (Rechtskraft:11.03.2015)setzte der Kreis Unna gegen d. Betroffene wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes vom 28.11.2014 eine Geldbuße von 80 Euro fest.

Am 29.05.2015 um 17:29 Uhr befuhr die Betroffene mit einem Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ... die Bundesautobahn 1 in Ascheberg in Fahrtrichtung Dortmund. Im Bereich Kilometer 302, 370 betrug ihr Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 102 km/h allenfalls 14 Meter. Bei Beobachtung der erforderlichen und ihr auch zumutbaren Sorgfalt hätte die Betroffene anhand der Länge der Fahrtstrecke mit ähnlich geringem Abstand auch schon vor Eintritt in den Messbereich der Autobahnpolizei am Tatort erkennen können und müssen, dass sie den erforderlichen Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug erheblich unterschritt.




Die vorstehenden Feststellungen beruhen auf der nach Maßgabe des Hauptverhandlungsprotokolls durchgeführten Beweisaufnahme.

Die Betroffene hat eingeräumt, Fahrerin zur Tatzeit gewesen zu sein. Auch den Verstoß hat sie eingeräumt. Es ging ihr bei ihrer Verteidigung nur um das Fahrverbot.

Die Abstandsmessung selbst ist auch ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Abstandsmessung wurde durch den Polizeibeamten A mittels des Verkehrskontrollsystems des Herstellers VIDIT VKS 3.0, Softwareversion 3.2 3D, sog. „Select-​System“ durchgeführt. Die Abstandsmessung mit dem Verfahren VKS ist ein so genanntes standardisiertes Messverfahren im Sinne von BGHSt 39, 291 = NJW 1993, 3081 (vgl. bereits OLG Dresden, VRR 2005, 315 zur alten Technik des VKS 3.0). Unter diesem Begriff ist ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren zu verstehen, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (BGH NJW 1998, 321). Das System ermöglicht es, aus einer Videoaufzeichnung Geschwindigkeiten von Fahrzeugen und deren Abstände zu vorausfahrenden Fahrzeugen zu bestimmen. Das Tatvideo wird mit Hilfe eines Computerprogramms ausgewertet. Die Abstands- und Geschwindigkeitsmessungen werden im Tatvideo mit einer Messlinie durchgeführt, bei welcher es sich um eine in das Videobild gerechnete, quer zur Fahrbahn gelegte Linie handelt. Aus dem Charakter als standardisiertes Messverfahren folgt, dass der Tatrichter grundsätzlich neben dem angewendeten Messverfahren VKS nur die gemessene Geschwindigkeit nebst Toleranzabzug sowie den ermittelten vorwerfbaren Abstandswert feststellen muss. Ausführungen zur Beachtung der Verfahrensbestimmungen muss der Tatrichter im Urteil erst dann machen, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese nicht eingehalten worden sind oder Messfehler von dem Betroffenen oder einem anderen Verfahrensbeteiligten behauptet werden (vgl. BGH NJW 1993, 3081, 3082; BayObLG NJW 2003, 1752).

Generelle Sicherheitsabschläge von dem festgestellten Abstandswert sind bei Anwendung des Messverfahrens VKS 3.0/ 3.2 3D nicht veranlasst. Der vom System vorgenommene Toleranzabzug von der gemessenen Geschwindigkeit, die Zugrundelegung des jeweils für den Betroffenen günstigsten Wertes der Messlinie und der so ermittelten Abstände sowie die Außerachtlassung der Fahrzeugüberhänge sind ausreichend, um alle möglichen Betriebsfehlerquellen auszugleichen (vgl. zu alledem: OLG Dresden, VRR 2005, 315).




Hier konnte nach Inaugenscheinnahme des Videos des Vorfalls und der aus dem Video gefertigten Prints (auf denen die vorbezeichneten eingespiegelten Linien sichtbar waren) nachfolgende Werte ermittelt werden.

