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OLG München Urteil vom 13.11.2015 - 10 U 3964/14 - Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen einer Ausnahme von der Gefährdungshaftung

OLG München v. 13.11.2015: Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen einer Ausnahme von der Gefährdungshaftung


Das OLG München (Urteil vom 13.11.2015 - 10 U 3964/14) hat entschieden:
  1. Die Rechtsbehauptung, die Anwendung des § 7 StVG sei ausgeschlossen, muss von den Parteien nicht erhoben werden. Derjenige, der sich auf den Haftungsausschluss nach § 8 Nr. 1 StVG (Unfallverursachung durch Fahrzeuge, die auf ebener Bahn mit keiner höheren Geschwindigkeit als 20 Kilometer in der Stunde fahren können) beruft, ist darlegungs- und beweisbelastet für die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Bereichsausnahme vom der Gefährdungshaftung.

  2. Soweit es um die strittige Frage des Einhaltens der konstruktionbedingten Schrittgeschwindigkeit eines Fahrzeugs geht, ist es verfahrensfehlerhaft, die gebotene Anhörung beider Parteien nicht in der erforderlichen Anwesenheit eines unfallanalytischen Sachverständigen durchzuführen, obwohl beide Parteien am Unfallgeschehen beteiligt waren.

Siehe auch Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung und Parteivernehmung / Parteianhörung


Gründe:

A.

Der Kläger macht gegen den Beklagten Ansprüche auf Schadensersatz aus einem Unfall mit Beteiligung eines Frachtfahrzeugs geltend. Er verlangt als Hauptforderungen ein ab Rechtshängigkeit verzinstes angemessenes Schmerzensgeld und eine verzinste Unkostenpauschale.

Zugrunde liegt ein Zusammenstoß am 19.06.2013 gegen 22.15 Uhr auf der Frachtrampe des Flughafens München zwischen dem Kläger als Fußgänger und einem vom Beklagten geführten Frachtfahrzeug, bestehend aus Zugmaschine und zwei Anhängern. Der Unfall ereignete sich auf Höhe der Laderampe der Firma C.G. Flughafen München GmbH. Der Kläger hatte mit einem von ihm geführten Transportfahrzeug Kühlwaren abzuholen, sein Fahrzeug jedoch während des Beladevorgangs verlassen. Der Beklagte fuhr zunächst auf der hierfür vorgesehenen Fahrbahn rechts am Kläger vorbei, um dann nach rechts in eine Toreinfahrt abzubiegen. Der Kläger wurde - unter ungeklärten Umständen und aus zwischen den Parteien streitigen Ursachen - von einem der beladenen Anhänger angestoßen und kam zu Sturz. Er macht mittelschwere Verletzungen, heute noch bestehende Beeinträchtigungen aufgrund der Unfallfolgen und eine achtmonatige Arbeitsunfähigkeit geltend. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 05.09.2014 (Bl. 38/46 d. A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht Landshut hat nach Beweisaufnahme die Klage vollständig abgewiesen, weil die grundsätzliche Haftung des Beklagten als Führer eines Kraftfahrzeugs, einschließlich des bei ihm zu vermutenden Verschuldens, hinter dem überragenden Mitverschulden des Klägers zurücktrete. Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 41/46 d. A.) des angefochtenen Urteils verwiesen.

Gegen dieses ihm am 16.09.2014 zugestellte Urteil hat der Kläger mit beim Oberlandesgericht München am 15.10.2014 eingegangenen Schriftsatz vom gleichen Tag Berufung eingelegt (Bl. 54/55 d. A.) und diese mit Schriftsatz vom 29.10.2014, eingegangen bei Gericht am 30.10.2014, begründet (Bl. 59/63 d. A.).

Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils,
- den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 6.000,- € zu bezahlen, nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit,

- den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger eine gleichartig verzinste Unkostenpauschale von 25,- € zu bezahlen,

- den Beklagten zu verurteilen, gleichartig verzinste vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten von 316,18 € zu bezahlen.
Der Beklagte beantragt (Bl. 58 d. A.),
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat gemäß Beschluss vom 23.10.2015 mit Zustimmung der Parteien schriftlich entschieden, § 128 II ZPO; als Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, wurde der 06.11.2015 bestimmt (Bl. 97/98 d. A.). Der Kläger hat hilfsweise beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (Bl. 94/95 d. A.).

Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und die Hinweisverfügungen des Senatsvorsitzenden vom 04.09.2015 (Bl. 82/88) und des Berichterstatters vom 06.10.2015 (B. 92 d. A.) Bezug genommen. Von weiterer Darstellung der Einzelheiten der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i.V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte, sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.

I.

Das Landgericht hat entschieden, dass grundsätzlich denkbare Schadensersatzansprüche des Klägers aus straßenverkehrsrechtlicher Verschuldenshaftung (§§ 18 I, 7 I BGB) des Beklagten entfallen (EU 4/6 = Bl. 41/43 d. A.), weil ein zu vermutendes Verschulden des Beklagten gegenüber dem weit überwiegenden Mitverschulden des Klägers zurückzutreten habe (EU 7/9 = Bl. 44/46 d. A.). Das Erstgericht hat sich davon überzeugt, dass der Kläger den Unfall und damit seien Schaden allein selbst verursacht und verschuldet habe, weil er als Fußgänger den Anweisungen des Flughafenpersonals, sich nicht in Fahrbahnnähe aufzuhalten, nicht nachgekommen sei und unaufmerksam das herannahende Fahrzeug des Beklagten übersehen und überhört habe. Dagegen könne dem Beklagten (nur) zugerechnet werden, dass er möglicherweise den Zusammenstoß durch technisch unvermeidliches Ausscheren seines Anhängers mitverursacht habe. Weil insoweit dem Kläger ein Nachweis nicht gelungen sei, schieden Ansprüche aus deliktsrechtlicher Verschuldenshaftung (§ 823 I, II BGB) aus.

Diese Ergebnisse entbehren, jedenfalls derzeit, angesichts einerseits lückenhafter Tatsachenfeststellung, sowie mangelhafter Beweiserhebung und -würdigung, andererseits fehlerhafter Rechtsanwendung einer überzeugenden Grundlage.

1. Das Ersturteil hat die für den Streitgegenstand entscheidungserheblichen Tatsachen verfahrensfehlerhaft weder vollständig, noch uneingeschränkt zutreffend festgestellt. Deswegen liegen konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Tatsachenfeststellung, nämlich offensichtliche Lücken und Widersprüche, vor, sodass der Senat nicht nach § 529 I Nr. 1 ZPO gebunden (BGH NJW 2005, 1583; WM 2015, 1562), und eine erneute Sachprüfung eröffnet ist. Da die Berufung wenigstens einzelne Gesichtspunkte der Beweiserhebung und -würdigung bemängelt (BB 3/4 = Bl. 61/62 d. A.), besteht keine Bindung des Senats an und keine Beschränkung auf das Berufungsvorbringen, vielmehr sind die gesamten erstinstanzlichen Feststellungen von Amts wegen (so BGH [V. ZS] NJW 2004, 1876; [VI. ZS] NJW 2014, 2797 ohne nähere Begründung) zu überprüfen.

a) Die Beweiserhebung des Erstgerichts ist zu beanstanden, weil eine umfassende und sachgerechte Aufklärung des Unfallgeschehens für entbehrlich gehalten wurde und unterblieben ist, und somit gegen die Verpflichtung verstoßen wurde, den zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt auszuschöpfen und sämtlichen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen (s. Senat, Urt. v. 12.06.2015 - 10 U 3981/14 [juris, Rn. 18, m.w.N.]).

aa) Das Erstgericht hat verfahrensfehlerhaft weder Beweis erhoben, noch Feststellungen getroffen, ob das Fahrzeug des Beklagten konstruktionsbedingt mit keiner höheren Geschwindigkeit als zwanzig Kilometer in der Stunde fahren konnte (§ 8 Nr. 1 StVG), und deswegen eine Haftung des Beklagten nach §§ 18 I, 7 I StVG schon grundsätzlich auszuscheiden hatte (EU 6 = Bl. 43 d. A.). Derartige Umstände wären auch aus Sicht des Erstgerichts entscheidungserheblich gewesen, weil - wenn auch rechtsfehlerhaft - das vermutete Verschulden des Beklagten bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge berücksichtigt wurde (EU 9 = Bl. 46 d. A.).

