Das Verkehrslexikon

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Landgericht Köln Urteil vom 28.09.1995 - 29 0 317/94 - Zur Haftung bei nächtlichem Fußgängerunfall mit einer älteren Fußgängerin

LG Köln v. 28.09.1995: Zur Haftung bei nächtlichem Fußgängerunfall mit einer älteren Fußgängerin


Das Landgericht Köln (Urteil vom 28.09.1995 - 29 0 317/94) hat entschieden:
Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung um 20 % (60 km/h statt 50 km/h innerorts) haftet der PKW-Fahrer zu 4/9, wenn er bei schlechten Witterungsverhältnissen zur Nachtzeit trotz Straßenbeleuchtung mit einer die Fahrbahn unachtsam überquerenden älteren Fußgängerin kollidiert.


Siehe auch Fußgänger - Verkehrsunfälle mit Fußgängerbeteiligung


Zum Sachverhalt: Am Unfallmorgen wollte die Kl., eine damals 83jährige Dame, die auf einen Gehstock angewiesen ist, die Frühmesse besuchen. Sie verließ ihre Wohnung im Haus W.-Straße 35 in gerader Richtung, um die Straße zu überqueren. Zu dieser Zeit herrschte schlechtes Wetter, die Laternen waren erleuchtet. Am Straßenrand, etwas nach rechts aus Sicht der Kl. versetzt, parkte ein PKW.

Als die Klägerin an dem Fahrzeug vorbei gegangen war und sich etwa in Mitte der Straße befand, wurde sie vom Pkw VW Golf der Beklagten erfasst. Es wurde später eine Blockierspur von 13,8 m gemessen, die erst kurz vor dem Kollisionspunkt einsetzt.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Die Klage ist ...teilweise begründet.

Die Bekl. haften der Kl: gemäß §§ 7 StVG, 847 BGB als Gesamtschuldner auf Ersatz von 4/9 des entstandenen Sachschadens, soweit er nicht auf den Sozialversicherungsträger übergegangen ist, die Bekl. zu 1) und 3) darüber hinaus auch auf Zahlung einer entsprechenden Quote des angemessenen Schmerzensgeldes. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Unfall in seinem konkreten Ablauf für die Bekl. kein unabwendbares Ereignis war, dass sie vielmehr im Gegenteil ein Verschulden hinsichtlich der Unfallfolgen trifft, so dass - da sich die Kl. ihrerseits ein Mitverschulden anrechnen lassen muss - eine anteilige Haftung der Bekl. festzustellen war; hinsichtlich des Bekl. zu 2), der als Halter nicht aus Verschulden haftet, gilt dies nur hinsichtlich der materiellen Schäden.

... Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 16. 6. 1995 ausführlich und nachvollziehbar erläutert, dass die Bekl. zu 1) vor dem Unfall mit einer Geschwindigkeit von mindestens 60 km/h gefahren ist. Zwar wäre, wie der Sachverständige sodann näher ausgeführt hat, angesichts der herrschenden Sichtverhältnisse der Unfall auch dann nicht zu vermeiden gewesen, wenn sich die Bekl. zu 1) an die zulässige Höchstgeschwindigkeit gehalten hätte; doch wären die Verletzungsfolgen für die Kl. erheblich geringer gewesen, wenn sich die Bekl. verkehrsgerecht verhalten hätte. Der Sachverständige hat dies in seinem Gutachten anhand von unfallstatistischen Erfahrungswerten überzeugend begründet; die Bekl. selbst sind seiner Schlussfolgerung nicht entgegengetreten.

Die Kammer ist der Ansicht, dass man in einem Fall wie dem vorliegenden nicht einseitig auf die Vermeidbarkeit des Unfalls als solchen abstellen kann, das Erfordernis des Nachweises der Unabwendbarkeit sich vielmehr auf das gesamte Unfallgeschehen einschließlich seiner Folgen beziehen muss. Ein Unfall beschränkt sich nicht auf die Berührung von Pkw und Fußgänger als solche - diese war hier nach den Feststellungen des Sachverständigen unvermeidbar -, entscheidend ist vielmehr auch der weitere Ablauf, d. h. die Frage, in welcher Weise der Fußgänger vom Fahrzeug erfasst und weggeschleudert worden ist und welche Verletzungen hierbei entstanden sind. Steht - wie hier nach den sachverständigen Feststellungen - fest, dass die Kl. in einer geringeren Kollisionsgeschwindigkeit des VW Golf anders erfasst und weniger weit fortgeschleudert worden wäre und dass sie geringere Verletzungen erlitten hätte, so war diese Intensivierung der Folgen nicht unabwendbar, im Gegenteil wegen des vermeidbaren Verkehrsverstoßes der Geschwindigkeitsüberschreitung von der Bekl. zu 1) schuldhaft verursacht. Es besteht kein Anlass, in einem solchen Fall die Haftung nach § 7 StVG - bezogen auf die Intensivierung der Unfallfolgen - nicht genauso eintreten zu lassen wie dann, wenn der Unfall als solcher vermeidbar war.

