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Landgericht Krefeld Urteil vom 22.12.2005 - 3 O 179/05 - Zum Mitverschulden wegen Fehlens eines Radfahrerschutzhelms bei Kindern und besonders gefährdeten Personen

LG Krefeld v. 22.12.2005: Zum Mitverschulden wegen Fehlens eines Radfahrerschutzhelms bei Kindern und besonders gefährdeten Personen


Das Landgericht Krefeld (Urteil vom 22.12.2005 - 3 O 179/05) hat entschieden:
Jedenfalls bei besonders gefährdeten Radfahrern, insbesondere bei Kindern, stellt das Nichttragen eines Schutzhelms ein schuldhaftes Außerachtlassen der eigenen Interessen dar, welcher den Vorwurf des Mitverschuldens begründet.


Siehe auch Radfahrerschutzhelm - helmfreies Radfahren als Mitverschulden? und Stichwörter zum Thema Fahrrad und Radfahrer


Anmerkung:
In der Berufungsinstanz hat das OLG Düsseldorf NZV 2007, 38 f. (Urteil vom 14.08.2006 - I-1 U 9/06) ein Mitverschulden des Radfahrers wegen des Nichttragen des Helms verneint.

Zum Sachverhalt: Die Parteien streiten über Ansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 9. 4. 2002. Der zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alte Bekl. traf sich mit einem Gleichaltrigen, S, auf einem privaten Garagenhof hinter dem Grundstück P 53 in U, um dort abwechselnd mit dem BMX-Fahrrad des Bekl. die parkenden Pkw zu umrunden. Der Garagenhof wird im Bereich der Zufahrt durch eine 1,60 m hohe Hecke umrandet, was dazu führte, dass der dort fahrende Bekl. für den Kl., der einen VW Transporter fuhr, nicht sichtbar war. Der Bekl., der keinen Fahrradhelm trug, befuhr mit seinem Fahrrad die in dem Garagenhof in Richtung Ein- und Ausfahrt führende Fahrbahn. Als der Kl. mit einer Geschwindigkeit zwischen 26 und 33 km/h auf den Garagenhof fuhr, kam es zur Kollision. Obwohl der KI. vor dem Zusammenstoß noch ein Ausweichmanöver versucht hatte, prallte der Bekl. seitlich rechts an dem Wagen des Kl. auf. Der Pkw des KI. stieß infolge des Ausweichmanövers gegen einen geparkten Pkw BMW. Der Kl. hat infolgedessen ein neues Fahrzeug erworben, das am 14. 6. 2002 zugelassen worden ist. Der Bekl. wurde schwer verletzt.

Das LG geht von einer Haftungsverteilung von jeweils 50% aus.


Aus den Entscheidungsgründen:

1. Der Kl. hat gegen den Bekl. einen Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 823 I, 828 II BGB.

1. Das Verhalten des Bekl., nämlich das schnelle Fahren mit einem BMX-Fahrrad im Einfahrtsbereich eines Parkhofes stellt ein fahrlässiges Verhalten dar. Der im Unfallzeitpunkt zehnjährige Bekl. hatte auch die gem. § 828 II BGB erforderliche Einsicht zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit. Denn dass ein solches Verhalten im Straßenverkehr - sei es auch auf einem privaten Parkhof - Gefahren für die körperliche Unversehrtheit von Personen und für das Eigentum birgt, ist auch einem zehnjährigen Kind bewusst.

2. Hinsichtlich der Verursachungsquote hält die Kammer eine Haftung beider Beteiligten zu jeweils 50% für angemessen. Den Bekl. trifft ein erheblicher Mitverschuldensvorwurf.

Auch dem damals zehnjährigen Bekl. musste bewusst sein, dass in den Parkhof einfahrende Fahrzeuge ihn auf Grund der Höhe der Hecke nicht bemerken können, so dass in diesem Bereich die Gefahr eines Unfalls besonders hoch ist. Zudem durfte der Bekl. dort nicht fahren, da es sich nicht um eine öffentliche Straße handelte und in einem privaten Parkhof einfahrende Kraftfahrzeugfahrer nicht mit schnell fahrenden Fahrrädern rechnen müssen. Den dahingehenden Ausführungen des Bekl. vermag das Gericht nicht zu folgen. Es ist anerkannt, dass es ein Mitverschulden des Radfahrers begründet, wenn er den Radweg in der falschen Richtung benutzt (Palandt/Heinrichs, BGB, 64. Auflage, § 254, Rdnr. 20). Wenn bereits in einer solchen Situation, in der mit Radfahrern, die sich derart verhalten, zu rechnen ist, ein Mitverschulden angenommen wird, so muss dies erst recht in einem Bereich gelten, der überhaupt nicht (und nicht nur für die Benutzung in einer Richtung) für die Benutzung durch Radfahrer vorgesehen ist.

