Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Verwaltungsgericht Düsseldorf Urteil vom 24.03.2011 - 6 K 3031/10 - Zur fehlerhaften Ablehnung einer Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen ohne weitere Ermessensausübung

VG Düsseldorf v. 24.03.2011: Zur fehlerhaften Ablehnung einer Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen ohne weitere Ermessensausübung


Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Urteil vom 24.03.2011 - 6 K 3031/10) hat entschieden:
Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur StVO hat nicht zur Folge, dass Behörde bei Nichtvorliegen der in dieser genannten Voraussetzungen für die Erteilung einer Park-Ausnahmegenehmigung für Behinderte nicht erteilen darf. Vielmehr erlaubt und gebietet der durch allgemeine Verwaltungsvorschriften nicht abschließend einschränkbare § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO eine zusätzliche Prüfung, ob unabhängig von den Anforderungen, die die AVV zur StVO für die Gewährung von Parkerleichterungen aufstellt, aus anderen Gründen ein - nicht zwingend mit Gehbehinderungen zusammenhängender - atypischer Ausnahmefall vorliegt, der ebenso zu der begehrten Ausnahmegenehmigung führen kann.


Siehe auch Behindertenparkausweis - Gehbehinderung und Behinderte Verkehrsteilnehmer


Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung von verkehrsrechtlichen Verboten und Beschränkungen (Parkerleichterung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung - StVO -, hier für besondere Gruppen schwerbehinderter Menschen).

Die Klägerin weist einen Grad der Behinderung von 80 auf und erfüllt die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B". Einen entsprechender Schwerbehindertenausweis mit diesen Feststellungen wurde ihr aufgrund des Bescheides des Landrates des Kreises C vom 28. September 2009 ausgestellt, der auf einem im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens vor dem Sozialgericht N (Aktenzeichen: S X SB 149/08) geschlossenen Vergleich beruht. Ausweislich der Schwerbehindertenakte des Beklagten (Fachbereich 1.3) wurde bei der Klägerin wegen angeborener Hüftgelenksfehlbildung mit Umstellungsoperationen und künstlichem Hüftgelenk rechts sowie Lymphabflussstörung der Beine mit Schwellneigung ein Grad der Behinderung von 50, wegen Migräne und psychischer Beeinträchtigung ein solcher von 40 und - was zu der Annahme eines gegenüber dem bisherigen Grad von 70 erhöhten Grades der Behinderung von insgesamt 80 führte - wegen Wirbelsäulenverbiegung und -verschleiß bei Beckenschiefstand ein solcher von 20 festgestellt.

Durch Schreiben vom 21. Januar 2010 beantragte die Klägerin bei dem Landrat des Beklagten die Erteilung einer Parkerleichterung für besondere Gruppen behinderter Menschen.

Der Landrat des Beklagten bat seinen für Schwerbehindertenangelegenheiten zuständigen Fachbereich 1.3 um Mitteilung, ob die Klägerin die Voraussetzungen des Erlasses des Ministeriums für Bauen und Verkehr NRW vom 2. Juli 2009 (Parkerleichterung für besondere Gruppen behinderter Menschen - bundesweit einheitliche Regelung -) erfülle.

Nachdem dieser Fachbereich der Abteilung Straßenverkehr des Landrates des Beklagten am 22. April 2010 durch Ankreuzen der Formblattzeile: "Der obige Antragsteller erfüllt die o.a. Voraussetzungen nicht" mitgeteilt hatte, dass die Klägerin diese Voraussetzungen nicht erfülle, lehnte der Landrat des Beklagten durch Bescheid vom selben Tage den Antrag der Klägerin ab.

Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen gemäß der bundesweit einheitlichen Regelung seien:

a. das Vorliegen der Merkzeichen G und B sowie ein Grad der Behinderung von wenigstens 80 allein für Funktionseinschränkungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirkten);

b. das Vorliegen der Merkzeichen G und B und ein Grad der Behinderung von wenigstens 70 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirkbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirkten) sowie gleichzeitig ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 für Funktionsstörungen des Herzens oder der Atmungsorgane;

c. eine Schwerbehinderung infolge der Erkrankung an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa, wenn hierfür ein Grad der Behinderung von wenigstens 60 vorliege;

d. das Vorliegen eines Grades der Behinderung von wenigstens 70, der aufgrund eines künstlichen Darmausgangs und zugleich künstlicher Harnableitung festgestellt worden sei.

Nach der Stellungnahme der Abteilung 1.3 erfülle die Klägerin keine der vorgenannten Voraussetzungen. Falls sich ihre Erkrankung seit dem letzten Antrag verschlimmert habe, könne sie bei der Abteilung 1.3 einen entsprechenden Änderungsantrag stellen. Sollte dieser positiv beschieden werden, bestehe Bereitschaft, auf erneuten Antrag nochmals die Voraussetzungen zu überprüfen.

