Das Verkehrslexikon

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OLG Karlsruhe Urteil vom 24.06.2015 - 9 U 18/14 - Nichtigkeit von Verkehrszeichen und "anderer Straßenteil"

OLG Karlsruhe v. 24.06.2015: Einfahren von einem "anderen Straßenteil" und Nichtigkeit von Verkehrszeichen




Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 24.06.2015 - 9 U 18/14) hat entschieden:

1.  Die Anordnung durch ein Verkehrszeichen 250 ("Verbot für Fahrzeuge aller Art") kann ausnahmsweise nichtig sein, wenn die Anordnung - für jeden Verkehrsteilnehmer erkennbar - unsinnig ist. (Hier: Die Beschilderung erlaubt die Einfahrt in eine Sackgasse, verbietet aber die Ausfahrt aus der Sackgasse.)

2.  Ob ein "anderer Straßenteil" im Sinne von § 10 Satz 1 StVO vorliegt - mit besonderen Pflichten für den Einfahrenden -, richtet sich nach dem äußeren Gesamteindruck der örtlichen Verhältnisse; der Umstand, dass eine Straße wegen einer Baustelle zeitweise nur für Anlieger freigegeben ist, macht - für sich allein - diese Straße noch nicht zu einem "anderen Straßenteil".


Siehe auch
Nichtigkeit von Verkehrszeichen
und
Einfahren von einem "anderen Straßenteil"

Gründe:


I.

Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall vom 11.06.2013 geltend. Die Klägerin war Eigentümerin eines am Unfall beteiligten Pkw BMW. Der Beklagte Ziffer 1 war Fahrer des unfallbeteiligten Pkw VW Multivan. Die Beklagte Ziffer 2 ist die für das Fahrzeug des Beklagten Ziffer 1 zuständige Haftpflichtversicherung.

Die Klägerin befuhr am 11.06.2013 gegen 13:15 Uhr die L 200 aus Richtung A. kommend in Richtung Ü.. Sie kam von ihrer Wohnung, die in A. an der L 200 liegt. An der Kreuzung mit der B. Straße, einem Gemeindeverbindungsweg, kam es zur Kollision mit dem vom Beklagten Ziffer 1 geführten Fahrzeug. Der Beklagte Ziffer 1 kam - aus der Sicht der Klägerin - von links aus Richtung F.. Unmittelbar vor der Kreuzung befindet sich für Fahrzeuge aus der B. Straße ein Stopp-​Schild (Zeichen 206). An diesem Verkehrszeichen hatte der Beklagte Ziffer 1 zunächst angehalten. Er hatte das - für ihn von rechts kommende - Fahrzeug der Klägerin gesehen und wollte diesem Fahrzeug den Vorrang gewähren. Er fuhr jedoch bereits in die Kreuzung hinein, als das Fahrzeug der Klägerin den Kreuzungsbereich noch nicht verlassen hatte. Es kam zu einer Kollision, bei welcher das Fahrzeug des Beklagten Ziffer 1 mit der linken vorderen Ecke im hinteren linken Bereich gegen das Fahrzeug der Klägerin stieß. Beide Pkws wurden beschädigt.




Zum Zeitpunkt des Unfalls gab es auf der L 200 im Ortsbereich von A. eine Baustelle. Im unmittelbaren Bereich dieser Baustelle war die L 200 voll gesperrt, weil der Baustellenbereich für Fahrzeuge nicht passierbar war. An der Kreuzung zwischen der L 200 und der B. Straße, an welcher sich der Unfall ereignete, gab es für Fahrzeuge, welche die L 200 in Richtung A. befahren wollten - also in Gegenrichtung zur Fahrtrichtung der Klägerin -, ein Verkehrszeichen „Verbot für Fahrzeuge aller Art“ (Zeichen 250) mit einem Zusatzschild „Anlieger bis Baustelle frei“. Außerdem war an der Kreuzung die Fahrbahn in Richtung A. die Fahrbahn durch eine Absperrschranke (Zeichen 600) halbseitig gesperrt. In Fahrtrichtung der Klägerin befanden sich auf der L 200 an mehreren Stellen zwischen A. und der Unfallkreuzung Verkehrszeichen 250, die nicht mit einem Zusatz „Anlieger frei“ versehen waren. Wegen der weiteren Einzelheiten der Örtlichkeit wird auf die beigezogene Bußgeldakte - Amtsgericht Überlingen 3 OWi 52 Js 22592/13 -, insbesondere auf die bei den Akten befindlichen Lichtbilder und die dortigen Feststellungen der Bußgeldbehörde verwiesen.

