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BGH Urteil vom 24.02.1981 - VI ZR 297/79 - Zur Sorgfaltspflicht eines überholenden Fahrers bei der Vorbeifahrt an einem geparkten Pkw
BGH v. 24.02.1981: Zur Sorgfaltspflicht eines überholenden Fahrers bei der Vorbeifahrt an einem in seiner Gegenrichtung am linken Fahrbahnrand geparkten Pkw
Der BGH (Urteil vom 24.02.1981 - VI ZR 297/79) hat entschieden:
Zur Sorgfaltspflicht eines überholenden Fahrers bei der Vorbeifahrt an einem in seiner Gegenrichtung am linken Fahrbahnrand geparkten Pkw, der von seinen Insassen nicht mit Sicherheit schon verlassen ist.
Siehe auch Überholen und Seitenabstand - seitlicher Mindestabstand
Tatbestand:
Am 23. Dezember 1975 hatte der Kläger gegen 19.45 Uhr seinen Pkw in B. am - in Richtung Innenstadt gesehen - rechten Rand der B.-strasse geparkt. Das Fahrzeug, an dem das Standlicht (und die Begrenzungsleuchten) eingeschaltet war, ragte noch ein wenig in die insgesamt 5,60 m breite Fahrbahn. Der Kläger selbst befand sich noch in dem Wagen. Als er aussteigen wollte, stieß der Erstbeklagte mit dem von ihm gesteuerten und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten und aus der Gegenrichtung kommenden Pkw während des Überholens eines anderen Pkw gegen die Tür des Wagens des Klägers. Dieser wurde durch die Wucht des Anpralls zurückgeschleudert und erlitt dabei erhebliche Kopfverletzungen, die unter anderem zu einer Erblindung des rechten Auges und einer Hirnleistungsschwäche führten.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Verurteilung der Beklagten zum Ersatz von 2/3 seines Sachschadens von 932,67 DM, nämlich 621,78 DM, und ein "angemessenes" Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich künftiger Schäden begehrt. Das Landgericht hat dem Feststellungsantrag unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote des Klägers von 1/3 stattgegeben und die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 30.000 DM und zum Ersatz des Sachschadens in Höhe von 621,78 DM verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage nur in Höhe von 1/4 gerechtfertigt gehalten und sie im übrigen abgewiesen.
Mit ihrer (zugelassenen) Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag, die Klage völlig abzuweisen, weiter. Der Kläger erstrebt mit seiner Revision die Verurteilung der Beklagten zum Ersatz der Hälfte seines bisher entstandenen Schadens und der entsprechenden Feststellung für die Zukunft.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat nach sachverständiger Beratung festgestellt, der Erstbeklagte sei während seines Überholens am Wagen des Klägers in einem Abstand zwischen 20 cm und deutlich weniger als 60 cm vorbeigefahren. Bei dem Anstoß sei der Kopf des Klägers zwischen Tür und Karosserie eingeklemmt worden. Selbst wenn man davon ausgehe, dass der Erstbeklagte eine Geschwindigkeit von 70 oder 80 km/h eingehalten habe, und wie ein Rennfahrer zunächst dicht aufgefahren und dann plötzlich ausgeschert sei, habe man vom Sitzplatz des Klägers aus das Ausweichmanöver 2,3 sec vor dem Unfall erkennen können.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der Erstbeklagte habe nicht mit einem so geringen Abstand an dem Wagen des Klägers vorbeifahren dürfen. Allein aus dem Umstand, dass an dem Fahrzeug des Klägers das Standlicht eingeschaltet war, habe er nicht schließen dürfen, dass dieses schon verlassen war. Er habe vielmehr in Rechnung stellen müssen, dass der Fahrer bereits das Abblendlicht ausgeschaltet hatte und im Begriff war, den Wagen zu verlassen und damit gerade in dem Augenblick die Tür öffnen und den Kopf herausneigen würde, in dem er an dem abgestellten Wagen vorbeifuhr. Andererseits sei auch das Verschulden des Klägers erheblich, da er mit Blickrichtung zum Fahrzeug des Erstbeklagten gesessen habe und durch einen Blick nach vorne die von dem überholenden Fahrzeug des Erstbeklagten drohende Gefahr habe erkennen können.
