Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Beschluss vom 31.08.2021 - 12 L 1802/21.F - Einstweiliger Rechtsschutz eines Anwohners gegen ein Verbot der Einfahrt durch Anbringung des Verkehrszeichens 267

VG Frankfurt am Main v. 31.08.2021: Einstweiliger Rechtsschutz eines Anwohners gegen ein Verbot der Einfahrt durch Anbringung des Verkehrszeichens 267




Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (Beschluss vom 31.08.2021 - 12 L 1802/21.F) hat entschieden:

   Voraussetzungen für die Erprobung geplanter verkehrssichernder und verkehrsregelnder Maßnahmen im Rahmen eines Modellversuchs setzen ein folgerichtiges, systematisches Vorgehen der Straßenverkehrsbehörde voraus. Anwohner und Verkehrsteilnehmer können Verletzung eigener Rechte durch die sie betreffenden Verkehrsbeschränkungen gerichtlich geltend machen.

Siehe auch
Straßenverkehrsrechtliche Anordnungen
und
Straßenverkehrsrechtliche Anordnungen - Erprobungsmaßnahmen

Gründe:


I.

Die Antragsteller suchen um einstweiligen Rechtsschutz gegen die seitens der Antragsgegnerin angeordnete Verbot der Einfahrt in südlicher Richtung in die Münsterer Straße von der Parkstraße aus durch Anbringung des Verkehrszeichens 267 (Verbot der Einfahrt) nach.

Die Antragsteller zu 1) und 2) wohnen in der B-Straße, der Antragsteller zu 3) ist in der G-Straße wohnhaft. Seit September 2019 wurde die Münsterer Straße im Rahmen von vier Bauabschnitten grundhaft erneuert. Seitdem ist die Straße für den Durchgangsverkehr voll gesperrt. Es bildete sich eine Anwohnergemeinschaft, welche wünscht, dass die Straße nach Abschluss der Sanierung nicht mehr im gleichen Umfang wie vor der Maßnahme für den Verkehr genutzt werden kann. Die Antragsgegnerin erwog, diesen Wünschen Rechnung zu tragen, indem die Zufahrt von der Parkstraße in die Münsterer Straße mit Ausnahme für Linienbusse nicht mehr möglich sein soll. Um die damit verbundenen Verkehrsverlagerungen berechnen zu lassen, gab die Antragsgegnerin bei der J-GmbH und Co. KG eine Verkehrsmodellberechnung in Auftrag. Insbesondere solle untersucht werden, in welchem Umfang mit unerwünschten Verkehrsverlagerungen über Parkstraße, Hügelstraße und der Straße Am Walddeck zu rechnen sei. Die Verkehrsmodellrechnung wurde am 8.3.2021 erstellt. Sie kam zu dem Ergebnis, dass es zu einer Reduzierung um ca. 1.700 Kraftfahrzeuge pro 24 Stunden auf der Münsterer Straße komme, dies aber keine signifikanten Auswirkungen auf das umliegende Straßennetz (B519, Frankfurter Straße, Wohnstraßen westlich der Münsterer Straße) habe. Wegen der weiteren Einzelheiten des Verkehrsmodells wird auf Blatt 13 ff. der Behördenakte verwiesen. Auf eine Nachfrage seitens der Antragsgegnerin, dass die entfallenden 1.700 Fahrzeuge an keiner anderen Stelle nachgewiesen worden seien, ergänzte die Gutachterin ihre Stellungnahme dahingehend, dass sich die zu erwartenden Verlagerungen zum großen Teil im näheren Umfeld einstellen würden, da es sich um Binnenverkehr innerhalb des Stadtteils handele. Etwas weiter entfernt ließe sich in und auf der Königsteiner Straße und der B279 auch Verlagerungen feststellen, die (zum Teil) auch großräumigeren Binnenverkehr beinhaltete. Es sei mit einer Zunahme des Verkehrs auf der Hügelstraße um 927 Kfz/24 h, auf der Frankfurter Straße um 368 Kfz/24hz, auf der Königsteiner Straße um 89 Kfz/24h und auf der B 519 um 276 Kfz/24h zu rechnen. Wegen der weiteren Einzelheiten der ergänzenden Stellungnahme wird auf Blatt 30 ff. der Behördenakte verwiesen.

