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Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss vom 14.07.2020 - 2 Rv 35 Ss 175/20 - Absolute Fahruntüchtigkeit von Pedelec-Fahrern

OLG Karlsruhe v. 14.07.2020: Absolute Fahruntüchtigkeit von Pedelec-Fahrern




Das Oberlandesgericht Karlsruhe (Beschluss vom 14.07.2020 - 2 Rv 35 Ss 175/20) hat entschieden:

  1.  Es liegt nahe, Elektrofahrräder mit Begrenzung der motorunterstützten Geschwindigkeit auf 25 km/h (sog. Pedelecs) auch strafrechtlich nicht als Kraftfahrzeuge einzustufen.

  2.  Für die Beurteilung der absoluten Fahruntüchtigkeit von Pedelec-Fahrern kommt es nicht darauf an, ob Pedelecs strafrechtlich als Kraftfahrzeuge einzustufen sind.

  3.  Ein Erfahrungssatz, dass Pedelc-Fahrer unterhalb des für Fahrradfahrer geltenden Grenzwertes von 1,6 Promille Blutalkoholkonzentration absolut fahruntüchtig sind, besteht nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht.

Siehe auch
Elektro-Zweiräder
- Pedelec - Segway - E-Bike - E-Scooter - E-Roller

und
Alkohol - Grenzwerte für die absolute Fahruntauglichkeit

Gründe:


I.

Der Angeklagte ist von Amts- und Landgericht vom Vorwurf der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr freigesprochen worden. Nach den im Berufungsurteil des Landgerichts Freiburg getroffenen Feststellungen stieß der Angeklagte am Abend des 9.5.2018 als Fahrer eines Pedelecs mit einer auf seinen Fahrweg einbiegenden Fahrradfahrerin zusammen. Bei dem Pedelec handelt es sich um ein Elektrofahrrad mit einem zuschaltbaren Elektromotor mit einer Nenndauerleistung von 250 Watt, der das Fahrrad bis zu einer Geschwindigkeit von 6 km/h ohne Trittunterstützung, darüber bis zu einer Geschwindigkeit bis 25 km/h beim Treten (mit-) antreibt. Nach den weiteren - nach vorläufiger Würdigung auf rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung beruhenden - Feststellungen hatte der Angeklagte dabei eine maximale Alkoholkonzentration von 1,59 %o im Blut, ohne dass die vorhandenen Beweise für die Annahme ausreichten, der Angeklagte sei deshalb alkoholbedingt nicht mehr zum Führen des Fahrzeugs in der Lage gewesen. Im Weiteren sind Amts- und Landgericht auf der Grundlage von § 1 Abs. 3 StVG davon ausgegangen, dass Pedelecs nicht als Kraftfahrzeuge einzustufen sind und deshalb bei der Beurteilung der absoluten Fahruntüchtigkeit nicht der für Kraftfahrer geltende Grenzwert von 1,1 %o, sondern der für Fahrradfahrer geltende Grenzwert von 1,6 %o zugrunde zu legen ist. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft Freiburg mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die auch von der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vertreten wird.




II.

Auf der Grundlage der im angefochtenen landgerichtlichen Urteil getroffenen Feststellungen kann eine Verurteilung des Angeklagten wegen (fahrlässiger) Trunkenheit im Verkehr nur erfolgen, wenn die bei ihm festgestellte Blutalkoholkonzentration zur Bewertung führt, dass er deshalb absolut fahruntüchtig war. Soweit sowohl Amts- und Landgericht als auch Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft es dabei für maßgeblich erachtet haben, ob das vom Angeklagten geführte Elektrofahrrad rechtlich als Kraftfahrzeug zu behandeln ist, vermag der Senat dem nicht zu folgen.