(1) Die vorstehend beschriebene Klärung wäre erforderlich gewesen, obwohl der Kläger das Versäumnis als ihm günstig nicht rügt. Zwar wurde seine Klage - aus anderen Gründen - als unbegründet abgewiesen, jedoch könnte ein Erfolg seiner Berufung trotz Begründetheit seiner Berufungsrügen scheitern: Die nachteilige Klageabweisung könnte sich aufgrund der Bereichsausnahme des § 8 StVG als jedenfalls zutreffend herausstellen, obwohl die erhobenen Beanstandungen erfolgreich wären. Hätte das Erstgericht, auch nur hilfsweise, entschieden, dass eine Haftung nach § 18 I StVG gar nicht eröffnet sei, hätte der Kläger auch diese Feststellungen angreifen müssen (BGH NJW-​RR 2015, 756).

(2) Das Erstgericht konnte Fragen der grundsätzlichen Haftung nach dem Straßenverkehrsgesetz nicht deswegen für unerheblich halten, weil der Beklagte darlegungs- und beweisbelastet für die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Bereichsausnahme gewesen sei (BGH NZV 1997, 390).

Letzteres ist zwar zutreffend, entbindet das Gericht aber nicht von der Verpflichtung, dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen. Deswegen wäre ein rechtlicher Hinweis (§ 139 I 2 ZPO) zu erteilen gewesen (BGH ZfBR 2012, 24; NJW-​RR 2011, 1556; Senat, Verfügung v. 03.06.2008 - 10 U 2966/08 [juris]), welcher notwendige und zielführende Vortrag des Beklagten vermisst oder welcher gehaltene Vortrag für unzulänglich oder ergänzungsbedürftig gehalten werde. Dem Beklagten sind insoweit keine Versäumnisse vorzuwerfen, denn die Klage war von Anfang an allein auf eine unerlaubte Handlung gestützt (Klageschrift 3 = Bl. 3 d. A.), während das Erstgericht die beabsichtigte Anwendung straßenverkehrsgesetzlicher Vorschriften bewusst nicht offengelegt hat (EU 9 = Bl. 46 d. A.).

Wäre etwa nachgefragt worden, ob die behaupteten geringe Höchstgeschwindigkeit und Geschwindigkeitsdrosselung so gemeint seien, dass eine Bereichsausnahme vorliege, und falls ja, inwieweit Sachvortrag und Beweisantritt verbesserungsbedürftig oder ergänzungswürdig seien, hätten die Parteien, insbesondere der Beklagte, mit hoher Wahrscheinlichkeit geeigneten Vortrag und Beweisangebote geliefert. Dies zeigt sich schon daran, dass auf die Hinweise des Senats (v. 04.09.2015, S. 4/5 = Bl. 85/86 d. A.; v. 06.10.2015, Bl. 92 d. A.) entsprechende schriftsätzliche Ausführungen gefolgt sind (Schriftsätze d. Bekl. v. 02.10.2015, Bl. 90/91 d. A.; v. 06.10.2015, Bl. 93 d. A. u. v. 30.10.2015, Bl. 99/100 d. A.; Schriftsatz d. Kl. v. 20.10.2015, Bl. 94/85 d. A.). Hätte das Erstgericht diese Tatsachenbehauptungen verfolgt, wäre ihm im Rahmen der gebotenen Beweisaufnahme möglicherweise eine Klärung gelungen.

(3) Das Landgericht hatte darüber hinaus keinen Anlass, insoweit seiner Entscheidung nicht etwa nur mangelhaften, sondern vollständig fehlenden Sachvortrag (EU 6 = Bl. 43 d. A.) zugrunde zu legen.