Am 9.4.2021 traf die Antragsgegnerin die verkehrsbehördliche Anordnung, dass im Rahmen eines zunächst auf ein Jahr befristeten Verkehrsversuchs auf der Grundlage von § 45 Abs. 1 S. 2 Ziffer 6 StVO durch Anordnung von Verkehrszeichen 267 "Verbot der Einfahrt" mit Zusatzzeichen "Linienverkehr und Radfahrer frei" die Einfahrt von der Parkstraße in die Münsterer Straße für den allgemeinen Kraftfahrzeugverkehr zu sperren ist. Auf der Parkstraße sind vor der Eimündung Münsterer Straße die Verkehrszeichen 290-30 - "Vorgeschriebene Fahrtrichtung geradeaus" mit Zusatzzeichen "Linienverkehr und Radfahrer frei" zu montieren. Zur Begründung heißt es, dass die Münsterer Straße seit September 2019 im Rahmen von vier Bauabschnitten grundhaft erneuert werde. Seitdem sei die Straße stets im jeweiligen Bauabschnitt voll gesperrt worden und könne vom Durchgangsverkehr nicht genutzt werden. Die Arbeiten würden voraussichtlich in der zweiten Maihälfte abgeschlossen. Es habe sich eine Anwohnergemeinschaft gebildet, welche wünsche, dass die Straße nach Abschluss der Sanierung nicht mehr im gleichen Umfang wie vor der Maßnahme für den allgemeinen Kraftfahrzeugverkehr genutzt werden dürfe. Die Münsterer Straße führe durch ein Wohngebiet. Vor Beginn der Sanierung habe das dortige Verkehrsaufkommen bei rund 4.200 Fahrzeugen täglich gelegen. Die Antragsgegnerin möchte den Hinweisen der Anwohner Rechnung tragen. Hauptziel der Maßnahme sei es, den Schleichweg durch die Wohngebiete von Fischbacher Straße (L 3016) über Altkönigstraße, Parkstraße, Münsterer Straße und Johann-Strauß-Straße Richtung Dieselstraße und weiter über die L 3016 Richtung A 66 zu durchbrechen. Dieser weiträumige Durchgangsverkehr solle möglichst über Gagernring oder Frankenallee aus der Kernstadt herausfahren. In der Gegenrichtung sei dieser Schleichweg deutlich unattraktiver, da spätestens von der Altkönigstraße in die Fischbacher Straße hinein für Linksabbieger mit deutlichen Wartezeiten zu rechnen sei. Die Maßnahme diene daher nicht nur den Anwohnern der Münsterer Straße, sondern von der Verkehrsverlagerung profitierten alle Wohnstraßen entlang des Schleichweges. Der Verkehrsversuch solle zeigen, ob die gewünschten Wirkungen erzielt würden oder ob dadurch unerwünschte Durchgangsverkehre in andere Wohnstraßen zu beobachten sei. Die entsprechende Beschilderung wurde am 10. und 11.5.2021 montiert.