Die Kammer verkennt nicht, dass sich die Abgrenzung in solchen Fällen (und auch hier) schwierig ziehen lässt; denn der Vergleich der konkret eingetretenen Verletzungen mit denen bei einer geringeren Geschwindigkeit des VW Golf eingetreten wären, ist letztlich spekulativ und kann im Ergebnis niemals zwingend sein. War hiernach der zurechenbare Anteil der Intensivierung der Verletzungen im Wege der Schätzung festzulegen, so konnte andererseits nicht einfach das Verhältnis zwischen der zulässigen (50 km/h) und der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit (mindestens 60 km/h) zugrunde gelegt werden; denn maßgebend für die Verletzungen ist in erster Linie der durch Wucht des Anstoßes aufgenommene (passive) Impuls auf seiten des Geschädigten, und dieser nimmt mit zunehmender Geschwindigkeit nicht etwa linear, sondern in stärkerem Maße zu.

Hinzu kommt, dass Bremsverzögerung keine lineare Größe ist, vielmehr mit zunehmender Geschwindigkeit überproportional zunimmt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Kollisionsgeschwindigkeit bei geringerer Bremsausgangsgeschwindigkeit nicht linear, sondern überproportional abnimmt. Dem entspricht es, wenn der Sachverständige bei verkehrsgerechtem Verhalten der Bekl. zu 1) für den Augenblick der Kollision eine Geschwindigkeit zwischen 11,5 km/h und 36,0 km/h (gegenüber Werten zwischen 53,0 km/h und 58,4 km/h bei der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit) ermittelt und dementsprechend die Wahrscheinlichkeit für bloß leichte Verletzungen bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit mit 5-60 % (gegenüber 20 % bei der gefahrenen Geschwindigkeit) angegeben hat.

Zwar ist beim hypothetischen Wert in Anbetracht der zahlreichen, für die Berechnung zu unterstellenden Parameter die Streubreite der Wahrscheinlichkeit größer, sie gibt aber gleichwohl einen verwertbaren Ansatzpunkt für die Schätzung. Im übrigen war zu berücksichtigen, dass bei schweren Verletzungen gegenüber leichten Verletzungen auch die Heilungsdauer in der Regel um ein Vielfaches länger ist, als dem Verhältnis der unterschiedlichen Anstoßwucht entspräche. Unter Abwägung aller Umstände erschien der Kammer eine grundsätzliche Haftung von 2/3 der eingetretenen materiellen und immateriellen Schäden als angebracht.

Diese Quote war nochmals zu mindern; denn auch die Kl. trifft ein (Mit-)Verschulden am Unfallgeschehen, das entsprechend zu berücksichtigen war. Der Kl. konnte nicht verborgen geblieben sein, dass sich die Bekl. zu 1) mit ihrem Fahrzeug näherte, als sie selbst sich anschickte, die Straße zu überqueren. Dabei ist davon auszugehen, dass der VW Golf für die Kl. bereits so frühzeitig zu erkennen war, dass sie ihr Verhalten darauf einstellen konnte, insbesondere dem Pkw den Vorrang geben musste, wenn sie sah, dass sie die Straße nicht mehr gefahrlos würde überqueren können. Wenn die Kl. ungeachtet dieser Umstände mit dem Überqueren der Straße fortsetzte, so geschah dies in fahrlässiger Verkennung der Situation. Dieses Verschulden der Kl. einerseits hat die Kammer gegenüber dem Verschulden der Beklagten zu 1) (Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit) andererseits und unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr des VW Golf mit einem Drittel bewertet, so dass sich unter Verbindung beider Quoten eine Haftung von 4/9 ergab. ..."



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