Die Klägerin hat erstinstanzlich Schadensersatz und Schmerzensgeld von den Beklagten verlangt. Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten. Aus verschiedenen Gründen sei die Klägerin für den Unfall allein verantwortlich. Außerdem haben die Beklagten vorsorglich Einwendungen zur Höhe der geltend gemachten Forderungen erhoben.

Das Landgericht hat mit Urteil vom 14.01.2014 die Klage abgewiesen. Der Unfall sei allein auf einen Verstoß der Klägerin gegen § 10 StVO zurück zu führen. Die Klägerin sei von einem „anderen Straßenteil“ im Sinne dieser Vorschrift auf die Fahrbahn eingefahren und sei daher verpflichtet gewesen, dem Fahrzeug des Beklagten Ziffer 1 den Vorrang zu gewähren.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie hält an ihrem erstinstanzlichen Vorbringen fest. Die Voraussetzungen für eine Anwendung von § 10 StVO seien - entgegen der Auffassung des Landgerichts - aus tatsächlichen Gründen nicht gegeben. Die Klägerin sei vorfahrtsberechtigt gewesen. Da dem Beklagten Ziffer 1 ein schwerer Verkehrsverstoß - Vorfahrtsverletzung - zur Last falle, seien die Beklagten für die Schäden der Klägerin in vollem Umfang verantwortlich.

Die Klägerin ist wegen des Schmerzensgeldes von einem erstinstanzlichen Feststellungsantrag zu einem unbezifferten Zahlungsantrag übergegangen. Sie stellt sich ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von 1.500,00 € vor. Durch den Unfall habe sie für sechs Wochen unter Wirbelsäulenbeschwerden gelitten. Sie sei wegen der Beschwerden in diesem Zeitraum krankgeschrieben gewesen. Im Übrigen verweist die Klägerin wegen der Unfallfolgen auf die ärztlichen Atteste, Anlagen K 8 und K 9.

Die Klägerin beantragt,

   das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 14.01.2014 - 4 O 155/13 D - abzuändern und

  1.  die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 10.346,02 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit 12.07.2013 zu bezahlen,

  2.  die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Schmerzensgeldbetrag zu bezahlen,

  3.  die Klägerin von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ihres Prozessbevollmächtigten in Höhe von 775,64 € frei zu stellen.




Die Beklagten beantragen,

   die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen das Urteil des Landgerichts und ergänzen und vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen. Die von der Klägerin im Berufungsverfahren geltend gemachte unfallbedingte Gesundheitsverschlechterung für sechs Wochen haben die Beklagten unstreitig gestellt.




Im Übrigen wird auf die beiderseitigen Schriftsätze Bezug genommen.

Die Bußgeldakte des Amtsgerichts Überlingen (3 OWi 52 Js 22592/13) und die Bußgeldakte des Landratsamts Bodenseekreis (505.15028196.7) waren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten verwiesen.

Der Senat hat ein mündliches Gutachten des Sachverständigen C. zur Schadenshöhe und zur Dauer einer möglichen Reparatur des klägerischen Fahrzeugs eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll vom 21.05.2015 verwiesen. Außerdem hat der Senat die Klägerin und den Beklagten Ziffer 1 informatorisch angehört.




II.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist überwiegend begründet. Die Beklagten sind in vollem Umfang für den Schaden der Klägerin aus dem Unfall vom 11.06.2013 verantwortlich. Die geltend gemachten Beträge sind allerdings in gewissem Umfang zu kürzen.