Am 25.6.2021 haben die Antragsteller gegen die verkehrsbehördliche Anordnung Klage erhoben und gleichzeitig einen Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz gestellt. Die Antragsteller behaupten, dass die Verkehrsregelung ohne Durchführung von Voruntersuchungen über die tatsächliche Verkehrsbelastung an der betreffenden Straße auf Initiative einiger dortiger Anwohner erlassen worden sei. Eine Untersuchung der Verkehrsbelastung in der Münsterer Straße, die vor der Sperrung während der Sanierungsarbeiten hätte durchgeführt werden müssen, sei offensichtlich unterblieben. Ebenfalls nicht untersucht worden seien die Auswirkungen auf die angrenzenden Wohnquartiere, die darin befindlichen Straßen und auf die Hauptverkehrsachsen im Stadtgebiet. Eine ermessensfehlerfreie Verkehrsregelung zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm und Abgasen, die zur Erprobung eingeführt werde, bedürfe jedoch einer fachlich fundierten Erfassung des Verkehrs und der damit verbundenen Emissionen, einer Prognose der Auswirkungen sowie einer ebenso fachlich fundierten Ermittlung der tatsächlichen Auswirkungen in der Versuchsphase. Erst jetzt, nach massiven Protesten der von der Verkehrsregelung Betroffenen, habe die Antragsgegnerin begonnen, eine Verkehrszählung in der Straße der Antragsteller durchzuführen. Die hierdurch gegebenenfalls gewonnenen Zahlen seien jedoch angesichts der fehlenden Dokumentation des Zustandes vor der Einführung der Verkehrsregelung zu Erprobungszwecken letztlich ohne Aussagekraft. Aus der Begründung der Maßnahme der Antragsgegnerin sei nicht ersichtlich, welche Rechtsgüter gefährdet sein sollten. Insbesondere sei nicht ersichtlich, ob die Maßnahme der Reduzierung der Unfallgefahr oder des Verkehrslärms oder der verkehrsbedingten Emissionen dienen solle. Somit fehle es offensichtlich bereits an einer Gefahrenlage, die ein Einschreiten der Antragsgegnerin rechtfertigen könnte, ebenso wie an einem Ermittlungsziel. Die Anordnung einer Verkehrsregelung im Rahmen eines Verkehrsversuchs sei zudem offensichtlich ungeeignet, wenn der Zweck des Verkehrsversuchs nicht eintreten könne. Die Anordnung sei ferner deswegen rechtswidrig, weil die Verkehrsbeschränkungen an anderer Stelle zu unerwünschten Auswirkungen führe beziehungsweise diese Auswirkungen von vorneherein keiner hinreichenden Betrachtung unterzogen worden seien.

Die Antragsteller beantragen,

   die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die Verkehrsregelung "Einfahrtsverbot" mit Zeichen 267 in der Münsterer Straße in der Einfahrt von der Parkstraße in Kelkheim anzuordnen und der Antragsgegnerin aufzugeben, das Verkehrszeichen "Einfahrtsverbot", Zeichen 267 an der Einfahrt in die Münsterer Straße von der Parkstraße zu entfernen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

   den Antrag abzulehnen.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass die getroffene verkehrsrechtliche Anordnung auf der Grundlage von § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO rechtmäßig sei. Es solle erprobt werden, ob die Durchbrechung des Schleichwegs von der Fischbacher Straße (L 3016) über die Altkönigstraße, Parkstraße, Münsterer Straße und Johann-Strauß-Straße Richtung Dieselstraße und weiter über die L 3016 zur A 66 dazu führe, dass der weiträumige Verkehr stattdessen über den Gagernring beziehungsweise die Frankenallee aus der Stadt abfließe oder ob durch die Entlastung des genannten Straßenzuges unerwünschte Durchgangsverkehre in den umliegenden Wohnstraßen der Münsterer Straße entstünden. Die getroffene Entscheidung sei auf der Basis der Verkehrsuntersuchung durch die Firma J erfolgt. Innerhalb des Erprobungszeitraumes würden über einen längeren Zeitraum Verkehrszählungen mit Hilfe des städtischen Tempoinfoan-hängers vor der Kinderbetreuungseinrichtung "K" in der B-Straße durchgeführt. An Hand eines Fahrzeugvergleiches mit den ermittelten Verkehrsmengen im Zeitraum 25.9. bis 12.12.2018 könne auf diese Weise festgestellt werden, ob durch die Unterbindung des genannten Schleichweges der gewünschte Abfluss des Verkehrs über den Gagernring und die Frankenallee erfolge oder ob die Maßnahme zu starken Verkehrsbelastungen in den umliegenden Wohnstraßen und dabei insbesondere in der Straße Am Waldeck führe. Für den in der Anordnung festgesetzten Erprobungszeitraum sei es den Antragstellern zuzumuten, die im Rahmen der Erprobung eventuell auftretenden erhöhten Verkehrsbelastungen im überwiegenden öffentlichen Interesse hinzunehmen, selbst wenn dies ein Ausmaß erreiche, das im Ergebnis auf Dauer rechtlich nicht hingenommen werden müsste.

