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Kammergericht Berlin Beschluss vom 02.11.2010 - 12 U 48/10 - Schutzbereich des Angebotsstreifens für Radfahrer

KG Berlin v. 02.11.2010: Zum Schutzbereich des Angebotsstreifens für Radfahrer


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 02.11.2010 - 12 U 48/10) hat entschieden:

  1.  Der Schutzstreifen für Radfahrer ist - anders als der Gehweg - Bestandteil der Fahrbahn, die der Benutzung durch Fahrzeuge dient, und weder Teil des Gehwegs noch ein Seitenstreifen im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO. Ein auf dem Schutzstreifen stehender Fahrzeugführer ist nicht in den Schutzbereich des „Schutzstreifens für Radfahrer“ als Teil der Fahrbahn einbezogen, dessen Sinn und Zweck schon nach dem Wortlaut der Vorschrift allein darin besteht, die Gefährdung von Radfahrern auszuschließen.

  2.  Das Gericht ist nicht gehalten, den auf Antrag einer Partei zur Erläuterung seines Gutachtens geladenen Sachverständigen, der am Erscheinen verhindert war, erneut zu laden, wenn es das Gutachten nicht mehr für entscheidungserheblich hält. - Hat das Gericht dies der beweisbelasteten Partei rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung mitgeteilt und verhandelt die Partei, ohne zuvor einen erneuten Antrag auf Ladung des Sachverständigen zu stellen, so liegt darin ein schlüssiger Verzicht auf dessen Anhörung und die Partei kann im Berufungsverfahren keinen Verfahrensfehler des Erstgerichts geltend machen.


Siehe auch
Schutzstreifen für Radfahrer - Angebotsstreifen
und
Der Sachverständigenbeweis im Zivilverfahren

Gründe:


Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg, die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Berufungsgerichts, § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO.

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Beides ist nicht der Fall.

Das Landgericht hat die Klage mit dem angegriffenen Urteil zu Recht abgewiesen, weil der streitgegenständliche Verkehrsunfall unstreitig beim Einfahren der Klägerin aus einem Grundstück erfolgte und die Klägerin nicht dargelegt und bewiesen hat, dass sie - entgegen dem gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis - ihrer äußersten Sorgfaltspflicht gemäß § 10 StVO nachgekommen ist, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen und dass eine unfallursächliche Sorgfaltspflichtverletzung des Zweitbeklagten festzustellen ist.

Der Senat folgt den im Wesentlichen zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch die Berufungsbegründung nicht entkräftet worden sind. Ergänzend ist auf die Berufungsangriffe Folgendes auszuführen:




1. Das Landgericht hat das rechtliche Gehör der Klägerin nicht verletzt, indem es den Sachverständigen D... nicht zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens erneut geladen hat, nachdem dieser mitgeteilt hatte, der Ladung zu dem vorgesehenen Termin zur mündlichen Verhandlung nicht nachkommen zu können.

a) Das Gericht darf eine aus seiner gegebenenfalls in diesem Zeitpunkt des Verfahrens geänderten Sicht nicht erforderliche Beweisaufnahme abbrechen, wenn es die Klärung des unter Beweis gestellten Vorbringens der beweisbelasteten Partei nicht (mehr) für erforderlich hält.

b) Die Klägerin hat darüber hinaus auch auf die Ladung des Sachverständigen nach § 411 Abs. 3 ZPO konkludent verzichtet, indem sie in der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2010 dessen Nichtladung, die das Gericht bereits durch Verfügung vom 23. Dezember 2009 angekündigt hatte, nicht gerügt und die Ladung des Sachverständigen nicht nochmals beantragt hat (vgl. auch Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 411 Rn 5a, sowie § 295 ZPO). Zwar stellt die ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs eine grundsätzlich unverzichtbare Verfahrensvorschrift dar. Die Klägerin hatte jedoch ausreichend rechtliches Gehör.

Nach der gerichtlichen Verfügung vom 23. Dezember 2009 hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 30. Dezember 2009 nochmals erklärt, dass der Sachverständige angehört werden und sein schriftliches Gutachten ergänzt werden müsse. Hierauf hatte das Landgericht mit Verfügung vom 7. Januar 2010 reagiert und erklärt, dass es nach seiner Rechtsauffassung nicht entscheidungserheblich sei, ob das Fahrzeug der Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls gestanden habe. Genau dies war jedoch, neben Fragen zur Schadenshöhe, der allein streitige Punkt des vom Landgericht eingeholten Sachverständigengutachtens.

Wenn die Klägerin nunmehr in der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2010, die nach erneuter Verhandlung der Parteien zum Ergebnis der Beweisaufnahme und damit erneuter Gewährung rechtlichen Gehörs geschlossen worden ist, die Nichtladung des Sachverständigen nicht nochmals rügte bzw. keinen erneuten Antrag auf dessen Ladung stellte, so kann darin nur ein konkludenter Verzicht auf das Recht der Klägerin gesehen werden, den Sachverständigen unabhängig von einem möglichen Klärungsbedarf des Gerichts anzuhören.


