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OLG Hamm Urteil vom 25.08.1994 - 6 U 44/94 - Zur Haftungsverteilung bei einer Kollision zwischen einem aus einem Grundstück ausfahrenden Kfz und einem die Fahrbahn überquerenden Fußgänger

OLG Hamm v. 25.08.1994: Zur Haftungsverteilung bei einer Kollision zwischen einem aus einem Grundstück ausfahrenden Kfz und einem die Fahrbahn überquerenden Fußgänge


Wenn es zu einer Kollision zwischen einem die Fahrbahn überquerenden Fußgänger und einem Kfz. kommt, das aus einer Grundstücksausfahrt kommend in die Straße einbiegt, ist eine Haftungsverteilung von 3/4 zu 1/4 zu Lasten des Fußgängers angezeigt; denn dem Kfz. gebührt in diesem Fall der Vorrang; dem steht nicht § 9 III S. 3 StVO (gesteigerte Rücksicht auf Fußgänger beim Abbiegen) oder § 10 StVO (gesteigerte Sorgfalt beim Ausfahren aus einem Grundstück entgegen (vgl. OLG Hamm NZV 1995, 72 (Urteil vom 25.08.1994 - 6 U 44/94)).

Das OLG Hamm (Urteil vom 25.08.1994 - 6 U 44/94) hat entschieden:
  1. StVO § 9 Abs 3 S 3 begünstigt nicht einen Fußgänger, der die Fahrbahn außerhalb eines Kreuzungsbereichs überqueren will.

  2. Die gesteigerte Sorgfaltspflicht des StVO § 10 gilt nicht im Hinblick auf Fußgänger, die am Fahrbahnrand auf eine Gelegenheit warten, die Straße zu überqueren.

  3. Haftungsquote 75:25 zum Nachteil des Fußgängers. Die Betriebsgefahr des einfahrenden Fahrzeugs tritt nicht zurück, weil sie gem StVO § 10 eine besondere Gefahr darstellt.

  4. Keine Aufspaltung der Klage in Leistungs- und Feststellungsantrag, auch wenn ein Teil des Schadens bei Klageerhebung schon entstanden ist; die Feststellungsklage ist insgesamt zulässig.

Siehe auch Fußgänger - Verkehrsunfälle mit Fußgängerbeteiligung und Grundstücksausfahrt


Tatbestand:

Der Kläger nimmt die Beklagte zu 1) (nachfolgend: Beklagte) auf Schmerzensgeld und Feststellung der Haftung für materielle und immaterielle Schäden infolge eines Verkehrsunfalls in Anspruch, der sich am 23.1.1992 gegen 8.03 Uhr vor der Ausfahrt des Postamtes in D. auf der K.-Straße ereignet hat.

Der Zeuge B. befuhr zur Unfallzeit mit einem VW-Bulli der Beklagten zunächst die Ausfahrt vom auf die K.-Straße.

Der Kläger beabsichtigte, vom Parkplatz kommend über den Trampelpfad die K.-Straße in Richtung Postgebäude zu überqueren. Der Zeuge B. wollte mit dem Postfahrzeug aus der Ausfahrt nach links in die K.-Straße abbiegen. Aus Sicht des Klägers näherte sich der Zeuge von links. Nachdem der Zeuge B. in die K.-Straße abgebogen war und wenige Meter auf ihr gefahren war, stieß er mit dem Kläger zusammen. Dabei erlitt der Kläger erhebliche Verletzungen, insbesondere einen Schädelbruch.


Aus den Entscheidungsgründen:

Die Berufung des Klägers ist teilweise begründet.