- ermittelte Geschwindigkeit: 106 km/h
- vorwerfbare Geschwindigkeit: 102 km/h
- vorwerfbarer Abstand: 14 Meter

Ausweislich des urkundsbeweislich verlesenen Eichscheins des Eichamtes Düsseldorf vom 07.10.2014 ist das System am 06.10.14 gültig bis zum 31.12.2015 geeicht worden. Der ordnungsgemäße Einsatz des Gerätes nach den Herstellerangaben konnte durch den Zeugen A bekundet werden. Er hat bestätigt, das ebenfalls urkundsbeweislich verlesene Einsatzprotokoll vom Tattage gefertigt und unterschrieben zu haben. Der Zeuge ist dem Gericht schon seit Jahren als zuverlässiger Polizeibeamter bekannt. Er ist eigens für das VKS, Version 3.2 3D der Firma VIDIT ausgebildet worden.

Auf der auf dem in Augenschein genommenen Videofilm erkennbaren Strecke der Autobahn 1 von insgesamt ca. 500 Metern ist das vorausfahrende Fahrzeug nicht vor dem Fahrzeug der Betroffenen eingeschert. Vielmehr war klar zu erkennen, dass der Betroffene mit gleichbleibender Geschwindigkeit und gleichbleibenden Abstand die gesamte durch die Kamera einsehbare Strecke der Autobahn 1 hinter dem vor ihm fahrenden Fahrzeug geblieben ist. Eine Verlangsamung des vor ihm fahrenden Fahrzeuges erfolgte nicht.

Die Betroffene hat danach vorwerfbar zumindest fahrlässig eine Ordnungswidrigkeit des Verstoßes gegen die Einhaltung des erforderlichen Sicherheitsabstandes gem. §§ 4 Abs 1, 49 StVO, 24 StVG begangen. Die Bußgeldkatalogverordnung sieht hierfür eine Regelgeldbuße von 160 € vor, welche aufgrund der Voreintragung auf 185 Euro zu erhöhen war.

Die durchgehende Videoaufzeichnung findet ihre Ermächtigungsgrundlage in § 100 h Abs. 1 Nr. 1 StPO - es handelte sich nämlich dabei um eine zulässige Observationsmaßnahme. Soweit das Select-​System mittels digitaler Videotechnik nur Fahreraufnahmen/ Fahrzeugfrontkurzaufnahmen nach vorheriger Feststellung eines Unterschreitens des erforderlichen Sicherheitsabstands fertigt, ist zumindest § 100h StPO Ermächtigungsgrundlage hierfür (OLG Hamm NJW-​Spezial 2010, 107). Die Heranziehung des § 100h StPO als Ermächtigungsgrundlage für derartige Messungen ist verfassungsrechtlich unbedenklich, vgl. BVerfG, 2 BvR 1447/10 vom 12.8.2010.



Desweiteren war ein Regelfahrverbot von einem Monat festzusetzen, da der in Rede stehende Verstoß eine grobe Pflichtverletzung im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG darstellte. Der Verstoß, der festgestellt werden konnte indizierte durch seine Aufnahme in den Bußgeldkatalog das Vorliegen einer solchen Pflichtverletzung, vgl. BKat.-​Nr. 12.6.3.

Das Gericht konnte keine Gründe erkennen, aufgrund derer eine grobe Pflichtverletzung verneint werden könnte. Insbesondere scheiden ein Augenblicksversagen oder fehlende abstrakte Gefährdung als fahrverbotsfeindliche Gesichtspunkte aus.

Die Betroffene hat berufliche Härten durch das drohende Fahrverbot geltend gemacht.

Sie hat jedoch trotz ausdrücklicher Nachfrage des Gerichts zu keinem Zeitpunkt eine Kündigung als Arbeitnehmerin oder eine Existenzgefährdung als selbstständige Betroffene behauptet.