Mit Beschluss vom 25.8.2021 hat die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den Inhalt der Gerichtsakte 12 K 1804/21.F sowie auf denjenigen der beigezogenen Behördenakte der Antragsgegnerin (1 Ordner) verwiesen.




II.

Der Antrag ist zulässig. Er ist insbesondere nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO statthaft, denn in der Hauptsache ist gegen die getroffene Maßnahme die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) statthaft, weil das mit ihr angegriffene Verkehrszeichen 267 der Anlage 2 zur StVO ein Verwaltungsakt in Form der Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 HVwVfG) ist. Dieser Verwaltungsakt ist in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO sofort vollziehbar, da er unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeibeamten gleichsteht (Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage, § 80 Rdnr. 54 mwN; Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 21.8.2003 - 3 C 15/03, zitiert nach juris Rdnr. 19).

Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere sind die Antragsteller antragsbefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Klage- beziehungsweise Antragsbefugnis dann zu bejahen, wenn das Klage- beziehungsweise Antragsvorbringen es zumindest als möglich erscheinen lässt, dass die angefochtene Maßnahme eigene Rechte des Klägers beziehungsweise Antragstellers verletzt. Ein Verkehrsteilnehmer kann dabei als eine Verletzung seiner Rechte geltend machen, die rechtssatzmäßigen Voraussetzungen für eine auch ihn treffende Verkehrsbeschränkung nach § 45 Abs. 1 StVO seien nicht gegeben. Im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung kann er allerdings nur verlangen, dass seine eigenen Interessen ohne Rechtsfehler abgewogen werden mit den Interessen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Einführung der Verkehrsbeschränkung sprechen (Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 27.1.1993 - 11 C 35/92, zitiert nach juris Rdnr. 14).

Den Antragstelllern fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis für ihren Antrag. Dieses ist nicht deswegen zu verneinen, weil die von ihnen erhobene Anfechtungsklage offensichtlich unzulässig wäre. Dies ist nicht der Fall. Insbesondere wurde die Klagefrist gewahrt. Da bei der Aufstellung der Verkehrszeichen eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben ist, gilt nach § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine Klagefrist von einem Jahr. Die Klagefrist für das am 10. oder 11.5.2021 aufgestellte Verkehrszeichen ist somit gewahrt. Ein Widerspruchsverfahren findet nach § 16a Abs. 1 Hess. AGVwGO i. V. m. Ziffer 11.1 der Anlage zum Hess. AGVwGO nicht statt mit der Folge, dass gegen die Errichtung von Verkehrszeichen unmittelbar Klage zu erheben ist.

Der Antrag ist auch begründet. Das Gericht hat für seine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine Ermessensentscheidung zu treffen. Dabei ordnet das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs an, wenn das Interesse des jeweiligen Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung hat sich maßgeblich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig, fällt die Interessenabwägung zu Gunsten des Antragstellers aus, denn an der sofortigen Vollziehbarkeit rechtswidriger Verwaltungsakte kann kein öffentliches Interesse bestehen. Umgekehrt ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zurückzuweisen, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt als rechtmäßig erweist.

Nach diesem anzulegenden Maßstab erweist sich der Antrag als begründet, denn die verkehrsrechtliche Anordnung der Antragsgegnerin vom 9.4.2021 erweist sich als rechtswidrig.




Rechtsgrundlage für die der Errichtung der Verkehrszeichen zugrundeliegende verkehrsbehördliche Anordnung könnte nur § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 2. Alternative StVO sein. Nach dieser Vorschrift kann die Straßenverkehrsbehörde die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen jedoch nicht vor.