Zum ersten hat der Beklagte vorgetragen, er habe mit dem Zugfahrzeug samt Anhängern maximal Schrittgeschwindigkeit fahren können (Klageerwiderung S. 2 = Bl. 11 d. A.). Zudem hat der Zeuge P. bestätigt, dass die Zugmaschine geschwindigkeitsgedrosselt (gewesen) sei (Protokoll d. mdl. Verhandlung v. 20.08.2014, S. 7 = Bl. 29 d. A.), wobei ohne weiteres davon auszugehen war, dass der Beklagte sich dieses Beweisergebnis, weil ihm günstig, als eigenen Vortrag zu eigen gemacht hat (etwa BGH r + s 2002, 43). Zum zweiten lag eine konstruktionsbedingte Geschwindigkeitsbegrenzung schon nach dem Einsatzzweck des Fahrzeugs und den Lichtbildern (Anlage B5, Bl. 48, 52 der Strafakten) nahe, zum dritten war eine Zulassungsfreiheit des Fahrzeugs unstreitig (EU 2 = Bl. 39 d. A.). Die Rechtsbehauptung, die Anwendung des § 7 StVG sei ausgeschlossen, muss dagegen von den Parteien nicht erhoben werden.

bb) Das Erstgericht hat zudem verfahrensfehlerhaft mögliche schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzungen des Beklagten und deren mögliche Unfallursächlichkeit - auch hinsichtlich des Schadensausmaßes - nicht ausreichend festgestellt. Die insoweit durchgeführte Beweiserhebung ist unzulänglich, weil - bei allein streitentscheidenden Ablauf und genauer Einzelheiten eines Unfallgeschehens - nahe liegende Beweismittel und Feststellungsmöglichkeiten grundlos und ohne Begründung vernachlässigt wurden.

(1) Die gebotene Anhörung beider Parteien (§ 141 I 1 ZPO) wurde nicht in der erforderlichen Anwesenheit eines unfallanalytischen Sachverständigen (vgl. grds. BGH VersR 1979, 939 [juris, Rn. 23]; Senat, Beschl. v. 22.09.2014 - 10 W 1643/14) durchgeführt, obwohl sowohl der Kläger, als auch der Beklagte unmittelbar an dem Geschehen beteiligt waren. Durch den Verzicht auf jegliche Beteiligung unfallanalytischer Sachkunde hat sich das Landgericht die Möglichkeit genommen, die unmittelbaren Unfalldarstellungen zu überprüfen, zu erweitern, ergänzende Fragen zu stellen und weitere Anknüpfungspunkte zu gewinnen.

(2) Das Erstgericht hat - nicht nachvollziehbar - auf die Erholung eines Sachverständigengutachtens verzichtet, und deswegen bereits weder die genaue Anstoßstelle, noch die tatsächlichen, noch die möglichen Bewegungen des Klägers und des Beklagtenfahrzeugs ermittelt. Entscheidungserhebliche Fragen, wie die tatsächliche oder unter den Umständen des Einzelfalles höchstmögliche Fahrgeschwindigkeit des Beklagten, dessen tatsächliche oder technisch mögliche Fahrlinien, sowie die technische Möglichkeit eines Ausscherens des zweiten Anhängers, wären durchaus einer unfallanalytischen, sowie bio- und verletzungsmechanischen Begutachtung zugänglich gewesen. Gleiches gilt für die optischen und akustischen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Klägers. Ergänzend wird auf die Hinweise des Senats (v. 04.09.2015, S. 5/6 = Bl. 86/87 d. A.) verwiesen.

Bei dieser Sachlage ist unter Würdigung aller entscheidungserheblicher Umstände des Streitfalles die unterlassene Einholung eines umfassenden auf zivilrechtliche Fragestellungen bezogenen unfallanalytischen und biomechanischen Sachverständigengutachtens (Senat, Urt. v. 14.03.2014 - 10 U 2996/13 [juris, dort Rz. 5-​7]; v. 11.04.2014 - 10 U 4757/13 [juris, dort Rz. 45, 60]) einerseits, sowie die unterlassene Anhörung des Sachverständigen in Anwesenheit der Parteien verfahrensfehlerhaft, und schließt aus, dass die Beweiserhebung des Erstgerichts auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht (OLG München, Urt. v. 21.02.2014 - 25 U 2798/13 [juris]).