Dass das Gericht den Sachverständigen nicht laden wollte, war der Klägerin bereits vor diesem Termin bekannt; die Gründe waren ihr mitgeteilt worden. Wenn zu diesem Punkt nach erneuter Verhandlung zum Ergebnis der Beweisaufnahme kein neuer oder wiederholter Antrag gestellt wird, so ergibt sich keine Verpflichtung des Gerichts, die Sache zu vertagen und den Sachverständigen - allein auf den bereits zuvor gestellten Antrag der Klägerin - zu laden. Auch hat die Klägerin den aus ihrer heutigen Sicht bestehenden Verfahrensfehler nicht gerügt, § 295 ZPO.

2. Das Urteil beruht schließlich auch nicht auf einem angeblichen Verfahrensfehler des Landgerichts.

a. Zu Recht hat das Landgericht ausgeführt, dass es dahinstehen kann, ob das Fahrzeug der Klägerin, wie der Sachverständige in seinem Gutachten festgestellt hat, zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes noch in Bewegung war, oder, wie die Klägerin behauptet hat, sie zu diesem Zeitpunkt stand.




Die Klägerin war unstreitig aus einem Betriebsgelände auf die Vulkanstraße eingefahren, wodurch es zu einem Zusammenstoß mit dem Beklagtenfahrzeug kam.

Damit streitet der Beweis des ersten Anscheins gegen die Klägerin, ihrer äußersten Sorgfaltspflicht gemäß § 10 StVO nicht nachgekommen zu sein, beim Einfahren auf die Straße eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Kommt es nämlich im Zusammenhang mit dem Einfahren auf die Straße zu einem Unfall, spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen den Einfahrenden (vgl. (vgl. hierzu Hentschel/Dauer/König, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 10 StVO, Rn. 11).

Hieran ändert sich auch nichts, wenn als wahr unterstellt würde, dass die Klägerin im Zeitpunkt des Zusammenstoßes stand.

Denn damit war der Vorgang des Einfahrens aus einer Grundstückseinfahrt noch nicht beendet; dies ist nämlich erst dann der Fall, wenn jede Einflussnahme des Einfahrens auf das weitere Verkehrsgeschehen auszuschließen ist, wenn also sich der Einfahrende vollständig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat, wobei der Einfahrvorgang nicht dadurch unterbrochen wird, dass der Einfahrende bereits einige Zeit in einer wartenden Position weitgehend auf der Fahrbahn gestanden hat (so Senat, Beschluss vom 29. Oktober 2007 - 12 U 5/07 - VRS 114, 405 = KGR 2008, 855; Senat, MDR 2008, 562 = VRS 114, 204 = NZV 2008, 413 = KGR 2008, 410; KG, Urteil vom 18. Januar 2010 - 22 U 121/09 - ).

Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, hat die Klägerin zur Begründung einer Mithaftung der Beklagten nichts dazu vorgetragen, wie lange sie nach ihrer Behauptung bereits gestanden haben will, und dass und weshalb es dem Beklagten zu 2) deshalb möglich gewesen sein sollte, den Zusammenstoß zu verhindern.

b. Die Klägerin kann sich für eine Mithaftung der Beklagten auch nicht erfolgreich darauf berufen, dass der Beklagte zu 2) den Radfahrschutzstreifen (§ 42 Abs. 6 Nr. 1 g StVO) befahren habe.

Der Schutzstreifen für Radfahrer ist - anders als der Gehweg, auf den die Berufungsbegründung auf S. 2 sub 4. Bezug nimmt - Bestandteil der Fahrbahn, die der Benutzung durch Fahrzeuge dient, und weder Teil des Gehwegs noch ein Seitenstreifen im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO (vgl. Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 42 Rn 181 zu Z 240; Janker, Schutzstreifen für Radfahrer, DAR 2006, 68, 69).



Wie das Landgericht bereits unter Rn 41 des angefochtenen Urteils zutreffend betont hat, ist die Klägerin als Kraftfahrerin (und dazu noch außerhalb des fließenden Verkehrs) nicht in den Schutzbereich des „Schutzstreifens für Radfahrer“ als Teil der Fahrbahn einbezogen, dessen Sinn und Zweck schon nach dem Wortlaut der Vorschrift allein darin besteht, die Gefährdung von Radfahrern auszuschließen.

Es kommt daher auch nicht darauf an, ob - wofür vieles spricht - das Befahren des Schutzstreifens durch den Beklagten zu 2), der nach rechts in eine Einfahrt einbiegen wollte, unter die im Gesetz gegebene Formulierung „bei Bedarf“ fällt oder nicht. Denn jedenfalls war der Beklagte zu 2) gegenüber der Klägerin bevorrechtigt, wobei diese die äußerste Sorgfaltspflicht des § 10 StVO traf.

3. Es wird deshalb anheim gestellt, die weitere Durchführung der Berufung zu überdenken.

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