1. Die Haftung der Beklagten beruht auf §§ 18 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 Ziffer 1 VVG. Der Beklagte Ziffer 1 war Fahrer des unfallbeteiligten Fahrzeugs. Die Zahlungspflicht der Beklagten Ziffer 2 ergibt sich aus ihrer Stellung als Haftpflichtversicherer. Die gesamtschuldnerische Haftung beruht auf § 840 Abs. 1 BGB.

Wenn - wie im vorliegenden Fall - ein Verkehrsunfall durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht wird, sind die beiderseitigen Verursachungsbeiträge abzuwägen (§§ 17 Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG). Diese Abwägung führt dazu, dass die Beklagten den Schaden der Klägerin zu 100 Prozent zu ersetzen haben.

a) Der Beklagte hat den Unfall durch einen erheblichen schuldhaften Verkehrsverstoß verursacht.



aa) Der Beklagte Ziffer 1 hätte an der Unfallkreuzung dem Fahrzeug der Klägerin wegen des für ihn geltenden Stopp-​Schildes (Zeichen 206) den Vorrang gewähren müssen. Dadurch, dass der Beklagte Ziffer 1 dieses Verkehrszeichen missachtet hat, wurde die Kollision im Kreuzungsbereich verursacht. Der Beklagte Ziffer 1 hat den schuldhaften Verkehrsverstoß bei seiner Anhörung im Senatstermin selbst eingeräumt.

bb) Die Rechtsauffassung des Landgerichts, wonach die Klägerin dem Beklagten Ziffer 1 den Vorrang hätte gewähren müssen, weil sie aus einem „anderen Straßenteil“ im Sinne von § 10 StVO in die Fahrbahn eingefahren sei, ist unzutreffend. Die Klägerin fuhr auf einer dem fließenden Verkehr dienenden normalen Straße. Der Umstand, dass die von der Klägerin befahrene L 200 zum Unfallzeitpunkt nur für Anlieger frei gegeben war, führt nicht zu einer Anwendung der Regelung über das „Einfahren und Anfahren“ in § 10 StVO.

Ein „anderer Straßenteil“, von dem ein Fahrzeug ein- oder anfährt, ist dadurch gekennzeichnet, dass dieser Straßenteil - ähnlich einer Fußgängerzone oder einer Einfahrt, die über einen abgesenkten Bordstein erreicht wird - nicht dem fließenden Durchgangsverkehr dient (vgl. Burmann in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Auflage 2012, § 10 StVO, RdNr. 4 mit Rechtsprechungsnachweisen). Diese Voraussetzung lag bei der L 200 zum Unfallzeitpunkt nicht vor. Die von der Klägerin befahrene Straße diente weiterhin dem Durchgangsverkehr vom Wohnort der Klägerin in A. in Richtung Ü.. Der Umstand, dass ein Teil der Straße - nämlich zwischen der Unfallkreuzung und der Baustelle im Ort A. - nur für Anlieger frei gegeben war, ist nicht erheblich. Auch eine Beschränkung des Verkehrs auf Anlieger ändert nichts am Charakter einer dem Durchgangsverkehr dienenden Straße (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 21.04.2010 - 3 U 218/09 -, RdNr. 33, zitiert nach Juris).

Die Tatsache, dass sich im weiteren Verlauf der L 200 - aus Sicht der Unfallkreuzung - eine Baustelle mit einer Vollsperrung im Bereich dieser Baustelle befand, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn diese Baustelle, die von der Unfallkreuzung mehr als ein Kilometer entfernt und von dort aus nicht zu sehen war, hatte für den Charakter der Straße an der streitgegenständlichen Kreuzung keine Bedeutung. Soweit die Rechtsprechung bei Baustellen in bestimmten Fällen einen „anderen Straßenteil“ im Sinne von § 10 StVO angenommen hat, handelt es sich um Fälle, in denen - anders als vorliegend - ein Fahrzeug von einem nicht für den Verkehr freigegebenen Baustellenbereich in eine Straße eingefahren ist (vgl. beispielsweise OLG Frankfurt, NZV 1994, 280).

