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Verwaltungsgericht Bayreuth Urteil vom 30.04.2020 - B 1 K 20.110 - MPU-Anordnung und Entzug der Fahrerlaubnis nach Versperrung einer Rettungsgasse

VG Bayreuth v. 30.04.2020: MPU-Anordnung und Entzug der Fahrerlaubnis nach Versperrung einer Rettungsgasse




Das Verwaltungsgericht Bayreuth (Urteil vom 30.04.2020 - B 1 K 20.110) hat entschieden:

   Die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens ist rechtswidrig, wenn die Behörde von dem ihr gesetzlich eingeräumten Ermessen keinen oder keinen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat. Dies ist der Fall, wenn der Fahrerlaubnisinhaber nach dem Blockieren einer Rettungsgasse nur wegen Nötigung ohne Fahrerlaubnisentzug oder Fahrverbot und ohne Punktebewertung im Fahreignungs-Bewertungssystem sanktioniert wurde und sich auch bei einer umfassenden Prüfung aller Umstände nicht sicher ist, ob die sich aus der begangenen (Anlass-)Straftat (sowie ggf. weiteren Umständen) ergebenden Eignungszweifel hinreichend gewichtig sind, um die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen. Die Behörde muss ihre diesbezüglichen Erwägungen auch offenlegen.

Siehe auch
Rettungsgasse bei stockendem Verkehr
und
Folgen der Nichtbeibringung des MPU-Gutachtens - Mitwirkungsverweigerung an Untersuchungen

Tatbestand:


Der am ... geborene Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A18, A1, B, BE, C1, C1E, L, M und T durch Bescheid des Landratsamts ... (Landratsamt) vom 28. Januar 2020.

Das Landratsamt ...erhielt am 15. April 2019 eine Mitteilung der Polizeiinspektion ...über eine Ermittlung (Nötigung im Straßenverkehr). Es handelt sich um die Anzeige eines Vorfalls am 29. März 2019. Der Sachverhaltsdarstellung der Polizei ist Folgendes zu entnehmen: Am 29. März 2019 habe ein Rettungstransportwagen in der Sackgasse auf der Fahrbahn vor der Intensivpflegeeinrichtung geparkt (zum Transport eines Patienten mit einer schweren Hirnschädigung in die Intensivpflegeeinrichtung). Als der Patient in die Einrichtung verbracht worden sei, hätten die Rettungskräfte einen Pkw mit dem Kennzeichen ... hinter dem Rettungsfahrzeug bemerkt. Als sie rückwärts aus der Sackgasse hätten fahren wollen, habe der Fahrer des Pkw sie zur Rede gestellt. Als sie geantwortet hätten, dass keine andere Stellplatzmöglichkeit vorhanden gewesen sei und sie jetzt wegfahren wollten, habe der Fahrer hämisch gegrinst und die Rettungskräfte gefragt, wie sie rauskommen wollten, da er die Ausfahrt versperrt habe. Der Fahrer habe sich wieder in den Pkw gesetzt und die Rettungskräfte noch 5 Minuten an der Weiterfahrt gehindert. Danach habe er das Fahrzeug zurückgesetzt und am rechten Fahrbahnrand geparkt. Das Rettungsfahrzeug sei zu diesem Zeitpunkt für weitere Einsätze eingeteilt gewesen. Die Polizeikräfte hätten den Kläger in seinem Wohnanwesen aufgesucht. Dabei habe er zugegeben, dass er der Fahrer des Fahrzeugs gewesen sei. Bei der anschließenden Beschuldigtenvernehmung habe der Kläger die Ansicht vertreten, dass sich die Rettungskräfte falsch verhalten hätten und ihn an der Wahrnehmung seines Rechts, jederzeit die Grundstückszufahrt zu betreten, gehindert hätten. Auf die Frage, ob die Rettungskräfte hätten rausfahren wollen, habe der Kläger zu verstehen gegeben, dass sie dies zwar angegeben hätten, nicht aber wann. Der Kläger habe entgegnet, dass der Rettungswagen ein Stück nach vorne fahren solle, damit er vorbeifahren könne. Übermittelt wurden auch die Zeugenaussagen der Rettungskräfte. Dabei gab einer der Rettungskräfte an, dass der Kläger gewollt habe, dass der Rettungswagen weiter in die Sackgasse fahre, damit er in seine Einfahrt komme. Dies hätte aber bedeutet, dass man mit dem großen Rettungswagen rückwärts durch die enge Sackgasse hinaus hätte manövrieren müssen. In der Beschuldigtenvernehmung äußerte sich der Kläger so, dass die Rettungskräfte noch 10 m weiterfahren hätten können. Dann hätte er auch problemlos in sein Grundstück fahren können. Sie hätten auf den Parkplätzen parken können. Es sei den Rettungskräften möglich, sich 5 m zu bewegen. Auf die Frage, warum er nicht rechts geparkt habe, gab er an, dass er 47,5 Jahre Sozialversicherungsbeiträge gezahlt habe, Steuergelder zahle und deshalb das Recht habe, in seine Garage zu fahren.