1. Allerdings neigt der Senat entgegen der von Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft unter Berufung auf Stimmen in der Literatur (vor allem König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 316 Rn. 17) vertretenen Meinung bereits zu der Auffassung, dass der Ausnahme der technisch - jedenfalls bei zugeschaltetem Motor - zweifelsfrei als Kraftfahrzeuge (vgl. § 1 Abs. 2 StVG) einzustufenden Pedelecs vom straßenverkehrsrechtlichen Kraftfahrzeugbegriff in § 1 Abs. 3 StVG auch für die Auslegung desselben Begriffes im Strafrecht Bedeutung zukommt.

a) Dabei verkennt der Senat nicht, dass in § 1 Abs. 3 StVG ausdrücklich bestimmt ist, dass diese Elektrofahrräder keine Kraftfahrzeuge im Sinne dieses Gesetzes, also des Straßenverkehrsgesetzes, sind und Anlass für die Einfügung des § 1 Abs. 3 StVG durch das Gesetz zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 17.6.2013 (BGBl. I S. 1558) eine Zulassungsfragen betreffende EU-Richtlinie war (BT-Drs. 17/12856 S. 11).

b) Gleichwohl ist es allgemein anerkannt, dass die Begrifflichkeiten straßenverkehrsrechtlicher Gesetze wegen des gleichen Schutzzwecks, der Verkehrssicherheit, auch bei der Auslegung der den Straßenverkehr betreffenden strafrechtlichen Normen heranzuziehen sind (BGHSt 50, 93, 100 - zum Begriff der Ungeeignetheit; so im Übrigen auch LK-König, StGB, 12. Aufl. 2008, § 315c Rn. 7). Es entspricht deshalb ganz überwiegender Auffassung, dass der Kraftfahrzeugbegriff des Strafgesetzbuches entsprechend der Legaldefinition im Straßenverkehrsgesetz zu bestimmen ist (OLG Rostock NZV 2008, 472; OLG Brandenburg NZV 2008, 474; BayObLG MDR 1993, 1100; LK-Valerius, StGB, 13. Aufl., § 69 Rn. 44; MK-Athing/von Heintschel-Heinegg, StGB, 3. Aufl., § 69 Rn. 30; Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 69 Rn. 13; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 44 Rn. 3; Ernemann in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl., § 315c Rn. 3; Eschelbach in Matt/Renzikowski, StGB, § 69 Rn. 20).

c) Dass der Gesetzgeber abweichend hiervon mit der Begrenzung des unmittelbaren Anwendungsbereichs eine Übertragung der Begrifflichkeit des Straßenverkehrsrechts auf das Strafrecht ausschließen wollte, lässt sich auch den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Vielmehr ist in der Begründung des Entwurfs des Gesetzes vom 17.6.2013 ausgeführt (BT-Drs. 17/12856 S. 11): „Im Zusammenhang mit dem Thema Elektromobilität gewinnen sogenannte Elektrofahrräder im öffentlichen Straßenverkehr zunehmend an Bedeutung. Auf Grund der dynamischen Marktentwicklung und großen Variantenvielfalt besteht oft Unklarheit über die verkehrsrechtliche Einstufung dieser Fahrzeuge und über die daraus resultierenden fahrerlaubnis-, verhaltens- und zulassungsrechtlichen Konsequenzen. Eine Anpassung des § 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) soll Rechtssicherheit bei der verkehrsrechtlichen Einordnung von Elektrofahrrädern schaffen.“ Dieses Regelungsziel und das ausdrückliche Ansprechen der verhaltensrechtlichen Konsequenzen legen eine vereinheitlichende Auslegung des Kraftfahrzeugbegriffs über den eigentlichen gesetzlichen Anwendungsbereich hinaus nahe.

d) Auch systematische Erwägungen sprechen für dieses Auslegungsergebnis. Denn auch das Straßenverkehrsgesetz enthält in § 24a StVG eine das Führen von Kraftfahrzeugen unter dem Einfluss von Alkohol ahndende Regelung, die nach der insoweit eindeutigen Regelung des § 1 Abs. 3 StVG auf Pedelecs keine Anwendung findet. Den gleichgerichteten Regelungen im Strafgesetzbuch, vor allem § 69 StGB, einen anderen Kraftfahrzeugbegriff zugrundezulegen, erscheint systemwidrig (Kerkmann SVR 2019, 369, 370).