Entscheidend für die Abgrenzung zwischen einer „normalen Straße“ und einem „anderen Straßenteil“ im Sinne von § 10 StVO ist der Gesamteindruck, wie er sich auf Grund der äußeren, für jeden erkennbaren Merkmale darstellt (vgl. Burmann a.a.O.; OLG Stuttgart a.a.O.; OLG Rostock, VRS 112, 335). Anhand der in der Bußgeldakte vorhandenen polizeilichen Lichtbilder von der Unfallkreuzung konnte sich der Senat überzeugen, dass es keine Merkmale zum Unfallzeitpunkt gab, die für den Beklagten Ziffer 1 den Eindruck erwecken konnten, die Klägerin komme von einem „anderen Straßenteil“. Fahrbahnbelag und -beschaffenheit der von der Klägerin befahrenen L 200 entsprachen einer normalen Straße und waren nicht etwa durch einen abgesenkten Bordstein oder bestimmte Markierungen von der Straße, die der Beklagte Ziffer 1 befuhr, abgetrennt. Aus der nur halbseitig aufgestellten Absperrschranke (Zeichen 600) und der Beschilderung „Anlieger bis Baustelle frei“ ergab sich für jeden Verkehrsteilnehmer - auch für den Beklagten Ziffer 1 -, dass jederzeit auf der L 200 mit Durchgangsverkehr zu rechnen war. Von besonderer Bedeutung ist das für den Beklagten Ziffer 1 geltende Stopp-​Schild, das diesem deutlich machte, dass er in eine normale Kreuzung einfuhr, wo er den Vorrang des fließenden Verkehrs auf der kreuzenden Straße zu beachten hatte. Der Umstand, dass der Beklagte Ziffer 1 nach eigenen Angaben an sich durchaus die Absicht hatte, dem Fahrzeug der Klägerin den Vorrang zu gewähren, macht deutlich, dass er selbst - anders als das Landgericht - nicht auf die Idee gekommen ist, die Klägerin würde sich der Kreuzung aus einem „anderen Straßenteil“ im Sinne von § 10 StVO nähern. Das Verhalten des Beklagten Ziffer 1 zeigt, dass der Charakter der kreuzenden Straße für Verkehrsteilnehmer zum Unfallzeitpunkt auch nicht etwa missverständlich war (vgl. zu den rechtlichen Konsequenzen bei einem „täuschenden Gesamtbild“ König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage 2013, § 10 StVO, RdNr. 6).

b) Dem schuldhaften Verkehrsverstoß des Beklagten Ziffer 1 steht ein - nachgewiesener - Verkehrsverstoß der Klägerin, der bei der Abwägung der Haftungsquoten zu berücksichtigen wäre, nicht gegenüber.

aa) Die Klägerin war vorfahrtsberechtigt. Ob aus der Richtung der Klägerin irgendwo vor der Unfallkreuzung das Verkehrszeichen „Vorfahrtsstraße“ (Zeichen 306) stand (vgl. zur Bezeichnung der L 200 als „Vorfahrtsstraße“ den polizeilichen Vermerk in der OWi-​Akte AS 5), kann dahinstehen. Sollte ein solches Verkehrszeichen aus der Richtung der Klägerin nicht an einer für die Kreuzung relevanten Stelle gestanden haben, wäre § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO anwendbar. Für die Klägerin galt jedenfalls die Regelung rechts vor links, da sie - unstreitig - aus der Sicht des Beklagten Ziffer 1 von rechts kam.