In der Akte befindet sich ein Strafbefehl wegen Nötigung (Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu 50 EUR) rechtskräftig seit 25. Juli 2019 mit dem Vermerk "mit Ausnahme der Tagessatzhöhe". Mit Urteil des Amtsgerichts ...vom 25. Juli 2019 wurde der Strafbefehl auf den Einspruch des Angeklagten dahingehend abgeändert, dass die Tagessatzhöhe auf 40 EUR festgesetzt wurde.




Das Landratsamt ordnete mit Schreiben vom 21. Oktober 2019 (zugestellt am 23. Oktober 2019) die Vorlage eines medizinisch psychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung auf der Grundlage von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV bis zum 30. Dezember 2019 an. Das Gutachten solle folgende Frage beantworten:

   "Ist trotz der aktenkundigen Straftat im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr zu erwarten, dass er künftig nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen wird?"

Mit Schreiben vom 9. Januar 2020 wurde der Kläger zur Entziehung der Fahrerlaubnis angehört.

Mit Bescheid vom 28. Januar 2020 (zugestellt am 29. Januar 2020) wurde dem Kläger die Fahrerlaubnis der Klassen A, A18, A1, B, BE, C1, C1E, L, M und T entzogen (Nr.1). Der Führerschein sei unverzüglich bei der Führerscheinstelle abzugeben (Nr. 2). Für den Fall der Nichtbefolgung der Verpflichtung in Nr. 2 werde ein Zwangsgeld in Höhe von 300 EUR angedroht (Nr. 3). Die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 werde angedroht (Nr. 4). Die Straftat, die mit rechtskräftigem Strafbefehl festgestellt worden sei, sei als erheblich einzustufen. Der Kläger habe angesichts eines unbedeutenden Anlasses, ungehindert Zugang zu seiner Grundstückszufahrt zu erhalten, einem Rettungstransportwagen willentlich den Weg zur Weiterfahrt versperrt. Es bestehe eine Wiederholungsgefahr, ein Augenblickversagen könne ausgeschlossen werden. Eine ähnliche Situation könne im Straßenverkehr jederzeit wieder auftreten. Das Ermessen des § 11 Abs. 3 FeV sei derart reduziert, dass die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens habe eingeholt werden müssen. Nachdem der Kläger das Gutachten nicht beigebracht habe, sei er gem. § 11 Abs. 8 FeV als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen einzuschätzen.

Der Kläger gab seinen Führerschein am 4. Februar 2020 beim Landratsamt ab.




