Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Oberlandesgericht Hamm Beschluss vom 07.06.2019 - 7 U 92/18 - Unfall zwischen Pedelec und Fußgänger

OLG Hamm v. 07.06.2019: Unfall zwischen Pedelec und Fußgänger




Das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 07.06.2019 - 7 U 92/18) hat entschieden:

  1.  Auf einem gemeinsamen Geh- und Radweg gilt für einen Radfahrer das Rechtsfahrgebot; Fußgänger dürfen den Weg auf der gesamten Breite benutzen. Radfahrer und Fußgänger müssen gegenseitig aufeinander Rücksicht nehmen.

  2.  Ein Pedelecfahrer darf bei Annäherung an einen links auf einem 2,50 m breiten kombinierten Geh- und Radweg gehenden Fußgänger nicht sorglos seine Fahrt fortsetzen, wenn er nicht sicher sein kann, dass der Fußgänger seine Annäherung und damit die Gefährlichkeit eines Abweichens von seiner Gehlinie erfasst hat.


Siehe auch
Elektro-Zweiräder - Pedelec - Segway - E-Bike - E-Scooter - E-Roller
und
Gemeinsame Rad- und Fußwege - kombinierter Geh- und Radweg

Gründe:


I.

Der Kläger begehrt von der Beklagten den Ersatz materieller und immaterieller Schäden aus einem Unfall am ... 2017 gegen 15:05 Uhr, an dem er als Fahrer eines Pedelec-Fahrrads und die Beklagte als Fußgängerin beteiligt war.

Der Kläger befuhr mit seinem Pedelec-Fahrrad aus ... kommend den parallel zur Ser Straße verlaufenden gemeinsamen Fuß- und Radweg, der eine Breite von ca. 2,50 m aufweist, in Richtung ... . Die Beklagte lief als Fußgängerin ebenfalls in Richtung ... . Sie befand sich zunächst auf dem linken Teil des Fuß- und Radwegs. Sodann wechselte sie, ohne sich zuvor umzusehen, auf die rechte Seite des Weges. Dabei kam es zu einem Zusammenstoß mit dem Kläger, der beabsichtigte, die Beklagte auf der rechten Seite zu überholen. Dabei kam der Kläger zu Fall und verletzte sich. Der Kläger kann sich an den Unfall und seinen Hergang nicht erinnern. Die Unfallursächlichkeit der Verletzungen sowie materiellen Schäden sind zwischen den Parteien erstinstanzlich streitig gewesen.

Der Kläger ist der Auffassung gewesen, die Beklagte sei ihm aufgrund des plötzlichen und für ihn unerwarteten Seitenwechsels zum Schadensersatz verpflichtet.

Er hat beantragt,

   die Beklagte zu verurteilen, an ihn 6.993,43 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 06.07.2017 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 650,34 € zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

   die Klage abzuweisen.

Sie trägt vor, der Kläger habe ihren Richtungswechsel einkalkulieren müssen, insbesondere, weil er vor dem Unfallgeschehen nicht durch Klingeln oder Rufen auf sich aufmerksam gemacht habe. Der Kläger sei nur zu Fall gekommen, weil er bei der Vorbeifahrt an ihrer Umhängetasche hängengeblieben sei.

Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Tatbestand wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands bis zum Abschluss der ersten Instanz gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, hat das Landgericht Münster die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen verurteilt, an den Kläger 3.453,21 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.07.2017 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 413,65 € zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte hafte gegenüber dem Kläger gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 BGB, weil sie mangels vorherigen Umsehens gegen ihre Pflicht aus § 1 Abs. 2 StVO, den Seitenwechsel ohne Gefährdung vorzunehmen, verstoßen habe. Den Kläger treffe jedoch ein hälftiges Mitverschulden gemäß § 254 BGB, weil er von hinten kommend in einer Geschwindigkeit auf die Beklagte zugefahren sei, die ihn sein Fahrrad nicht mehr beherrschen ließ. Jedenfalls habe er nicht innerhalb der übersehbaren Strecke anhalten können. Er sei auch gehalten gewesen, durch Klingelzeichen oder Rufen auf sich aufmerksam zu machen und seine Geschwindigkeit zu reduzieren und sich bremsbereit zu verhalten, bis er habe sicher sein können, dass die Beklagte ihn von hinten kommend überhaupt bemerkt habe.