bb) Die Klägerin hat - entgegen der Auffassung der Beklagten - vor dem Unfall nicht gegen Zeichen 250 („Verbot für Fahrzeuge aller Art“) verstoßen. Zwar hat die Klägerin mit ihrem Fahrzeug auf der Fahrt von ihrer Wohnung zur Unfallkreuzung an drei Stellen ein Zeichen 250 passiert, bei welchem - anders als bei dem für die Gegenrichtung aufgestellten Zeichen 250 - kein Zusatz „Anlieger frei“ angebracht war. Dass sich solche Verkehrszeichen auf der Fahrtstrecke der Klägerin vor der Kreuzung befanden, ergibt sich aus den polizeilichen Feststellungen in der OWi-​Akte und ist unstreitig. Ein schuldhafter Verkehrsverstoß lässt sich für die Klägerin daraus jedoch nicht herleiten. Denn die in der Fahrtrichtung der Klägerin aufgestellten Verbotsschilder, die keinen „Anlieger frei“-​Zusatz enthielten, waren nichtig.

aaa) Ein Verkehrszeichen ist ausnahmsweise nichtig, wenn es bei verständiger Würdigung nicht mehr als amtliche, allgemein verbindliche Verkehrsregelung erscheint (vgl. VG Bremen, Urteil vom 12.12.2013 - 5 K 181/11 -, zitiert nach Juris). Ein schwerwiegender Fehler führt bei einem Verkehrszeichen zur Nichtigkeit, wenn dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Die Ungültigkeit muss für Jedermann derart augenscheinlich sein, dass das Verkehrszeichen gleichsam den „Stempel“ der Nichtigkeit auf der Stirn trägt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 27.05.2014 - 5 RBs 13/14 -, RdNr. 36, zitiert nach Juris). Entscheidend ist, dass auf Grund bestimmter objektiver Umstände von niemandem erwartet werden kann, den mit dem Verkehrszeichen verbundenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen (vgl. OLG Hamm a.a.O.).

Ein solcher Fall war am 11.06.2013 bei den in Fahrtrichtung der Klägerin vor der Unfallkreuzung aufgestellten Zeichen 250 gegeben. Die L 200 war am Unfalltag durch die Baustelle in A. ab der Kreuzung mit der B. Straße zur Sackgasse geworden. Fahrzeuge konnten zum Unfallzeitpunkt ab der Kreuzung nur noch bis zur Baustelle in A. fahren, jedoch dort wegen der Vollsperrung die Fahrt nicht mehr fortsetzen. Dabei war die Einfahrt in die „Sackgasse“ sämtlichen Anliegern ausdrücklich gestattet, was sich aus dem an der Kreuzung mit der B. Straße aufgestellten Zeichen 250 mit Zusatzschild „Anlieger bis Baustelle frei“ ergab. Die in der Gegenrichtung aufgestellten Zeichen 250 - ohne Zusatzschild „Anlieger frei“ - bedeuteten der Sache nach, dass Anlieger in die durch die Baustelle geschaffene „Sackgasse“ beliebig einfahren durften, aber, wenn sie die in der Gegenrichtung aufgestellten Schilder „Zeichen 250“ beachtet hätten, in der Sackgasse sozusagen gefangen gewesen wären, und nicht mehr hätten ausfahren dürfen.

Eine solche Konsequenz der Beschilderung - von der ausweislich der Dokumentation in der OWi-​Akte offenbar auch der den Unfall aufnehmende Polizeibeamte ausging -, ist erkennbar unsinnig. Für jeden Verkehrsteilnehmer war erkennbar, dass die Konsequenz der Beschilderung - zulässiges Einfahren für Anlieger, aber unzulässige Ausfahrt aus der „Sackgasse“ - von der Verwaltungsbehörde nicht gewollt sein konnte, sondern dass die Beschilderung, bei welcher für die Ausfahrt aus der „Sackgasse“ das Zusatzschild „Anlieger frei“ fehlte, nur auf einem Versehen der Verwaltungsbehörde beruhen konnte. Entscheidend für die Nichtigkeit der aus Fahrtrichtung der Klägerin aufgestellten Verbotsschilder ist der Umstand, dass eine „Gefangennahme“ von Anliegern in der „Sackgasse“ aus der Sicht der Verkehrsteilnehmer unter keinen Umständen dem tatsächlichen Willen der Verkehrsbehörde entsprechen konnte.