Mit Schreiben vom 2. Februar 2020, eingegangen beim Verwaltungsgericht am 5. Februar 2020, erhob der Kläger Klage gegen den Bescheid. Zur Begründung führt er aus, dass zahlreiche Verstöße gegen ihn vorliegen würden (unter anderem Falschaussage, Verleumdung, falsche Verdächtigung, mittelbare Falschbeurkundung etc.). Am 29. März 2019 habe das Rettungsfahrzeug die Zufahrt zur Straße blockiert, obwohl in ca. 2 m Entfernung ein freier Parkplatz vorhanden gewesen sei. Es sei kein Fahrer dagewesen. Als dieser nach 10 Minuten gekommen sei, habe er ihn gefragt, ob er nicht etwas vorfahren könne, sodass er in seine Garage könne. Dies wurde von der Fahrerin verneint. Der Beifahrer, der zum Fahrzeug gekommen sei, um ein Transportbett zu beziehen und das Fahrzeug von innen zu besprühen, habe auf seine Anfrage ebenfalls nicht reagiert. Anschließend seien sie auf ihn zugefahren. Da er erschrocken gewesen sei, sei er zurückgefahren und habe sein Fahrzeug geparkt. Dieser Vorgang werde nun als Nötigung ausgelegt. Der Rettungswagen hätte nach vorne fahren und nach 15 m auf Parkplätzen wenden können. Obwohl er Beschwerde beim Polizeipräsidium eingelegt habe, da der Vorfall in der Zeitung (auf Grund eines Polizeiberichts) völlig falsch wiedergegeben worden sei, sei Anfang Mai der Strafbefehl gekommen. Er habe "Widerspruch" eingelegt und es sei zur Gerichtsverhandlung gekommen. Auch hiergegen habe er Beschwerde beim Justizministerium eingereicht, da er nicht gehört worden sei. Er habe zudem das Landeskriminalamt eingeschaltet und Anzeige gegen die Richterin, den Oberstaatsanwalt, verschiedene Staatsanwälte und den Sachbearbeiter des Landratsamts gestellt. Zudem habe er sich an den Bayerischen Justizminister gewandt. Für den Vorfall gebe es keine Beweise. Da er schon vor der Beweisaufnahme von der Richterin verurteilt worden sei, habe er ein Schriftstück unterschrieben, was er nicht hätte tun dürfen. Er habe nur noch rausgewollt und habe auf das Justiz- und das Innenministerium vertraut. Nur zu seiner Rentenhöhe habe er sich äußern dürfen, im Übrigen nicht. Die Richterin sei befangen gewesen. Er habe den Rettungswagen nicht blockiert, da dazwischen mindestens 5 m Platz gewesen sei.

Mit weiterem Schreiben und Anlagen weist der Kläger darauf hin, dass er das Rettungsfahrzeug nicht blockiert habe, da die Einbahn straße an dieser Stelle zweispurig sei und es auf den Gegenverkehr hätte hinausfahren können. Das Rettungsfahrzeug habe sich im absoluten Halteverbot ohne zureichenden Grund befunden.

Das Gericht hörte die Parteien zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid an. Das Landratsamt äußerte darauf mit Schreiben vom 28. April 2020, dass die Klage unbegründet sei. Es handele sich um eine erhebliche Straftat, weswegen eine Auseinandersetzung mit dem Punktesystem nicht erforderlich gewesen sei. Eine solche Auseinandersetzung würde der vorliegenden Art der Nötigung nicht gerecht werden. Es sei im Ermessen berücksichtigt worden, dass es sich um einen Rettungstransportwagen handele und der Kläger kein Fehlverhalten eingeräumt habe. Einer einzelnen Zitierung hätte es in der Ermessensbegründung nicht bedurft. Der Kläger habe durch sein Verhalten billigend in Kauf genommen, Menschenleben zu verletzen. Auch dies hätte nicht in den Ermessenserwägungen ausgeführt werden müssen. Es sei gewürdigt worden, dass sich der Sachverhalt nicht als "normale" Nötigung darstelle. Dass das Verfahren mit rechtskräftiger Verurteilung nicht zusätzlich mit einer Entscheidung versehen worden sei, die zu einem Punkteeintrag geführt habe, sei unerheblich. Die Eignungszweifel seien nach der erfolgten Anordnung bestätigt worden, da der Kläger bei wiederholten Äußerungen (Vorsprachen, gestellte Anzeigen und eingelegte Beschwerden) trotz des feststehenden Sachverhalts ein Fehlverhalten verneint habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Behördenakten ergänzend Bezug genommen (§ 84 Abs. 1 Satz 3, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).




