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OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 17.04.2015 - OVG 1 N 88.14 - Berücksichtigung bisher unbekannter Umstände im Rechtsmittelverfahren

OVG Berlin-Brandenburg v. 17.04.2015: Berücksichtigung bisher unbekannter Umstände im Rechtsmittelverfahren


Das OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 17.04.2015 - OVG 1 N 88.14) hat entschieden:
Ernstliche Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO können sich auch aus Umständen ergeben, die das Verwaltungsgericht nicht kannte und deshalb nicht berücksichtigen konnte. Dies gilt zumindest dann, wenn das fristgerechte Zulassungsvorbringen nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO durch die nachträgliche Einführung weiterer Tatsachen lediglich vertieft wird.


Siehe auch Fahreignung als Voraussetzung für die Erteilung bzw. Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis und Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein


Gründe:

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten unter Aufhebung seiner entgegenstehenden Bescheide mit dem im Ausspruch bezeichneten Urteil dazu verurteilt, eine Technische Prüfstelle der D... mit der Abnahme der Prüfung für die Ersterteilung der Fahrerlaubnis der Klasse B zu beauftragen, weil der Kläger auch ohne die vom Beklagten angeordnete Vorlage des Gutachtens einer anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung als geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen sei. Dass der Kläger eingeräumt habe, „sehr selten Haschisch“ zu konsumieren, stehe dem nicht entgegen, weil hieraus nicht der Schluss gezogen werden könne, dass er zwischen dem Konsum von Haschisch und der Teilnahme am Straßenverkehr im Sinne von § 46 Abs. 1 i.V.m. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung (FeV) nicht trennen könne.

Hiergegen macht der Beklagte innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, die am 26. August 2014 geendet hat, u.a. geltend, es bestünden ernstliche Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Polizei habe erstmalig im Jahr 2008 und erneut im Jahr 2013 festgestellt, dass der Kläger Cannabis konsumiere. Zwar habe dieser nur einen geringen Konsum eingeräumt. Es sei jedoch gerichtsbekannt, dass solche Angaben oftmals verfahrensangepasst bagatellisiert würden. Von daher habe der Umfang des nachgewiesenen Drogenkonsums nicht festgestanden, sondern es sei aufklärungsbedürftig gewesen, ob der Kläger nicht sogar regelmäßig Cannabis konsumiere. Bei dem im Jahr 2013 festgestellten Cannabis-Konsum sei er mit einem Fahrrad auf einem öffentlich zugänglichen Gelände unterwegs gewesen, so dass schon damals ein Bezug zum - wenn auch nicht motorisiertem - Straßenverkehr vorgelegen habe. Mit Schriftsatz vom 14. Januar 2015 trägt der Beklagte ergänzend vor, die Bedenken hinsichtlich der Fahreignung des Klägers seien auch deswegen zutreffend, weil dieser nach den polizeilichen Feststellungen und dem Untersuchungsbericht des Landeskriminalamtes über die dem Kläger am 22. Dezember 2014 entnommene Blutprobe an diesem Tag in Berlin unter dem Einfluss von Alkohol („AAK von 0,31 Promille“) sowie von Cannabis (THC 16 ng/ml und 60 ng/ml THC-Carbonsäure) ein Fahrrad geführt sowie einen Beutel mit Marihuana bei sich gehabt habe.

Mit diesem Vorbringen legt der Beklagte ernstliche Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2Nr. 1 VwGO dar. Solche Zweifel können sich auch aus tatsächlichen Umständen oder Rechtsänderungen ergeben, die das Verwaltungsgericht nicht kannte und deshalb auch nicht berücksichtigen konnte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. November 2002 - 7 AV 3.02 - juris Rn. 8 ff. <11>; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 124 Rn. 92 ff. und § 124a Rn. 257, mit weit. Nachw.). Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss vom 15. Dezember 2003 - 7 AV 2.03 - (juris Rn. 9 f.) dazu folgendes ausgeführt:
„... § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO öffnet den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mit Blick auf das prognostizierte Ergebnis des angestrebten Rechtsmittels (...); die maßgebliche Frage geht also dahin, ob die Rechtssache richtig entschieden worden ist. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO will demgemäß den Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils in einem Berufungsverfahren in den Fällen eröffnen, in denen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist. Das gilt für die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ebenso wie für die darauf bezogene Rechtsanwendung. Es kommt also nicht darauf an, ob das Verwaltungsgericht angesichts der Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung richtig entschieden hat. Entscheidend ist vielmehr, wie das Berufungsgericht über den Streitgegenstand zu befinden hätte. Im Lichte dieses Zwecks sind im Zulassungsverfahren alle vom Antragsteller dargelegten rechtlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für den Erfolg des angestrebten Rechtsmittels entscheidungserheblich sein könnten (...).“
Angesichts der vom Kläger erhobenen Leistungsklage, mit der er eine Zulassung zur Fahrerlaubnisprüfung begehrt, folgt aus dem materiellen Recht, wonach eine Fahrerlaubnis nur zu erteilen ist, wenn der Bewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen auch geeignet ist (§ 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Straßenverkehrsgesetz), dass die Frage, ob der vom Beklagten geltend gemachte Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO besteht, nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag zu beantworten ist. Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung vor. Auch das Verwaltungsgericht hätte, wenn es auch die Teilnahme des Klägers am öffentlichen Straßenverkehr am 22. Dezember 2014 unter dem akuten Einfluss des Cannabis-Wirkstoffs Tetrahydrocannabinol (THC) gekannt hätte, nicht nur den vom Kläger eingeräumten gelegentlichen Cannabis-Konsum, sondern auch den nunmehr eindeutigen Trennungsverstoß im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV in seine Erwägungen einstellen müssen und wäre dann mutmaßlich zu dem Ergebnis gekommen, dass die mit der Klage begehrte Erteilung des Prüfauftrages für die Erlangung der Fahrerlaubnis nicht ohne eine vorherige Aufklärung der Fahreignung des Klägers rechtmäßig gewesen wäre.

Dem steht nicht entgegen, dass die polizeilichen bzw. laborärztlichen Feststellungen über den Trennungsverstoß des Klägers am 22. Dezember 2014 erst mit Schriftsatz des Beklagten vom 14. Januar 2015 in das Verfahren eingeführt worden sind, denn der Beklagte hat sein fristgerechtes Zulassungsvorbringen, wonach die Fahrerlaubnisbehörde begründete Zweifel an der Fahreignung des Klägers haben durfte, hiermit lediglich vertieft und bekräftigt, dass die für die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens erforderlichen Bedenken zu Recht bestanden. Insoweit handelt es sich nicht um eine neue Rüge, sondern um einen ergänzenden Vortrag zu einem bereits fristgerecht erhobenen Einwand. Das Berufungsgericht ist auch durch die Zulassungsbegründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht gehalten, sehenden Auges zum Bestand eines offensichtlich unrichtigen Urteils beizutragen, weil der Antragsteller des Zulassungsverfahrens sein fristgerechtes Vorbringen mit weiteren Tatsachen lediglich außerhalb der Antragsfrist vertieft. Entsprechendes hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 15. Dezember 2003 (a.a.O., juris Rn. 10) auch in Bezug auf (dargelegte) Rechtsänderungen, die erst nach Ablauf der Begründungsfrist eingetreten sind, entschieden. Von daher war die Berufung wie beantragt zuzulassen.

Die Entscheidung über die Kosten des Zulassungsverfahrens folgt der Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.