cc) Deswegen ist die gesamte Beweisaufnahme zu wiederholen, § 538 II 1 Nr. 1 ZPO, und hierbei zu klären, ob zum ersten den Beklagten eine straßenverkehrsrechtliche Haftung aus vermutetem Verschulden als Fahrzeugführer (§ 18 I 1 StVG) treffen, und zum zweiten ob er sich vom Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung entlasten kann (§ 18 I 2 StVG), wobei insoweit zunächst die gewöhnliche verkehrserforderliche Sorgfalt und Anforderungen an einen durchschnittlichen Kraftfahrer maßgeblich sind (etwa BGH NJW 1986, 183; OLG Nürnberg, Urt. v. 09.02.2004 - 8 U 2772/03 [BeckRS 2008, 18777]). Abhängig vom Ergebnis dieser Beweiserhebung ist anhand der gültigen Beweislastverteilung festzustellen, welche Partei der Gegenpartei Mitverursachungsbeiträge und (Mit-​)Verschuldensanteile nachweisen kann. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass derzeit keinerlei Sachvortrag oder Beweisantritt als verspätet bezeichnet werden kann, ergänzend wird auf die Hinweise des Senats (v. 04.09.2015, S. 6 = Bl. 87 d. A.) Bezug genommen.

b) Auch an die Beweiswürdigung des Erstgerichts ist der Senat - nach § 529 I Nr. 1 ZPO - angesichts durchgreifender Mängel nicht gebunden.

aa) Schon die unvollständige, fehlerhafte oder unterlassene Beweiserhebung macht das Ersturteil verfahrensfehlerhaft mit der Folge, dass eine sachgerechte Prüfung und Bewertung eines vollständigen Beweisergebnisses fehlen (OLG München, Urt. v. 21.02.2014 - 25 U 2798/13 [juris]).

bb) Darüber hinaus versagt sich das Erstgericht eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Gesichtspunkten, die das Verschulden oder Mitverschulden der Parteien entscheidend bestimmen.

Hinsichtlich möglicher Sorgfaltspflichtverletzungen des Beklagten konnte sich das Landgericht nicht davon überzeugen, dass er „jegliche verkehrserforderliche Sorgfalt angewandt und einen ordnungsgemäßen Abbiegevorgang auch unter Berücksichtigung der Tatsache durchgeführt (habe), dass sich der Kläger im Bereich der Fahrlinie aufgehalten ... (und) er diesen gesehen (habe)“ (EU 6/7 = Bl. 43/44 d. A.). Es bleibt jedoch unklar, wie dieser „ordnungsgemäße Abbiegevorgang“ aus Sicht des Erstgerichts hätte aussehen müssen und welches Fehlverhalten dem Beklagten vorgeworfen werden könnte. Erwähnt wird allein eine - im Übrigen unbestimmte - Abstandsunterschreitung, während eine Verringerung der Geschwindigkeit, ein Verzicht auf die Weiterfahrt oder eine Unterstützung durch eine einweisende Person offenbar nicht bedacht wurden. Zudem kann aufgrund der vorstehenden Erwägungen das Gewicht eines möglichen Verschuldens des Beklagten nicht bestimmt und nicht in ein gültiges Verhältnis zum Mitverschulden des Klägers gesetzt werden, abgesehen davon, dass ein bloß vermutetes Verschulden - entsprechend den Hinweisen des Senats (v. 04.09.2015, S. 3 = Bl. 84 d. A.) - grundsätzlich in der Abwägung keine Berücksichtigung finden darf.

Hinsichtlich des Mitverschuldens des Klägers beschränkt sich das Erstgericht auf die Feststellung und Bewertung von Umständen, die vor dem eigentlichen Zusammenstoß liegen, nämlich den weisungswidrigen Aufenthalt auf der Fahrbahn und die Bemerkbarkeit des herannahenden Beklagtenfahrzeugs (EU 7/9 = Bl. 44/46 d. A.). Dagegen fehlt eine überzeugende Begründung für das überragende Gewicht solcher Verstöße, das sich - auch aus Sicht des Erstgerichts - allein aus einem Hineintreten in die Fahrlinie des Frachtzuges ergeben hätte. Nur dann wäre die Gewichtung des Fehlverhaltens als faktisch alleiniges Verschulden nachvollziehbar und vertretbar, gerade diesen entscheidenden Umstand hat das Landgericht jedoch für nicht feststellbar erachtet. Ergänzend wird auf die Hinweise des Senats (v. 04.09.2015, S. 3 = Bl. 84 d. A.) Bezug genommen.