Entscheidungsgründe:


I.

Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, der als Urteil wirkt, entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Die Beteiligten wurden gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

II.

Der Bescheid des Landratsamts ...vom 28. Januar 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Bringt ein Fahrerlaubnisinhaber ein behördlich angeordnetes Fahreignungsgutachten nicht fristgerecht bei, darf die Fahrerlaubnisbehörde nach § 11 Abs. 8 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV) zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt ihrer Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis darauf schließen, dass dem Betroffenen die Fahreignung fehlt.




Der Schluss auf die Nichteignung des Betroffenen im Falle grundloser Nichtbeibringung des Gutachtens ist gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV aber nur dann zulässig, wenn die Anordnung zur Gutachtensbeibringung rechtmäßig war, wenn also die rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung erfüllt sind und die Anordnung auch im Übrigen den Anforderungen des § 11 FeV entspricht. Voraussetzung ist insbesondere, dass die Anordnung zur Beibringung des Gutachtens anlassbezogen und verhältnismäßig erfolgt ist. Die Gutachtensanordnung muss weiter hinreichend bestimmt und aus sich heraus verständlich sein. Der Betroffene muss der Gutachtensaufforderung entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das Verlautbarte die behördlichen Zweifel an seiner Fahreignung zu rechtfertigen vermag. Auch der Gutachter ist an die Gutachtensaufforderung und die dort genannte Rechtsgrundlage gebunden; es ist nicht seine Aufgabe, die zutreffende Rechtsgrundlage und damit seine eigene Beurteilungsgrundlage selbst festzulegen (vgl. auch OVG NRW, B.v. 7.2.2013 - 16 E 1257/12 - SVR 2013, 314). An die Rechtmäßigkeit der Gutachtensaufforderung sind strenge Maßstäbe anzulegen, weil der Kläger die Gutachtensaufforderung mangels Verwaltungsaktqualität nicht direkt anfechten kann. Er trägt das Risiko, dass ihm gegebenenfalls die Fahrerlaubnis bei einer Weigerung deswegen entzogen wird. Daher kann auf die strikte Einhaltung der vom Verordnungsgeber für die Rechtmäßigkeit einer solchen Anordnung aufgestellten materiellen und formalen Voraussetzungen nicht verzichtet werden (VG Augsburg, B.v. 4.6.2014 - Au 7 S 14.748 - juris; BayVGH, B.v. 27.11.2012 - 11 ZB 12.1596 - ZfSch 2013, 177).

An einer rechtmäßigen Gutachtensanordnung fehlt es hier.

1. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 1 FeV kann die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden, wenn der Fahrerlaubnisinhaber eine erhebliche Straftat begangen hat, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr steht. Der auch in § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG sowie § 11 Abs. 1 Satz 3 FeV vorkommende, aber weder im Gesetz noch in der FeV definierte Begriff der Erheblichkeit einer Straftat ist dahingehend zu verstehen, dass es gerade auf die Gewichtigkeit der Tat für die Bewertung der Fahreignung ankommt (vgl. OVG NRW, B.v. 11.4.2017 - 16 E 132/16 - juris; HessVGH, B.v. 15.9.2010 - 2 A 1197/10.Z - juris).