Nach § 39 Abs. 1 StVO werden örtliche Anordnungen durch Verkehrszeichen nur dort getroffen, wo dies - angesichts der allen Verkehrsteilnehmern obliegenden Verpflichtung, die allgemeinen und besonderen Verhaltensvorschriften dieser Verordnung eigenverantwortlich zu beachten - aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO sind Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Zwar dürfen nach § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt, doch ist diese Vorschrift hier nicht einschlägig. § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 7 StVO, welcher durch Verordnung vom 20.4.2020 (BGBl I Seite 814) eingefügt worden ist, bestimmt, das Satz 3 nicht für die Anordnung von Erprobungsmaßnahmen nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 6 zweiter Halbsatz gilt. Für solche Erprobungsmaßnahmen bleibt aber die Vorschrift des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO weiter einschlägig. Dies bedeutet, dass eine Erprobungsmaßnahme zwar angeordnet werden kann, ohne dass die sonst erforderliche besondere Gefahrenlage des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO vorliegt, ihre Anordnung aber dort ausscheidet, wo eine "einfache" Gefahrenlage (vgl. § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO: "aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs") nicht vorliegt. Die Anbringung der Verkehrszeichen muss aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich sein (§ 45 Abs. 9 Satz 1 StVO).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Durchführung eines Modellversuchs setzt vor der verkehrsbehördlichen Anordnung ein folgerichtiges, systematisches Vorgehen der Straßenbehörde voraus. Dies erfordert in der Regel eine sorgfältige Bestandsaufnahme und Bewertung derjenigen Umstände, die die als korrekturbedürftig eingeschätzte Situation begründen und diejenigen verkehrsregelnden Maßnahmen aufzeigen, die geeignet und erforderlich sein können, die Situation auf Dauer zu beseitigen oder zu entschärfen. Dies verbietet es, nach dem Prinzip von "Versuch und Irrtum" im Sinne einer freien, voraussetzungslos anwendbaren Experimentierklausel verkehrsregelnde Maßnahmen zur Probe zu treffen (VG Neustadt/Weinstraße, Beschl. v. 18.2.2011 - 1 L 78/11.NW, zitiert nach juris, Rdnr. 9). Die Antragsgegnerin möchte mit der von ihr ergriffenen verkehrsbehördlichen Anordnung erreichen, dass der Schleichverkehr aus nördlicher Richtung von der Fischbacher Straße aus über die Altkönigstraße, die Parkstraße, die Münsterer Straße und die Johann-Strauß-Straße unterbunden wird. Zwar hat das von der Antragsgegnerin eingeholte Verkehrsmodell der J-GmbH und Co. KG auch Verkehrszahlen aus dem Jahre 2019, also vor Beginn der Bauarbeiten in der Münsterer Straße, zur Grundlage. Allerdings geht aus diesen Zahlen lediglich die Verkehrsbelastung auf den einzelnen Straßen hervor, nicht jedoch der Umstand, ob es sich insoweit um "Schleichverkehr" handelt, also um Verkehrsbewegungen, die ein Befahren der Ortsdurchgangsstraße (Bahnstraße und Frankfurter Straße) vermeiden wollen. Denkbar ist vielmehr auch, dass die Benutzung der Altkönigstraße, der Parkstraße und der Münsterer Straße aus nördlicher Richtung auch zum Anfahren der an der Lorsbacherstraße gelegenen Kindertagesstätten und Schulen sowie des Freibades und der übrigen Freizeiteinrichtungen genutzt wird. Insoweit handelt es sich allerdings gerade nicht um Schleichverkehr. Für die Annahme, dass gerade die Münsterer Straße zu diesem Zweck aus nördlicher Richtung befahren wurde, spricht der Umstand, dass das Verkehrsmodell bei Sperrung der Münsterer Straße in südlicher Richtung eine deutliche Zunahme des Verkehrs auf der Hügelstraße (und nicht auf der Frankfurter Straße) prognostiziert. Das Verkehrsmodell geht von einer Zunahme der Verkehrsbewegungen von 927 Kfz/24h auf der Hügelstraße, 368 Kfz/24h auf der Frankfurter Straße, 89 Kfz/24h auf der Königsteiner Straße und 276 Kfz/24h auf der B 519 aus (Blatt 32 der Behördenakte). Aus der der Prognose beigefügten Zeichnung dürfte ferner hervorgehen, dass ein nicht unwesentlicher Teil des zusätzlichen Verkehrs in der Hügelstraße auf die Straße Am Waldeck weitergeleitet wird. Aufgrund des Verlaufs der einzelnen Straßen ist nicht davon auszugehen, dass es sich hierbei um Schleichverkehr handelt, der eine Benutzung von Bahnstraße und Frankfurter Straße vermeiden will. Der Umstand, dass die "Anwohnergemeinschaft" der Münsterer Straße offensichtlich davon ausgeht, dass die Verkehrsbelastung ihrer Straße vorrangig auf den Schleichverkehr zurückzuführen ist, vermag eine verkehrsplanerische Prüfung der Antragsgegnerin nicht zu ersetzen. Ebenso wenig reicht die alleinige Feststellung eines hohen Verkehrsaufkommens dafür aus, von einer Gefahrenlage im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO auszugehen.