II.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Den Angriffen der Revision des Klägers hält das Berufungsurteil jedoch nicht durchweg stand.
1. Rechtlich nicht zu beanstanden ist es, wenn das Berufungsgericht ausführt, der Erstbeklagte habe während des Überholvorganges nicht in einem so geringen Abstand an dem Wagen des Klägers vorbeifahren dürfen.
a) Der Kläger hatte zwar gemäß § 14 Abs 1 StVO gesteigerte Sorgfaltspflichten zu erfüllen: Er musste sich danach beim Aussteigen so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Diese Verhaltenspflicht steht jedoch der Annahme eines Verschuldens des Erstbeklagten nicht entgegen. Der fließende Verkehr darf nicht darauf vertrauen, dass diese gesteigerte Sorgfaltspflicht allgemein beachtet wird (vgl Booß, Straßenverkehrsordnung, 3. Aufl, § 14 Anm 1 a E). Er muss daher, wenn für ihn nicht mit Sicherheit erkennbar ist, dass sich im haltenden Fahrzeug und um das Fahrzeug herum keine Personen aufhalten, einen solchen Abstand einhalten, dass ein Insasse die linke Tür ein wenig öffnen kann (vgl Cramer, Straßenverkehrsrecht, Bd 1, 2. Aufl, § 5 Rdn 89; Möhl in Füll/Möhl/Rüth, Straßenverkehrsrecht, § 14 Rdn 2; aA offenbar OLG Düsseldorf, DAR 1976, 215). Ein solches Fehlverhalten kommt zu häufig vor und ist zu gefährlich (vgl Cramer, aaO § 14 StVO, Rdn 12), als dass ein Vorbeifahrender nicht damit zu rechnen brauchte. Der an einem parkenden Wagen vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer darf nur darauf vertrauen, dass die Tür nicht plötzlich mit einem Ruck weit geöffnet wird (Cramer, aaO § 5 Rdn 89; vgl schon für den früheren Rechtszustand: Senatsurteil vom 23. September 1960 - VI ZR 2/60 = VRS 19, 404).
b) Zutreffend weist das Berufungsgericht daher darauf hin, der Erstbeklagte habe damit rechnen müssen, dass der Kläger die Fahrertür gerade in dem Augenblick geringfügig öffnen und den Kopf herausneigen würde, als er an dem abgestellten Pkw vorbeifuhr. Er habe deshalb in einem so weiten Abstand an dem Pkw des Klägers vorbeifahren müssen, dass dieser gefahrlos die Tür einen Spalt - auch um 20 cm oder etwas mehr - hätte öffnen können. Dies gilt vor allem deshalb, weil - wie das Berufungsgericht feststellt - der Kläger nicht sicher davon ausgehen durfte, dass das Fahrzeug bereits verlassen war (vgl Cramer, aaO § 5 Rdn 89).
2. Vergeblich wendet sich allerdings auch der Kläger mit seiner Revision dagegen, dass das Berufungsgericht ihm ein erhebliches Mitverschulden anlastet.
a) Das Öffnen der linken Tür ist zwar durch § 14 Abs 1 StVO nicht grundsätzlich verboten; der Aussteigende darf diese Tür aber nur öffnen, wenn er sicher sein kann, dass er andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet (vgl BGH, Beschluss vom 11. März 1971 - 4 StR 508/70 = NJW 1971, 1095, 1096 = VRS 40, 463, 465; Möhl, aaO). Der Revision der Beklagten ist ferner darin zu folgen, dass bei modernen Kraftwagen auch ein nur geringfügiges Öffnen der Wagentür zur Vergewisserung über die rückwärtige Verkehrslage vor dem Aussteigen regelmäßig überflüssig und deshalb unzulässig ist, weil solche Kraftwagen mit ihren großen Rundblickscheiben die Beobachtung der rückwärtigen Fahrbahn auch ohne Öffnen der Seitentüre ermöglichen (vgl auch BGH, Beschluss vom 11. März 1971 - 4 StR 508/70 = aaO). Sollte dennoch insoweit ein toter Winkel entstehen, so kann dem Kraftfahrer zugemutet werden, etwas längere Zeit den Rückspiegel zu beobachten (vgl OLG Hamm, VRS 32, 146), ehe er selbst aussteigt oder andere Insassen aussteigen lässt.