Die Unfallbedingtheit der Verletzungen sowie die behauptete Behandlung sei aufgrund der seitens des Klägers vorgelegten Atteste als nachgewiesen anzusehen. Das einfache Bestreiten der Beklagten reiche insoweit nicht aus.

Der Höhe nach sei ein Schmerzensgeld von 6.000 € angemessen, der Haushaltsführungsschaden mit 560 € und die weiteren materiellen Schäden - Fahrradhelm, Reparaturkosten des Fahrrads, Hose und Jacke sowie die Kostenpauschale - mit insgesamt 346,42 € zu bemessen. Von dem Gesamtbetrag in Höhe von 6.906,42 € seien 50 %, mithin 3.453,21 € zu ersetzen.

Mit der Berufung begehrt der Kläger die Abänderung des angefochtenen Urteils, soweit die Klage aufgrund der Annahme einer Haftungsquote von 50 % abgewiesen wurde. Die Feststellung des Landgerichts, er sei mit unangepasster Geschwindigkeit gefahren, sei unzutreffend. Dafür gebe es keine Anhaltspunkte. Da es hell gewesen sei, habe er auch innerhalb der übersehbaren Strecke anhalten können. Die Beklagte habe den Unfall allein durch ihren Richtungswechsel verursacht, der unberechtigt gewesen sei, weil auf kombinierten Fuß- und Radwegen Fußgänger die linke Seite und die von hinten kommenden Fahrzeuge die rechte Seite zu benutzen hätten. Daher habe er mit der willkürlichen Änderung der Bewegungsrichtung durch die Beklagte auch nicht rechnen müssen.

Der Kläger beantragt nunmehr,

   das am 07.11.2018 verkündete Urteil des Landgerichts Münster - 14 O 202/18 - teilweise abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.453,21 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszins seit dem 06.07.2017 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskoten in Höhe von 236,69 € zu zahlen.

Die Beklagte hat sich der Berufung des Klägers angeschlossen und beantragt,

   das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Sie trägt vor, der Kläger habe den Unfall unter Verletzung der ihm obliegenden Rücksichtnahmepflichten allein verursacht. Er sei als überlegener Verkehrsteilnehmer verpflichtet gewesen, sich darüber zu vergewissern, dass sie - die Beklagte - sein Herannahen von hinten habe wahrnehmen können und habe daher durch Rufen oder Klingeln auf sich aufmerksam machen oder die Geschwindigkeit derart reduzieren müssen, dass ein Zusammenstoß vermieden worden wäre. Die Beklagte habe mit einem Überholen auf der rechen Seite nicht rechnen müssen. Der Seitenwechsel der Beklagten sei auch nicht abrupt erfolgt, weil für den Wechsel von der linken auf die rechte Seite 5-6 Schritte benötigt würden.





II.

Nach § 513 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere - dem Kläger günstigere - Entscheidung rechtfertigen. Beides zeigt die Berufungsbegründung nicht auf.

Ein über die erstinstanzliche Verurteilung hinausgehender Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadensersatz gemäß § 823 BGB steht dem Kläger gegenüber der Beklagten schon deshalb nicht zu, weil ihn ein Mitverschulden von mindestens 50 % gemäß § 254 BGB trifft.

1. Bei einem gemeinsamen Fuß- und Radweg gemäß Zeichen 240 zu § 41 StVO treffen den Radfahrer grundsätzlich höhere Sorgfaltspflichten als den Fußgänger. Für den Radfahrer gilt im Grundsatz auch auf gemeinsamen Geh- und Radwegen das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO), während Fußgänger den Weg auf der gesamten Breite benutzen und dort auch stehenbleiben dürfen (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 09.10.2012, 22 U 10/11, NZV 2013, 388, bei juris Rn. 12; LG Hannover, Urteil vom 15.03.2006, 11 S 84/05, NZV 2006, 418, bei juris Rn. 5; Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage 2016, § 41 StVO Rn. 155). Sie brauchen, da dort Radfahrer keinen Vorrang haben, nicht fortwährend nach Radfahrern, die etwa von hinten herankommen könnten, Umschau zu halten, sondern dürfen darauf vertrauen, dass Radfahrer rechtzeitig durch Glockenzeichen auf sich aufmerksam machen, um dann aber eine Passage freizugeben (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 09.10.2012, a.a.O., Lafontaine in: jurisPK, a.a.O.). Radfahrer haben die Belange der Fußgänger auf solchen Wegen besonders zu berücksichtigen und insbesondere bei unklaren Verkehrslagen gegebenenfalls Schrittgeschwindigkeit zu fahren, um ein sofortiges Anhalten zu ermöglichen; mit Unaufmerksamkeiten oder Schreckreaktionen muss der Radfahrer rechnen (vgl. OLG München, Urteil vom 04.10.2013, 10 U 2020/13, NJW-RR 2014, 602, bei juris Rn. 25; OLG Frankfurt, Urteil vom 09.10.2012, a.a.O.Lafontaine in: jurisPK, a.a.O.).