2. Das Landgericht hat zuletzt entscheidende sachlich-​rechtliche Fragen unzutreffend beantwortet und voreilig jegliches Verschulden des Beklagten als nicht erweislich ausgeschlossen. Deswegen beanstandet die Berufung im Ergebnis zu Recht, das Erstgericht habe die Pflichten eines sorgfältigen Kraftfahrzeugführers verkannt (BB 4 = Bl. 62 d. A.) und ein Mitverschulden des Klägers unsachgemäß gewichtet (BB 4/5 = Bl. 62/63 d. A.).

a) Nach den bisherigen Feststellungen sind Körper und Gesundheit des Klägers verletzt, sowie dessen Vermögen (geringfügig) beeinträchtigt worden, sodass ein Anspruch aus § 823 I, II BGB grundsätzlich in Betracht kommt. Soweit diese Rechtsgüterverletzung beim Betrieb eines der Halterhaftung (§ 7 I StVG) unterfallenden Kraftfahrzeugs (§ 8 Nr. 1 StVG) geschehen sein sollte, würde der Beklagte auch als Fahrzeugführer aus vermutetem Verschulden (§ 18 I StVG) mit nach § 18 I 2 StVG umgekehrter Beweislast haften. Insoweit sind die Erwägungen des Erstgerichts zutreffend und nicht zu beanstanden, ergänzend wird auf die Hinweise des Senats (v. 04.09.2015, S. 2 = Bl. 83 d. A., II 1, 2) verwiesen.

b) Das Landgericht unterliegt insoweit einem Rechtsirrtum, als vermutetes Verschulden des Beklagten zur Bewertung seines Haftungsanteils herangezogen wird. § 18 I StVG betrifft jedoch ausschließlich den Haftungsgrund, der Beklagte haftet zunächst dem Grunde nach unbeschränkt, wenn erstens eine Haftung nach dem StVG grundsätzlich eröffnet sein sollte, und ihm eine Entlastung (weiterhin) misslingen sollte. Erst in diesem Rahmen können eine Mitverursachung oder ein Mitverschulden des Klägers bedeutsam werden (Senat, Urt. v. 06.02.2015 - 10 U 70/14 [juris, Rn. 40]; sowie Urt. v. 28.02.2014 - 10 U 3878/13 [juris, Rn. 6] u. Urt. v. 16.05.2008 - 10 U 1701/07 [juris] für das gleichartige Verhältnis von § 17 III zu § 17 I, II StVG). Diese sind im Rahmen der Haftungsverteilung gesondert und nachrangig zu prüfen und zu bewerten (BGH NJW 1962, 796), entsprechend den Hinweisen des Senats (v. 04.09.2015, S. 2 = Bl. 83 d. A., II 3).

c) Zudem wird die gültige Beweislastverteilung nicht ausreichend beachtet, die im Streitfall davon abhängt, ob der Kläger sich neben deliktsrechtlicher Vorschriften (auch) auf eine straßenverkehrsrechtliche Anspruchsgrundlage stützen kann. Ergänzend wird auf die Hinweise des Senats (v. 04.09.2015, S. 2/3 = Bl. 83/84 d. A.) Bezug genommen.

aa) Im ersten Fall wäre zunächst der Kläger darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass der Beklagte den Unfall verursacht und verschuldet habe. Erst wenn dieser Beweis gelungen sein sollte, wäre ein gegen den Kläger gerichteter Mitverschuldenseinwand (§ 254 I StGB) erheblich und dessen tatsächliche Voraussetzungen vom Beklagten zu beweisen.

bb) Im zweiten Fall trüge zunächst der Beklagte die Beweislast dafür, dass Unfall und Schadensausmaß „vorwiegend von dem ... anderen Teil verursacht“ oder verschuldet worden seien (§§ 9 StVG 254 I BGB), insbesondere in einem Umfang, der seine vollständige Freistellung von einer Haftung rechtfertige. Erst wenn dieser Beweis geführt sein sollte, wäre der Kläger beweispflichtig für Mitverursachungsbeiträge und Verschuldensanteile des Beklagten, die gegen dessen verringerte oder entfallende Haftung abzuwägen wären.