Die Klägerin hat am 7. Mai 2010 Klage erhoben, mit der sie sinngemäß beantragt,
den Landrat des Beklagten unter Aufhebung seines Ablehnungsbescheides vom 22. April 2010 zu verpflichten, ihr auf ihren Antrag vom 21. Januar 2010 hin eine Ausnahmegenehmigung betreffend eine Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen zu erteilen.
Der Landrat des Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt zur Begründung seines Antrages im Wesentlichen vor: Er sei zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Parkerleichterung gehalten, im Wege der Amtshilfe eine Stellungnahme der Abteilung 1.3 (Schwerbehindertenausweise) anzufordern. Das Amtshilfeersuchen sei allein nach Aktenlage unter Berücksichtigung der dort enthaltenen ärztlichen Stellungnahmen und bescheidmäßigen Feststellungen zu erledigen. Von der Klägerin im Rahmen des Amtshilfeersuchens nachgereichte medizinische Unterlagen seien bei der ärztlichen Stellungnahme über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Parkerleichterungen zu berücksichtigen. Aufgrund des am 3. Februar 2010 eingeleiteten Amtshilfeersuchens sei durch die Abteilung 1.3 mit Schreiben vom 22. April 2010 eine negative Stellungnahme abgegeben worden. Eine ausführliche Begründung erfolge aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht beziehungsweise des Datenschutzes nicht. Aus der Schwerbehindertenakte sei zu entnehmen, wie sich der Gesamt-Grad der Behinderung von 80 aus den einzelnen Graden der Behinderung zusammensetze.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Landrates des Beklagten einschließlich der Schwerbehindertenakte Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im übrigen ist sie unbegründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Verpflichtung des Landrates des Beklagten zur erneuten Bescheidung ihres Antrages vom 21. Januar 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, weil die Ablehnung der Erteilung der begehrten straßenverkehrsrechtlichen Ausnahmegenehmigung durch Bescheid des Landrates des Beklagten vom 22. April 2010 wegen eines Ermessensfehlers rechtswidrig ist (§ 113 Abs. 5 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Ein Anspruch auf die Erteilung der von ihr begehrten Parkerleichterung steht ihr dagegen nicht zu, weil es insoweit an der Spruchreife im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO fehlt.

Anspruchsgrundlage für das von der Klägerin geltend gemachte Begehren ist § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO). Nach dieser Vorschrift kann die Straßenverkehrsbehörde in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen von den Verboten oder Beschränkungen, die unter anderem durch Vorschrifts- oder Richtzeichen erlassen sind.

Wie sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt, ist dem Landrat des Beklagten bei der Frage, ob der Klägerin die von ihr beantragte Ausnahmegenehmigung erteilt werden soll, Ermessen eingeräumt, dessen Ausübung das Gericht grundsätzlich nur eingeschränkt überprüfen kann (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Die Klägerin kann im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens insofern nur die Prüfung beanspruchen, ob der Landrat des Beklagten die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, wobei dieser seine Ermessenserwägungen auch noch im gerichtlichen Verfahren ergänzen kann (vgl. § 114 Satz 2 VwGO).

Dem Zweck von § 46 StVO entsprechend sollen von generellen straßenverkehrsrechtlichen Regelungen, die nach der Straßenverkehrsordnung bestehen, in sachlich besonders gelagerten Einzelfällen Ausnahmen erteilt werden können. Die Straßenverkehrsbehörde hat bei der Entscheidung über eine Ausnahme von einem Verkehrsverbot dem mit dem Verbot verfolgten öffentlichen Interesse die besonderen Belange der von dem Verbot Betroffenen unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegenüber zu stellen.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 22. Dezember 1993 - 11 C 45/92 -, [...], Rdnrn. 22 und 25; BVerwG, Urteil vom 20. Mai 1987 - 7 C 60/85 -, [...], Rdnr. 10.
Die Eröffnung des in § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO eingeräumten Ermessensspielraums setzt nicht das Vorliegen eines "besonderen Ausnahmefalls" als zwingendes objektives Tatbestandsmerkmal voraus. Der Begriff der Ausnahme ist der Rechtsfolgenseite zuzuordnen. Die Feststellung, ob ein besonderer Ausnahmefall vorliegt, erfordert mithin den gewichtenden Vergleich der Umstände des konkreten Falles mit dem typischen Regelfall, der dem generellen Verbot zugrunde liegt. Das Merkmal der Ausnahmesituation ist damit nicht als eigenständiges Tatbestandsmerkmal verselbständigt worden, sondern Bestandteil der der Behörde eingeräumten Ermessensentscheidung.
So das Bundesverwaltungsgericht in seinem zu dem insoweit wortgleichen § 46 Abs. 2 StVO ergangenen Urteil vom 18. September 1997 - 3 C 4/97 -, [...], Rdnr. 21.
Vorliegend hat der Landrat des Beklagten das ihm im Rahmen der Prüfung einer die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung ermöglichenden Ausnahmesituation gesetzlich eingeräumte Ermessen nicht nach Maßgabe von § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz Nordrhein-Westfalen und damit fehlerhaft ausgeübt.