Zu Lasten des Bekl. ist weiterhin zu berücksichtigen, dass er im Unfallzeitpunkt keinen Fahrradhelm trug. Zwar sind Fahrradfahrer straßenverkehrsrechtlich nicht zum Tragen eines Helmes verpflichtet, wie sich aus § 21a II StVO ergibt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass das Nichttragen eines Schutzhelmes einen Mitverschuldensvorwurf im Sinne des § 254 BGB nicht begründen kann (Münchener Kommentar zum BGB/Oetker, 4. Aufl. 2003, § 254, Rdnr. 42; a. A. OLG Nürnberg, DAR 1999, 507). Denn bei dem Gebot, die eigenen Interessen zu wahren und dabei Sorgfalt walten zu lassen, handelt es sich um eine Obliegenheit des Gläubigers, die nicht davon abhängt, dass er eine Rechtspflicht oder sogar eine sanktionsbewehrte Norm verletzt hat (BGHZ 135, 235, 240; Münchener Kommentar zum BGB/Oetker, 4. Aufl. 2003, § 254, Rdnr. 3). Eine Selbstgefährdung wird durch die Rechtsordnung regelmäßig nicht verboten; gleichwohl sieht § 254 BGB als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben eine Anspruchsminderung des Geschädigten vor, wenn er vorwerfbar die eigenen Interessen außer Acht lässt (BGHZ 135, 235, 240).

Das Nichttragen eines Fahrradhelmes stellt eine solche Außerachtlassung der eigenen Interessen dar. Die Eignung von Schutzhelmen zur Vermeidung schwerer Schädel-Hirn-Traumata ist seit langem bekannt und wissenschaftlich belegt (Pluisch, NZV 1994, 17, 19). Die Anwendung dieser Sorgfaltsmaßnahme ist auch jedermann wirtschaftlich zumutbar. Vor diesem Hintergrund kann es für die Frage des Mitverschuldens nicht entscheidend darauf ankommen, ob eine allgemeine Verkehrsanerkennung in dem Sinne vorliegt, dass die Schutzmaßnahme etwa bereits von der Bevölkerungsmehrheit praktiziert wird (Staudinger/Schiemann, BGB, 13. Bearbeitung, 2005, § 254, Rdnr. 51, der zudem bereits vom Vorliegen einer allgemeinen Überzeugung, dass ein gewissenhafter Radfahrer einen Schutzhelm tragen müsse; ausgeht; anders OLG Hamm, NZV 2001, 86 = VersR 2001, 1577; NZV 2002, 129; Münchener Kommentar zum BGB/ Oetker, 4. Aufl. 2003, § 254, Rdnr. 42).

Die Frage, ob das Nichttragen eines Schutzhelmes bei Fahrradfahrern generell ein Mitverschulden begründet, kann indes im vorliegenden Fall letztlich dahinstehen. Denn jedenfalls bei besonders gefährdeten Radfahrern, insbesondere bei Kindern wie dem im Unfallzeitpunkt zehnjährigen Bekl. stellt das Nichttragen eines Schutzhelmes ein schuldhaftes Außerachtlassen der eigenen Interessen dar (vgl. Münchener Kommentar zum BGB/Oetker, 4. Aufl. 2003, § 254, Rdnr. 42).

Hinsichtlich des Verschuldensanteils des Kl. war dessen Geschwindigkeit von 26-33 km/h bei der Einfahrt in den Parkhof zwar überhöht, jedoch nicht wesentlich überhöht. Die Lichtbilder der Hofeinfahrt belegen, dass es sich nicht um eine Kurve handelt, die in einem 90-Grad-Winkel verläuft, sondern dass der Winkel abgeschrägt ist, so dass selbst ein Fahrradfahrer, der die Kurve in Richtung der Ausfahrt schneidet, unter Umständen noch rechtzeitig zu erkennen ist. Unter diesen Umständen, die dem Kl. bekannt waren, ist eine Geschwindigkeit um 30 km/h angesichts der durch die Hecke bedingten eingeschränkten Einsehbarkeit des Parkhofes zwar zu hoch, wie bereits dadurch belegt wird, dass der Kl. nicht rechtzeitig auf den Bekl. reagieren konnte. Die Geschwindigkeit des KI. ist jedoch nicht als so überhöht anzusehen, dass eine über 50% hinausgehende Haftungsquote zu Lasten des KI. gerechtfertigt wäre.

Der Kl. muss sich jedoch zudem die Betriebsgefahr seines Pkw anrechnen lassen, so dass insgesamt eine hälftige Teilung der Verschuldensanteile als angemessen erscheint. ..."