bbb) Die Klägerin war zum Unfallzeitpunkt „Anlieger“ im Sinne des in der Gegenrichtung aufgestellten Zusatzschildes. Dies ergibt sich aus den Feststellungen der Bußgeldbehörde zur Örtlichkeit der Baustelle in A. zum Unfallzeitpunkt. Die Wohnung der Klägerin befand sich an der L 200 südlich der damaligen Vollsperrung, so dass die Klägerin den Ortsbereich nur in Richtung der Kreuzung mit der B. Straße verlassen konnte. Sie war mithin auch dann berechtigt, den betreffenden Straßenabschnitt vor der Kreuzung zu befahren, wenn man unterstellt, dass die Beschränkung des Fahrzeugverkehrs für Anlieger auch für die Fahrtrichtung der Klägerin gelten sollte.

cc) Andere Verkehrsverstöße, welche der Klägerin zur Last fallen, liegen nicht vor bzw. sind zumindest nicht nachgewiesen.

aaa) Es ist im Berufungsverfahren unstreitig, dass die Klägerin aus der Sicht des Beklagten Ziffer 1 von rechts kam. Die Beklagten haben den erstinstanzlichen Sachvortrag (I 33), wonach die Klägerin dem Fahrzeug des Beklagten Ziffer 1 nach dem Grundsatz „rechts vor links“ den Vorrang hätte gewähren müssen, nicht aufrechterhalten.

bbb) Die Beklagten haben eine Annäherungsgeschwindigkeit der Klägerin an die Unfallstelle von „ca. 50 km/h“ (I 33) behauptet. Ein Verkehrsverstoß lässt sich aus einer solchen Geschwindigkeit nicht ableiten. Weder war an der Unfallstelle eine geringere Geschwindigkeit vorgeschrieben, noch ergab sich aus den Umständen der Unfallstelle (vgl. die Lichtbilder in der OWi-​Akte, AS 39 ff.) die Notwendigkeit einer geringeren Geschwindigkeit gemäß § 3 Abs. 1 StVO. Es kommt daher auch nicht darauf an, dass der Beklagte Ziffer 1 bei seiner Anhörung im Senatstermin - entgegen dem schriftsätzlichen Sachvortrag des Beklagtenvertreters im Zivilprozess - angegeben hat, es sei zu einer Kollision im Kreuzungsbereich gekommen, weil er nicht damit gerechnet habe, dass die Klägerin ihren Pkw verzögert habe.

ccc) Eine möglicherweise verspätete Reaktion der Klägerin ist von den Beklagten nicht behauptet und aus den Umständen des Unfallablaufs auch nicht ersichtlich.




ddd) Es gab keinen Anlass für eine besondere Vorsicht der Klägerin bei der Annäherung an die Kreuzung. Für den Beklagten Ziffer 1 gab es - entgegen der Behauptung der Beklagten - keine Sichtbehinderung. Dies kann der Senat aus den vorliegenden Lichtbildern (OWi-​Akte, AS 39 ff.) beurteilen. Der Beklagte Ziffer 1 hat bei seiner Anhörung im Senatstermin zudem bestätigt, dass er das Fahrzeug der Klägerin vorher gesehen hat.

c) Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge gemäß §§ 17 Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG führt dazu, dass der Verursachungsbeitrag der Klägerin gegenüber dem schuldhaften Verkehrsverstoß des Beklagten Ziffer 1 gänzlich zurücktritt. Der Verkehrsverstoß des Beklagten Ziffer 1 (Missachtung des Zeichens 206) wiegt schwer. Der Klägerin fällt ein nachgewiesener schuldhafter Verkehrsverstoß nicht zur Last (siehe oben). In derartigen Fällen tritt die einfache Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs gegenüber dem Verkehrsverstoß des Beklagten Ziffer 1 grundsätzlich vollständig zurück.