Die Beklagte ist als Halterin des VW-Bulli gem. § 7 StVG grundsätzlich zum Ersatz der dem Kläger entstandenen materiellen Schäden verpflichtet. Insoweit hat sie den sogenannten Unabwendbarkeitsnachweis des § 7 II StVG nicht geführt. Der Kläger muß aber wegen eigenen erheblichen Mitverschuldens gem. § 9 StVG, § 254 BGB eine Anspruchskürzung um 75 % hinnehmen. Die Betriebsgefahr des VW-Bulli tritt demgegenüber jedoch nicht völlig zurück. Ansprüche auf Ersatz immaterieller Schäden stehen dem Kläger dagegen nicht zu, da den Zeugen B., für dessen Pflichtverletzung die Beklagte gem. § 839 BGB, Art. 34 GG einzustehen hätte, kein Verschulden an dem Zustandekommen des Unfalls trifft.

1. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist ein unfallursächlicher schuldhafter Verkehrsverstoß des Zeugen B. nicht bewiesen.

Aufgrund der erneut durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, daß der Kläger - entgegen seiner Darstellung im Senatstermin - nicht bereits mehrere (bis zu 2 bzw. 2,5) m auf seinem Weg über die K.-Straße zurückgelegt hatte, als er von dem VW-Bulli erfaßt wurde. Vielmehr ist er im mittleren oder im Heckbereich gegen die rechte Fahrzeugseite des VW-Bulli geraten und dadurch hinter dem Kraftfahrzeug auf die Fahrbahn gestürzt. ...

2. Angesichts dieses Unfallherganges trifft den Zeugen B. kein unfallursächliches Verschulden. Er konnte auch in dieser Einbiegesituation grundsätzlich darauf vertrauen, daß ihm der Kläger beim Überqueren der Fahrbahn den Vorrang gewähren würde, § 25 III StVO. Der Kläger dagegen durfte die Fahrbahn der K.-Straße erst betreten, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß er keinen Fahrzeugführer behinderte oder gefährdete, § 25 III 1 StVO. Das Vorrecht des Fahrzeugführers war nicht gem. § 26 I StVO ausgeschlossen, da der Kläger die Fahrbahn nicht an einem Fußgängerüberweg überqueren wollte. Auch greift im vorliegenden Fall § 9 III 3 StVO nicht zugunsten des Klägers ein. Diese Vorschrift begünstigt den entgegenkommenden bzw. gleichgerichteten Längsverkehr, d.h. im vorliegenden Fall nur den Fußgänger, der seinen Weg entlang der von ihm benutzten Straße weiter fortsetzen will, nicht dagegen den, der lediglich die Fahrbahn außerhalb eines Kreuzungsbereichs überquert.

Der Kläger hat nicht bewiesen, daß der Zeuge B. gegen die Grundregel ständiger Vorsicht und Rücksichtnahme aller Verkehrsteilnehmer verstoßen hätte. Ein solcher Verstoß läßt sich nicht aus dem Umstand, daß es überhaupt zu einem Unfall gekommen ist, herleiten. Für den vorliegenden Fall könnte ein Verstoß gegen § 1 II StVO nur dann angenommen werden, wenn für den Zeugen B. erkennbare Umstände gegeben waren, die ihm hätten Veranlassung sein müssen, auf seinen Vorrang zugunsten des Klägers zu verzichten, ohne daß er aufgrund anderer Vorschriften dazu verpflichtet gewesen wäre. Solche Umstände sind aber nicht bewiesen. ...

Entgegen der Ansicht des Klägers ist auch nicht feststellbar, daß der Zeuge gegen seine Pflichten aus § 10 StVO verstoßen hat. Als aus einer Grundstücksausfahrt in den fließenden Verkehr einfahrender Verkehrsteilnehmer traf den Zeugen B. zwar grundsätzlich die Pflicht, sich so zu verhalten, daß eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Die gesteigerte Rücksichtspflicht normiert § 10 StVO jedoch in erster Linie im Hinblick auf den fließenden Verkehr, dagegen nicht auch im Hinblick auf Fußgänger, die am Fahrbahnrand auf eine Gelegenheit warten, die Straße zu überqueren. ...

Dem Zeugen B. fällt auch kein schuldhafter Verstoß gegen § 3 StVO zur Last. Der Sachverständige Dipl.-Ing. B. hat für seine Überlegungen eine Geschwindigkeit des VW-Bulli von 15 bis 20 km/h im Unfallzeitpunkt angenommen. Die Annahme einer Geschwindigkeit in dieser Größenordnung ist nicht zu beanstanden. ...