Hieraus folgend wäre zum einen eine vollständige und genaue Prüfung und Darlegung des Fahrverhaltens des Beklagten, insbesondere der Wahrnehmung und Beurteilung des Verhaltens des Klägers, geboten gewesen, zum anderen hätten Entfernungen, Geschwindigkeiten und Sichtverhältnisse ermittelt, und gegebenenfalls eine Berechnung zugunsten des Klägers durchgeführt werden müssen, nicht zugunsten des Unfallfahrers (s. a. BGH NJW 2014, 3300).

d) Weiterhin wäre zu berücksichtigen gewesen, dass im Rahmen der Haftungsverteilung nur solche Umstände Berücksichtigung finden können, die sich erwiesenermaßen auf den Unfall ausgewirkt haben, also sich als Gefahrenmoment in dem Unfall tatsächlich niedergeschlagen haben. Diese Umstände müssen feststehen, also unstreitig, zugestanden oder nach § 286 I 1 ZPO bewiesen sein (BGH NJW 1995, 1029; NZV 2007, 190; NJW 2014, 217; Hinweisverfügung v. 08.09.2015, Bl. 38/39 d. A.). Deswegen ist eine Bewertung des bloß vermuteten Verschuldens des Beklagten (EU 9 = Bl. 46 d. A.) weder zulässig, noch sachgerecht (Hinweise des Senats v. 04.09.2015, S. 3 = Bl. 84 d. A.).

e) Eine Gewichtung der Mitverursachung und des (Mit-​)Verschuldens kann nur aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls erfolgen, insbesondere der genauen Klärung des Unfallhergangs (Senat, Urt. v. 12.06.2015 - 10 U 3981/14 [juris, Rn. 49, m.w.N.]; Urt. v. 31.07.2015 - 10 U 4377/14 [juris, Rn. 55, m.w.N.]). Hierzu fehlen jedoch tragfähige Feststellungen des Erstgerichts, unstreitig und damit beanstandungsfrei festgestellt ist bisher lediglich, dass der Kläger von einem Anhänger des vom Beklagten geführten Frachtzuges angestoßen und zu Fall gebracht worden ist.

f) Zuletzt ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des BGH auch bei erheblich verkehrswidrigem Verhalten eines Fußgängers im Regelfall nicht jeglicher Schadensersatz zu versagen ist (zuletzt: BGH DAR 2015, 455: „... eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten ist (im Grundsatz) ... unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehen“), sondern lediglich in Fällen der Unvermeidbarkeit für den Fahrzeugführer oder bei besonderen Umständen (Senat, Urt. v. 12.06.2015 - 10 U 3981/14 [juris, Rn. 48]; Urt. v. 31.07.2015 - 10 U 4377/14 [juris, Rn. 43, 48]; Hinweise v. 08.07.2015, S. 12 = Bl. 163 d. A.).

Bei dieser Sachlage ist bisher nicht vertretbar, Sorgfaltspflichtverletzung und Verschulden des Beklagten für ausgeschlossen oder nicht erwiesen zu halten, vielmehr wird das Erstgericht hierfür maßgebliche und geeignete Umstände erst noch verfahrensfehlerfrei zu ermitteln und sachgerecht zu würdigen haben.

II.

Der Senat hat eine eigene Sachentscheidung nach § 538 I ZPO erwogen, sich aber - entgegen seiner sonstigen Praxis - aus folgenden Gründen dagegen entschieden:

1. Eine derartig mangelhafte Beweiserhebung stellt einen Zurückverweisungsgrund nach § 538 II 1 Nr. 1 ZPO dar (Senat, Urt. v. 31.07.2015 - 10 U 4733/14 [juris, dort Rz. 57, m.w.N.]). Als schwerwiegender Verfahrensfehler erweist sich, dass das Erstgericht die Pflicht zu umfassender Sachverhaltsaufklärung, insbesondere durch geeignete sachverständige Begutachtungen, verletzt hat. Die erforderliche Beweisaufnahme wäre umfangreich und aufwändig (§ 538 II 1 Nr. 1, 2. Satzhälfte ZPO), weil der Senat sich nicht darauf beschränken dürfte, einzelne Sachverständigengutachten zu erholen. Vielmehr wären zusätzlich erneut beide Parteien anzuhören und erneut die bisher benannten Zeugen zu vernehmen, denn eine Beurteilung sowohl der Glaubhaftigkeit der Sachdarstellung, als auch der Glaubwürdigkeit der Zeugen und Parteien anhand ihrer früheren Aussagen wäre rechtsfehlerhaft, wenn der Senat auf einen eigenen persönlichen Eindruck verzichten wollte (s. etwa BGH r + s 1985, 200; NJW 1997, 466; NZV 1993, 266; VersR 2006, 949). Durch die gebotene Beweisaufnahme würde der Senat zu einer mit der Funktion eines Rechtsmittelgerichts unvereinbaren teilweise erstmaligen Beweiserhebung, im Übrigen vollständigen Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens (Senat VersR 2011, 549 ff.) gezwungen. Hinzu kommt, dass je nach dem Ergebnis der durchzuführenden Beweiserhebung über den Hergang des Unfalls auch zur Höhe des Schmerzensgelds erstmals entschieden werden müsste (§ 538 II 1 Nr. 4, 2. Alt. ZPO, Senat NJW 1972, 2048 [2049]).

2. Auch die aus unterlassener Beweiserhebung und fehlerhafter Rechtsauffassung folgende, teilweise fehlende oder erheblich fehlerhafte Beweiswürdigung stellt einen Verfahrensverstoß dar, welcher zur Zurückverweisung gemäß § 538 II 1 Nr. 1 ZPO berechtigt (Senat, Urt. v. 31.07.2015 - 10 U 4733/14 [juris, dort Rz. 58, m.w.N.]).

3. Der durch die Zurückverweisung entstehende grundsätzliche Nachteil einer Verzögerung und Verteuerung des Prozesses muss hingenommen werden, wenn ein ordnungsgemäßes Verfahren in erster Instanz nachzuholen ist und den Parteien die vom Gesetz zur Verfügung gestellten zwei Tatsachenrechtszüge erhalten bleiben sollen (Senat NJW 1972, 2048 [2049); eine schnellere Erledigung des Rechtsstreits durch den Senat ist im Übrigen angesichts seiner außerordentlich hohen Geschäftsbelastung vorliegend nicht zu erwarten.

III.

Die Kostenentscheidung war dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (OLG Köln NJW-​RR 1987, 1032; Senat in st. Rspr., zuletzt VersR 2011, 549 ff.; NJW 2011, 3729).

Die Gerichtskosten waren gemäß § 21 I 1 GKG niederzuschlagen, weil ein wesentlicher Verfahrensmangel - nur ein solcher kann zur Aufhebung und Zurückverweisung führen (§ 538 II 1 Nr. 1 ZPO) -, denknotwendig eine unrichtige Sachbehandlung i. S. des § 21 I 1 GKG darstellt.

§ 21 I 1 GKG erlaubt auch die Niederschlagung von Gebühren des erstinstanzlichen Verfahrens (etwa Senat, Urt. v. 27.01.2012 - 10 U 3065/11 [juris, dort Rz. 12]).

IV.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 S. 1 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH JZ 1977, 232; Senat VersR 2011, 549; NJW 2011, 3729), allerdings ohne Abwendungsbefugnis. Letzteres gilt umso mehr, als das vorliegende Urteil nicht einmal hinsichtlich der Kosten einen vollstreckungsfähigen Inhalt aufweist.

V.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gemäß § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben.

Weder eine grundsätzliche Bedeutung der Sache (BVerfG NJW 2014, 2417 [2419, Tz. 26-​32]; BGH NJW-​RR 2014, 505) noch die Fortbildung des Rechts (BVerfG a.a.O. Tz. 33) oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (BVerfG a.a.O. [2420, Tz. 34]; BGH NJW 2003, 1943) erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Die Entscheidung weicht nicht von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung ab und betrifft einen Einzelfall, der grundlegende Rechtsfragen nicht aufwirft.