2. Unter Abwägung dieser Gesichtspunkte und in Ansehung der konkreten Örtlichkeit muss sich der Beklagten jedenfalls ein mitwirkendes Verschulden an dem Unfall entgegenhalten lassen, dass der Senat mit mindestens 50 % bewertet. Dies ergibt sich im Einzelnen aus den folgenden Erwägungen:

Die Beklagte, die grundsätzlich zu einer Nutzung des Weges auf der gesamten Breite berechtigt war, hatte sich zunächst am linken Wegesrand bewegt. In dieser Situation war ein Überholen durch von hinten kommende Radfahrer auf der rechten Seite gefahrlos möglich. Anhaltspunkte für eine Gefährdung, die der Kläger gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 StVO durch Abgabe eines Klingelzeichens hätte anzeigen müssen, bestanden zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Gefährdung trat vielmehr erst ein, als die Beklagte zum Wechsel auf die rechte Seite des Weges ansetzte.

Der Kläger hätte jedoch, wenn er auch mangels Gefährdungsanzeichen das Überholen nicht mittels Klingelzeichen ankündigen musste, so langsam fahren müssen, dass er sofort anhalten konnte. Denn für ihn war erkennbar, dass die Beklagte ihn nicht gesehen hatte, weil er sich ihr von hinten näherte. Er musste daher mit einer Unaufmerksamkeit oder Schreckreaktion der Beklagten rechnen, die - wie der Unfall zeigt - angesichts der geringen Breite des Weges von nur 2,50 m zu einer Gefährdungssituation führen konnte. Darauf hätte er seine Fahrweise einrichten müssen.

Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Beklagte zunächst am linken Wegesrand gegangen war und dadurch bei dem Kläger einen Vertrauenstatbestand dahingehend geschaffen hatte, dass er sie auf der rechten Seite passieren konnte. Selbst wenn eine Verpflichtung der Beklagten gemäß § 1 Abs. 2 StVO bestanden hätte, sich vor dem Wechsel auf die rechte Seite des Weges umzuschauen, trafen die höheren Sorgfaltspflichten vorliegend den Kläger als Radfahrer. Dies gilt in besonderer Weise unter Berücksichtigung des Umstands, dass er sich der Beklagten von hinten näherte, weil er aus dieser Position heraus das Gesamtgeschehen im Gegensatz zu der Beklagten überblicken konnte (vgl. OLG München, Urteil vom 04.10.2013, a.a.O. Rn. 28).

3. Der Höhe nach scheiden weitergehende Ansprüche hinsichtlich des materiellen Schadens, der nach eine Haftungsquote von 50 % bemessen wurde, mithin aus. Auch das erstinstanzlich zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 3.000 € erscheint unter Berücksichtigung der Unfallfolgen und des mitwirkenden Verschuldens des Klägers angemessen.



III.

Der Senat weist vorsorglich bereits jetzt darauf hin, dass die Anschlussberufung der Beklagten im Falle der Rücknahme der Berufung des Klägers oder ihrer Zurückweisung durch Beschluss gemäß § 524 Abs. 4 ZPO wirkungslos wird.

IV.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verspricht sich der Senat angesichts dessen, dass die Beweismittel zum Haftungsgrund erschöpft sind und lediglich durch höchstrichterliche Rechtsprechung geklärte Rechtsfragen berührt werden, keine neuen Erkenntnisse, so dass eine mündliche Verhandlung nach einstimmigem Votum nicht geboten ist.

- nach oben -



Datenschutz    Impressum