2. Ungeachtet dessen ist der Senat nach vorläufiger Beurteilung der Auffassung, dass die Bestimmung eines Alkoholgrenzwertes für die absolute Fahruntüchtigkeit von Pedelec-Fahrern nicht davon abhängt, ob diese rechtlich als Kraftfahrzeuge einzustufen sind.

a) Allerdings hat der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 28.6.1990 (4 StR 297/90 = BGHSt 37, 89) in einem Vorlageverfahren gemäß § 121 Abs. 2 GVG die Vorlagefrage, ob „der Führer eines Kraftfahrzeuges bereits von einem Blutalkoholgehalt von 1,1 g Promille an absolut fahruntüchtig“ ist, bejaht. Allerdings wurde mit dieser Entscheidung nicht bestimmt, auf welche Fahrzeugtypen die genannte Promillegrenze Anwendung findet, sondern es ging darum, ob der bis dahin geltende Grenzwert für die absolute Fahruntüchtigkeit von Kraftfahrern - in dem der Vorlage zugrundeliegenden Verfahren der Fahrer eines Personenkraftwagens - von 1,3 %o auf 1,1 %o herabzusetzen war. Zu der Bestimmung des Anwendungsbereichs bestand auch kein Anlass, nachdem in einer vorausgegangenen Entscheidung (Beschluss vom 29.10.1981 - 4 StR 262/81 = BGHSt 30, 251) bereits klargestellt worden war, dass diese Promillegrenze auch für Kraftradfahrer einschließlich der Fahrer von Fahrrädern mit Hilfsmotor (Mofas), und damit für alle gängigen Kraftfahrzeugtypen gilt.



b) Dagegen ergibt sich aus weiteren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, dass die genannte Bestimmung des Grenzwertes für die alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit keineswegs direkt daran anknüpft, ob ein Kraftfahrzeug geführt wird (a.A. OLG Nürnberg NStZ-RR 2011, 153). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Bundesgerichtshof in allen Entscheidungen, in denen es um die Bestimmung eines Grenzwertes für alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit ging, betont hat, dass es sich dabei nicht um ein normatives Merkmal, sondern um die rechtliche Anerkennung gesicherten naturwissenschaftlich-medizinischen Erfahrungswissens im Sinn eines Erfahrungssatzes handelt (u.a. BGHSt 19, 82; 21, 157; 22, 352; 25, 246; 25, 360; 30, 251; 34, 133; 36, 341; 37, 89). Der Bundesgerichtshof hat deshalb wiederholt die Anwendung der für Kraftfahrer bestimmten Promillegrenze auf bestimmte Typen von Kraftfahrzeugen zunächst abgelehnt, weil insoweit zum jeweiligen Entscheidungszeitpunkt keine allgemein anerkannten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse für die Bestimmung absoluter Fahruntüchtigkeit vorlagen (BGHSt 22, 352 - Krafträder; BGHSt 25, 360 - Mofas). In der letztgenannten Entscheidung hat der Bundesgerichtshof dabei hervorgehoben, dass im Hinblick darauf, dass für die Bestimmung der absoluten Fahruntüchtigkeit einerseits auf die Änderungen der Leistungsfähigkeit und die Beeinträchtigungen der Gesamtpersönlichkeit, andererseits das Maß der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer abzustellen ist (BGHSt 22, 352), Mofas sich trotz ihrer begrifflichen Zuordnung zu den Kraftfahrzeugen unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit von den übrigen Krafträdern unterscheiden, was sich in straßenverkehrsrechtlichen Erleichterungen gegenüber sonstigen Krafträdern niederschlug. Erst nachdem durch neuere Untersuchungsergebnisse der wissenschaftlichen Forschung belegt war, dass der Genuss von Alkohol auf das Führen von Mofas gleiche Auswirkungen wie auf das Führen anderer Kraftfahrzeuge hatte, wurden Mofas hinsichtlich des Grenzwertes für die Annahme absoluter Fahruntüchtigkeit anderen Kraftfahrzeugen gleichgestellt (BGHSt 30, 251).