b) Ein Verschulden des Klägers wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht zu seinen Gunsten unterstellt, der Erstbeklagte habe erst 2,3 sec vor dem Unfall zum Überholen angesetzt. Der Senat vermag dem Kläger nicht zu folgen, soweit er meint, ihm könne nur vorgeworfen werden, dass er beim Öffnen der Tür und dem Blick nach hinten zu bedächtig, zu langsam vorgegangen sei. Die Auffassung des Klägers könnte nur gebilligt werden, wenn er überhaupt gezwungen gewesen wäre, den Kopf umzudrehen. Nur dann könnte es darauf ankommen, ob er vor dem Blick nach rückwärts hätte sehen können, dass der Erstbeklagte zum Überholen angesetzt hatte. Ein Umdrehen des Kopfes war aber, wie zuvor ausgeführt, zur Gewinnung einer Übersicht über den etwa von hinten nahenden Verkehr nicht erforderlich, so dass das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler davon ausgeht, der Kläger habe, da der Erstbeklagte ihm entgegenkam, in der Zeit, in der dessen Überholabsicht wahrnehmbar war, durch Nichtöffnen oder durch Schließen der bereits teilweise geöffneten Tür auf die entstehende Gefahr reagieren können.
3. Gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge (§§ 254 BGB, 17 StVG) wendet sich die Revision des Klägers jedoch mit Erfolg.
Die Abwägung ist zwar grundsätzlich Sache des tatrichterlichen, vom Revisionsgericht nur auf Rechtsfehler zu überprüfenden Ermessens. Solche Rechtsfehler zeigt der Kläger in seiner Revision jedoch auf.
a) Allerdings ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht auf beiden Seiten die durch das Verschulden des jeweiligen Fahrers erhöhte Betriebsgefahr der Wagen berücksichtigt.
b) Wenn das Berufungsgericht jedoch das Verschulden des Klägers deutlich höher wertet als das des Erstbeklagten, dann gewichtet es rechtsfehlerhaft die Sorgfaltspflichten, die der Erstbeklagte beim Überholen zu beachten hatte, zu gering.
Falsches Überholen zählt zu den "Todsünden" des Straßenverkehrs (Geigel/Lang, Der Haftpflichtprozeß, 17. Aufl, 27. Kap, Rdn 205) und muss auch als eine solche bei einer Abwägung nach den §§ 254 BGB, 17 StVG gewertet werden. Dabei kann es rechtlich keinen Unterschied machen, ob die Strassenverkehrsordnung - wie in § 4 Abs 2 bezüglich des entgegenkommenden Verkehrs - ausgesprochen hat, bestimmte Behinderungen oder Gefährdungen anderer Verkehrsteilnehmer müßten beim Überholen "ausgeschlossen" sein. Daraus folgt jedenfalls nicht, dass eine Gefährdung von Insassen der in der Gegenrichtung des Überholenden an dem für ihn linken Fahrbahnrand stehenden Fahrzeuge nur als leichte Verkehrswidrigkeit anzusehen ist.
III.
Bei dieser Sachlage war das Berufungsurteil im Rahmen des Revisionsangriffs des Klägers und im Kostenpunkt aufzuheben. Der Senat konnte jedoch noch nicht abschließend in der Sache entscheiden, weil sich, worauf die Revision des Klägers weiter abhebt, aus den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht deutlich ergibt, ob der Erstbeklagte an der Unfallstelle überhaupt überholen durfte, insbesondere, welche Geschwindigkeit er und der vor ihm fahrende Pkw dabei einhielt. Die Sache musste daher im Umfang der Aufhebung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, dem der Senat auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen hat.