Andererseits hat aber auch die Beklagte den Entlastungsbeweis des § 7 II StVG, der dahin geht, daß auch ein besonders sorgfältiger Fahrer (Idealfahrer) den Unfall nicht hätte vermeiden können, nicht geführt. Ein derartiger Fahrer hätte möglicherweise bereits beim Einfahren in die K.-Straße versucht, Blickkontakt mit dem am Fahrbahnrand stehenden Kläger aufzunehmen und für den Fall, daß ein solcher nicht zustande gekommen wäre, sich bremsbereit gehalten oder den Fußgänger durch Hupen gewarnt. In diesem Fall hätte der Unfall evtl. ganz vermieden werden können, oder es wäre jedenfalls möglicherweise zu geringeren Folgen gekommen, was bereits dem Entlastungsbeweis entgegensteht.

Den Kläger trifft ein gravierendes eigenes Verschulden am Zustandekommen des Unfalls. Er hatte den Vorrang des Zeugen B. zu beachten, als er begann, die K.- Straße zu überqueren. Aus seiner Sicht war die Annäherung des VW-Bulli aus der seinem Standpunkt gegenüberliegenden, straßenartig verbreiteten Grundstücksausfahrt gut zu beobachten. Angesichts der schwierigen Einfahrt für den Zeugen in den fließenden Verkehr hätte der Kläger damit rechnen müssen, daß der Zeuge ihm nicht dieselbe Aufmerksamkeit widmen konnte wie dem fließenden Verkehr. Im übrigen war er an einer Stelle an den Fahrbahnrand getreten, an der ein mit niedrigen Büschen und Strauchwerk bepflanzter Randstreifen den Fußweg von der Fahrbahn trennten. Auch wenn es durch den Randstreifen einen Trampelpfad gab, mußte der Kläger davon ausgehen, daß der Zeuge - er hat in Abrede gestellt, gewußt zu haben, daß hier häufiger Fußgänger die Fahrbahn überqueren - gerade an dieser Stelle nicht mit Fußgängern rechnen würde, die die Straße überqueren wollten. Damit bestand für ihn Grund zu höchster Aufmerksamkeit und besonderer Rücksichtnahme auf den Kraftfahrzeugverkehr. Gegenüber diesem gravierenden Verschulden des Klägers tritt jedoch die Betriebsgefahr des VW-Bulli der Beklagten nicht gänzlich zurück. Die Betriebsgefahr war durch den Einfahrvorgang, der, wie § 10 StVO zu entnehmen ist, eine besondere Gefahr darstellt, gesteigert. Diese Gefahr hat sich bei dem Unfall auch ausgewirkt, denn offenbar hat der Kläger vor dem Überqueren mehr auf den fließenden Verkehr geachtet und den Einbiegeverkehr übersehen.

Die Abwägung insbesondere der vorgenannten Verursachungs- und Verschuldensanteile gem. § 9 StVG, § 254 BGB führt zu einer überwiegenden Haftungsquote des Klägers im Umfang von 75 %.

3. Soweit der Kläger den Ersatz seiner materiellen Schäden im Wege der Feststellungsklage verfolgt, obwohl ein Teil der Schäden bereits bezifferbar ist und in diesem Umfang eine Leistungsklage möglich war, folgt daraus nicht die Unzulässigkeit des Feststellungsantrages. Es entspricht st. Rspr. des BGH (vgl. BGH VersR 1991, 788 m.w.N.), daß der Kläger nicht gehalten ist, seine Klage in eine Leistungs- und eine Feststellungsklage aufzuspalten, wenn zwar ein Teil des Schadens bei Klageerhebung schon entstanden, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten ist. So ist die Sachlage hier. Der Kläger war und ist seit dem Unfalltage arbeitsunfähig. Es ist mithin mit der Entstehung weiterer Schäden auch in Zukunft zu rechnen.



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