Zwar ist im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung vom 4. Juni 2009 (AVV zur StVO) zu berücksichtigen, die das Ermessen im Sinne einer bundeseinheitlichen gleichmäßigen, am Gesetzeszweck orientierten Anwendung steuert.
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 23. Juni 2004 - 8 A 2057/03 -, [...], Rdnr. 43 zur AVV zur StVO in der Fassung vom 18. Dezember 2001; OVG NRW, Beschluss vom 19. Mai 2010 - 8 E 1159/09 -, S. 4.
Diese sieht in ihrem Art. 1 Nr. 2 II 3. die für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung geltenden Regelungen betreffend Parkerleichterungen auch für andere schwerbehinderte Personengruppen vor. Zu diesen gehört die Klägerin nach den Feststellungen des in Amtshilfe tätig gewordenen, für Schwerbehindertenangelegenheiten zuständigen Fachbereichs 1.3 des Beklagten allerdings nicht. Dieser Umstand führt jedoch entgegen der Ansicht des Landrates des Beklagten nicht dazu, diesen in diesem Fall für in der Weise gebunden zu halten, dass er rechtlich gehindert wäre, der Klägerin eine Ausnahmegenehmigung von den gesetzlichen Parkverboten zu erteilen. Indem der Landrat des Beklagten meint, die Verwaltungsvorschriften konkretisierten abschließend die behördliche Ermessensentscheidung und hinderten ihn generell, sein Ermessen in begründeten anders gelagerten Fällen abweichend auszuüben, verkennt er das Verhältnis der AVV zur StVO. Zwar wird durch ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften das gesetzlich eingeräumte Ermessen abstrakt wahrgenommen und der Behörde eine Orientierung zur Einzelfallentscheidung gegeben. Die Ermessensausübung darf jedoch nach dem Sinn und Zweck der Ermessensermächtigung nicht nach einem starren Schema erfolgen.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. März 2006 - 8 A 2345/05 -, S. 3 unter Hinweis auf BVerwG, Beschluss vom 27. Dezember 1990 - 1 B 162/90 -, [...], Rdnrn. 5, 6.
Die AVV zur StVO hat mithin nicht zur Folge, dass der Landrat des Beklagten bei Nichtvorliegen der in dieser genannten Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung eine solche nicht erteilen dürfte. Vielmehr erlaubt und gebietet der durch allgemeine Verwaltungsvorschriften nicht abschließend einschränkbare § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO eine zusätzliche Prüfung, ob unabhängig von den Anforderungen, die die AVV zur StVO für die Gewährung von Parkerleichterungen aufstellt, aus anderen Gründen ein - nicht zwingend mit Gehbehinderungen zusammenhängender - atypischer Ausnahmefall
vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 13. März 2006 - 8 A 2345/05 -, S. 3
vorliegt, der ebenso zu der begehrten Ausnahmegenehmigung führen kann. Dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut der Norm, der ausdrücklich Ausnahmegenehmigungen in bestimmten Einzelfällen denjenigen gegenüberstellt, die allgemein für bestimmte Antragsteller gewährt werden sollen. Die Kammer folgt insoweit nicht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, das eine uneingeschränkte Bindung auch des Gerichts an die Feststellungen der Versorgungsverwaltung annimmt.
Vgl. Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Urteile vom 9. Februar 2010 - 14 K 2291/09 - , [...], und vom 9. Juni 2009 - 14 K 3637/07 - , [...]; im Ergebnis ebenso VG Düsseldorf, Urteile vom 20. April 2010 - 14 K 4766/09 - , und vom 15. September 2009 - 14 K 1539/09 -.
Der Landrat des Beklagten hat vorliegend die ihm vom Gesetzgeber aufgegebene Bewertung des Sachverhalts im Rahmen einer gebotenen Einzelfallwürdigung, ob sonstige besondere Umstände vorliegen, die bei einem wertenden Vergleich mit den in der Verwaltungsvorschrift angeführten Fallgruppen eine vergleichbare Entscheidung rechtfertigen,
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. März 2006 - 8 A 2345/05 -, S. 3,
unterlassen. Er hat sich - wie sich seinem Bescheid vom 22. April 2010 und seinen Äußerungen im Klageverfahren entnehmen lässt - an die Negativ-Feststellung seines Fachbereichs 1.3 gebunden gesehen. Damit hat er das ihm eingeräumte Ermessen fehlerhaft nicht ausgeübt mit der Folge, dass sein Versagungsbescheid aufzuheben und er nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO zur Neubescheidung des Begehrens der Klägerin zu verpflichten war.

Die Klägerin hat hingegen keinen Anspruch auf Verpflichtung des Landrates des Beklagten zur Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung. Eine ausnahmsweise Reduzierung seines Regelungsermessens auf Null in der Weise, dass nur die von der Klägerin begehrte Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung ermessensgerecht wäre, liegt nach den oben dargelegten Maßstäben für die zu treffende Entscheidung über den von der Klägerin gestellten Antrag nicht vor. Insoweit war die Klage daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.