2. Der Klägerin steht ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 8.625,65 € zu. Der Anspruch ergibt sich aus folgender Abrechnung:

   [folgt eine für die laufende Wiedergabe im Smartphone zu breite Abbildung, die durch Anklicken in einem neuen Tab geöffnet wird]

a) Der Klägerin steht wegen der Beschädigung ihres Fahrzeugs ein Betrag in Höhe von 7.589,63 € zu.

...(wird ausgeführt)

b) Der Klägerin steht hingegen der geltend gemachte Nutzungsausfall in Höhe von 1.180,00 € nicht zu. Sie hat im Senatstermin eingeräumt, dass sie nach dem Unfall für einen Zeitraum von mehreren Wochen wegen ihrer Schmerzen nicht in der Lage war, Auto zu fahren. Durch die Beschädigung des Fahrzeugs sind ihr mithin keine Nutzungsvorteile - bis zum Kauf des neuen Fahrzeugs - entgangen. Ein ersatzfähiger Schadensposten in der Form eines Nutzungsausfalls kommt mithin nicht in Betracht.

c) Die Schadenspauschale und die von der Klägerin angesetzten Gutachterkosten sind unstreitig.

3. Der Klägerin stehen Zinsen aus dem Schadensbetrag seit Rechtshängigkeit zu (§ 291 BGB). Für einen früheren Zinslauf unter dem Gesichtspunkt des Verzuges liegt nichts vor. Das Schreiben des Klägervertreters vom 19.06.2013 (Anlage K 2) war schon deshalb nicht verzugsbegründend, weil mit diesem Schreiben lediglich ein Vorschuss verlangt wurde.

4. Der Klägerin steht gemäß § 253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500,00 € zu. Im Berufungsverfahren ist außer Streit, dass sie durch den Unfall für einen Zeitraum von sechs Wochen erhebliche Wirbelsäulenbeschwerden hatte. Die Klägerin war in dieser Zeit krankgeschrieben. Im Übrigen ergeben sich die Beeinträchtigungen aus den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen (Anlagen K 8 und K 9). Der Senat hält für die unstreitigen Beeinträchtigungen einen Betrag von 1.500,00 € für angemessen.

5. Die Klägerin kann von den Beklagten Freistellung vom Anspruch ihrer Rechtsanwälte wegen vorgerichtlicher Anwaltskosten verlangen. Die vorgerichtlichen Kosten sind durch das Schreiben der Rechtsanwälte vom 19.06.2013 (Anlage K 2) entstanden. Bei einem Verkehrsunfall sind vorgerichtliche Anwaltskosten grundsätzlich gemäß § 249 Abs. 1 BGB erstattungsfähig. Ein Gegenstandswert von jedenfalls mehr als 9.000,00 € ist bei der Abrechnung der Anwaltsgebühren nicht zu beanstanden. Es bestehen nach Auffassung des Senats auch keine Bedenken, für die Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV RVG den Regelsatz von 1,3 anzusetzen. Zumindest hält sich die Bestimmung des Anwalts im Bereich des billigen Ermessens gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG. Gründe dafür, dass das Ermessen des Anwalts - anders als bei der allgemein üblichen Abrechnung bei Verkehrsunfällen - vorliegend zu einem Satz von lediglich 1,1 hätte führen müssen, haben die Beklagten nicht vorgebracht.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Der Senat hat bei der Kostenquotelung berücksichtigt, dass bis zur Antragsänderung im Termin vom 21.05.2015 ein höherer Gegenstandswert maßgeblich war. Dabei hat der Senat zu Gunsten der Klägerin jedoch auch in Rechnung gestellt, dass die Reduzierung des Streitwerts sich aus einer Antragsänderung wegen des Schmerzensgeldes ergab (vgl. dazu den Rechtsgedanken in § 92 Abs. 2 Ziffer 2 ZPO).

7. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 713 ZPO.

8. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Die für die Entscheidung des Senats maßgeblichen Rechtsfragen sind in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt.

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