c) Auch Pedelecs weisen Merkmale auf, die sie maßgeblich von anderen Kraftfahrzeugen und insbesondere Mofas unterscheiden, insbesondere dadurch, dass oberhalb der auf 6 km/h beschränkten Anschubhilfe die Motorleistung nur bei gleichzeitigem Treten zum Antrieb beiträgt. Damit stehen Pedelecs gleichsam zwischen Fahrrädern einerseits und Mofas andererseits. Diesen technischen Besonderheiten ist auch rechtlich durch die Regelung in § 1 Abs. 3 StVG Rechnung getragen worden. Angesichts dieser Unterschiede verbietet es sich, den für andere Kraftfahrer geltenden Grenzwert von 1,1 %o ohne Weiteres auf Pedelec-Fahrer zu übertragen. Nach der Auffassung des Senats kommt es deshalb auf der Grundlage der vorstehend unter b. wiedergegebenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vielmehr darauf an, ob es gesichertes naturwissenschaftlich-medizinisches Erfahrungswissen gibt, dass Pedelec-Fahrer bereits unterhalb des für Fahrräder geltenden Grenzwerts von 1,6 %o im Blut absolut fahruntüchtig sind.




d) Eine Entscheidung des Senats ist danach ohne Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, bei der die technische Entwicklung von Elektrofahrrädern noch keine Berücksichtigung finden konnte, möglich. Soweit der Senat damit von der in der Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 13.12.2010 (a.a.O.) allgemein geäußerten Rechtsauffassung abweicht, der Grenzwert von 1,1 %o gelte unterschiedslos für alle Kraftfahrzeugtypen, die sich nach den vorstehenden Ausführungen nicht aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ableiten lässt, zwingt dies im Hinblick darauf, dass dem vom Oberlandesgericht Nürnberg mit dem Führen eines motorisierten Krankenfahrstuhls eine gänzlich andere Sachverhaltsgestaltung zugrunde lag, ebenfalls nicht zur Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG.

III.

Der Senat hat deshalb untersucht, ob bereits Forschungsergebnisse vorliegen, auf deren Grundlage die Bestimmung einer - von der für Fahrradfahrer abweichenden - Grenze für die Annahme alkoholbedingter absoluter Fahruntüchtigkeit vorgenommen werden kann.

Danach gibt es zwar mehrere Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Pedelecs an ihre Fahrer höhere Anforderungen stellen als an Fahrradfahrer, wobei neben der erzielbaren höheren Geschwindigkeit auch das höhere Gewicht und das durch die Anschubhilfe veränderte Fahrverhalten von Bedeutung sein dürften (vgl. insbesondere Panwinkler/Holz-Rau, Unfallgeschehen von Pedelecs und konventionellen Fahrrädern im Vergleich, Zeitschrift für Verkehrssicherheit 2019, 336; Unfallforschung der Versicherer, Verkehrssicherheit von Elektrofahrrädern, 2017; Schleinitz u.a., Pedelec-Naturalistic Cycling Study, 2014 - im Internet abrufbar über die Homepage des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V.). Allein daraus lässt sich aber nicht der Schluss auf einen bestimmten niedrigeren Grenzwert für Pedelec-Fahrer ziehen (BGHSt 22, 352). Untersuchungen der Auswirkungen des Konsums von Alkohol gerade auf die Leistungsfähigkeit von Pedelec-Fahrern, die zu gesichertem Erfahrungswissen bezüglich der Bestimmung eines Grenzwerts für alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit geführt haben, liegen dagegen nach den Erkenntnissen des Senats derzeit noch nicht vor.

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