Sie hat vielmehr ausgeführt, dass sie verheiratet sei mit einem Ehemann, der als Maler und Lackierer monatlich 1700 EUR netto zur Verfügung habe. Sie selbst habe zwei Arbeitstätigkeiten. Etwas über 1000 EUR netto verdiene sie mit einer Angestelltentätigkeit in Hamm als Suchttherapeutin in einer Nachsorgeeinrichtung. Sie müsse dort zwischen verschiedenen Wohngruppen hin und her fahren und dort ihrer Therapeutentätigkeit nachkommen. Weiterhin verdiene sie 2000-​2500 EUR netto monatlich als selbstständige Mitarbeiterin eines ambulanten Jugendhilfeträgers mit Sitz in Beckum, Neubeckum und Lippstadt. Sie sei als SPFH („sozialpädagogische Familienhilfe“) tätig. Hierbei müsse sie sechs Familien ambulant betreuen und aufsuchen. Oft müsse sie auch Kinder begleiten. Sie habe dementsprechend einen engen Terminkalender. Urlaubsansprüchen habe sie bei ihrer Arbeitgeber in Hamm i.H.v. 24 Tagen pro Jahr. Hinsichtlich ihrer Tätigkeit bei dem ambulanten Jugendhilfeträger B e.V. mache sie keinen Urlaub, da sie dann auf Einkommen verzichten müsse als selbstständig tätige Person.




Die Betroffene konnte keinerlei Unterlagen zur Glaubhaftmachung vorlegen. Das Gericht hatte jedoch vor der Verhandlung in Internetrecherchen feststellen können, dass die Betroffene tatsächlich in dem von ihr geschriebenen Berufsfeld tätig ist. Das Gericht glaubt insoweit die Angaben der Betroffenen. Das Gericht geht davon aus, dass die Betroffene für ihre berufliche Tätigkeit insbesondere angesichts der auseinanderfallenden Einsatzorte und verschiedener Arbeitgeber zwangsläufig mobil sein muss. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie ihrer Berufstätigkeit während eines abzuleisten Fahrverbotes nicht nachkommen kann. Dabei ist zunächst festzustellen, dass die Betroffene glaubhaft angegeben hat, ohnehin nicht in Urlaub zu fahren, so dass sie ihre 24 Tage Urlaub bei ihrem Arbeitgeber in Hamm gänzlich für das Fahrverbot einsetzen kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Betroffene die Möglichkeit hat, von der vier-​Monate-​Abgabefrist nach § 25 Abs. 2a StVG Gebrauch zu machen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Familie der Betroffenen ein monatliches Familieneinkommen von im Schnitt wohl etwa 5000 EUR netto aufweist. Unter diesen wirtschaftlichen Bedingungen ist es durchaus möglich und vor allem auch zumutbar, für die Dauer des Fahrverbotes einen Fahrer anzustellen oder auf Taxifahrer zurückzugreifen. Gegebenenfalls kann auch ein Kredit aufgenommen werden und in kleinen Raten zurückgezahlt werden. Letztlich ist es aber so, dass die Betroffene nur berufliche Schwierigkeiten geltend macht, jedoch keinen Arbeitsplatzverlust oder gar eine Existenzgefährdung. Hinsichtlich ihrer Nebentätigkeit hat sie nur Verdiensteinbußen für die Dauer des Monats geltend gemacht. Dass sie in Zukunft nicht mehr als sozialpädagogische Familienhilfe tätig sein könnte infolge eines Fahrverbots hat sie nicht geltend gemacht. Dementsprechend konnte auch von der Fahrverbotsanordnung nicht abgesehen werden.

Unter diesen Umständen kam auch ein Absehen vom Fahrverbot gegen Heraufsetzung der Geldbuße (§ 4 Abs. 4 BKatV) nicht in Frage, zumal eine Voreintragung vorlag, die vergleichbar mit der Tat ist. Diese Tat etwa sechs Monate vor der hier in Rede stehenden begangen und erst etwa zweieinhalb Monate zuvor rechtskräftig geahndet worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 465 Abs. 1 StPO, 46 Abs. 1 OWiG.

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