Darüber hinaus mangelt es der von der Antragsgegnerin angeordneten Verkehrsmaßnahme an der Geeignetheit. Ziel der Maßnahme war es nach ihrer Begründung ausdrücklich, durch die einseitige Sperrung der Münsterer Straße eine Verlagerung des Durchgangsverkehrs auf die Straßen Gagernring und Frankenallee zu erreichen. Dies dürfte nach dem eingeholten Verkehrsmodell aber nicht zu erreichen sein, da - wie bereits erwähnt - durch die Sperrung der Münsterer Straße in Nord-Süd-Richtung eine Verlagerung des Verkehrs auf die Frankfurter Straße, die eine Verbindung zwischen Frankenallee und Kronberger Straße (welche eine Verlängerung der Frankfurter Straße darstellt) bildende Königsteiner Straße und die B 519 von lediglich ca. 44% und damit weniger als der Hälfte des Verkehrs erfolgt. Der größere Teil des Verkehrs wird dagegen in die westlich der Münsterer Straße gelegenen Wohnstraßen geleitet. Nach den der Antragsgegnerin somit vorliegenden Daten war nicht zu erwarten, dass der mit der angeordneten Verkehrsmaßnahme angestrebte Zweck tatsächlich erreicht werden könnte, was die Antragsgegnerin gleichwohl nicht davon abgehalten hat - möglicherweise auf der Grundlage der ursprünglich von der Gutachterin abgegebenen Prognose, dass es keine signifikanten Auswirkungen auf das umliegende Straßennetz gebe -, die von ihr ins Auge gefasste Maßnahme zu treffen. Wenn die Antragsgegnerin nunmehr - im Rahmen ihrer Antragserwiderung (vgl. Seite 5 des Schriftsatzes vom 22.7.2021) - vorträgt, dass innerhalb des Erprobungszeitraumes durch Verkehrszählungen ermittelt werden soll, ob durch die Unterbindung des Schleichweges der gewünschte Abfluss des Verkehrs über Gagernring und Frankenallee erfolgt oder ob die Maßnahme zu starken Verkehrsbelastungen in den umliegenden Wohnstraßen führt, so fragt sich, wozu sie zuvor die Verkehrsmodellrechnung in Auftrag gegeben hat, die hierzu bereits aussagekräftige Feststellungen getroffen hat.

Als unterliegende Beteiligte hat die Antragsgegnerin gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da es sich um insgesamt drei Antragsteller handelt, ist insoweit für jeden der Antragsteller der "Auffangstreitwert" nach § 52 Abs. 2 GKG anzusetzen (§§ 5 ZPO, 173 VwGO) und der so ermittelte Wert angesichts des Umstandes, dass nur eine vorläufige Entscheidung in Streit steht, mit der Hälfte in Ansatz gebracht worden.

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