An die Annahme eines hinreichenden Gewichts der Tat für die Bewertung der Fahreignung sind im Rahmen von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 1 FeV keine zu hohen Anforderungen zu stellen. So wäre es verfehlt, wollte man eine erhebliche Straftat im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 1 FeV nur dann annehmen, wenn bereits allein aufgrund des Gewichts der Straftat die fehlende Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers - wie dies wohl § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG voraussetzt - erwiesen ist; die in § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 1 FeV vorgesehene Begutachtung setzt vielmehr gerade voraus, dass die Ungeeignetheit des Betroffenen noch nicht feststeht, sondern lediglich zu befürchten ist (vgl. § 11 Abs. 7 FeV). Auch würden übermäßige Anforderungen an den Begriff der "erheblichen Straftat" gestellt, wollte man für die sich aus der (Anlass-)Straftat ergebenden Eignungszweifel ein solches Gewicht fordern, dass der Behörde im Ergebnis kein oder kaum Spielraum hinsichtlich des "Ob" der Gutachtensanordnung verbliebe. Denn nach ihrem Wortlaut handelt es sich bei § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 1 FeV weder um eine Ist- noch eine Soll-, sondern um eine Kann-Vorschrift; ob ein Gutachten eingeholt wird, steht bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde. Damit dieses nicht leerläuft, sind auch solche Straftaten als "erheblich" im Sinne der Vorschrift anzusehen, die es - isoliert betrachtet - sowohl vertretbar erscheinen lassen, ein medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen als auch von einer Gutachtensanordnung abzusehen, so dass die Frage, ob eine Gutachtensanordnung ergeht, erst nach Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung beantwortet werden kann. Zudem sind in systematischer Hinsicht Wertungswidersprüche mit der Vorschrift des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 FeV zu vermeiden, wonach die Fahrerlaubnisbehörde auch bei einem erheblichen Verstoß gegen (nicht strafbewehrte) verkehrsrechtliche Vorschriften zur Gutachtensanordnung berechtigt sein kann. Im Rahmen von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 FeV spricht viel dafür, dass regelmäßig bereits die Eintragungspflichtigkeit eines Verkehrsverstoßes dessen Erheblichkeit indiziert, denn eintragungspflichtig sind nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem mit wenigen Ausnahmen nur verkehrssicherheitsrelevante Zuwiderhandlungen (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 11 FeV Rn. 34). Jedenfalls ist im Rahmen von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 FeV ein Verkehrsverstoß, der nicht nur gerade die Grenze zur Eintragungspflichtigkeit überschreitet, sondern deutlich im eintragungspflichtigen Bereich liegt, grundsätzlich als erheblicher Verstoß gegen eine verkehrsrechtliche Vorschrift anzusehen (vgl. in diese Richtung BayVGH, B.v. 7.8.2014 - 11 CS 14.352 - NJW 2014, 3802). Übertragen auf die Frage der Erheblichkeit einer Straftat im Sinn von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 1 FeV folgt hieraus, dass jedenfalls einer Zuwiderhandlung, die deutlich im eintragungspflichtigen Bereich liegt, regelmäßig ein hinreichendes Gewicht für die Bewertung der Fahreignung zukommt und damit (gewissermaßen als Anlasstat) eine Gutachtensanordnung - abhängig allerdings von den im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigenden Umständen des jeweiligen Einzelfalls - rechtfertigen kann (VGH BW, U.v. 11.10.2017 - 10 S 746/17 - juris Rn. 34 ff. -; der VGH BW hat bei Straftaten, die nach dem gegenwärtigen Fahreignungs-Bewertungssystem jeweils mit mindestens 2 Punkten bewertet sind, die Erheblichkeit bejaht).

2. Die durch Strafbefehl vom 21. Mai 2019 geahndete Nötigung wurde mit Urteil des Amtsgerichts ... (rechtskräftig seit 25. Juli 2019 - ...) mit einer Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu 40 EUR geahndet. Ein Fahrverbot wurde nicht verhängt. Nach Anlage 13 zur FeV wird eine Nötigung nur dann mit Punkten im Fahreignungs-Bewertungssystem berücksichtigt, wenn entweder ein Fahrverbot angeordnet worden ist (und die Tat in Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen wurde - 2 Punkte) oder soweit die Entziehung der Fahrerlaubnis oder eine isolierte Sperre angeordnet wurde (3 Punkte). Beides war hier nicht der Fall, weshalb die Nötigung im Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mit Punkten zu bewerten ist.

Gleichwohl mag die vom Kläger begangene Nötigung dennoch eine erhebliche Straftat, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr steht (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV) sein, da der Kläger durch sein Verhalten einen Rettungswagen an der Weiterfahrt gehindert hat. Das Gericht teilt die Auffassung des Landratsamts, dass er dadurch billigend in Kauf genommen hat, dass ein Notfalleinsatz blockiert wird und dass ein solches Verhalten der Situation nach völlig unangemessen ist und auch nicht durch den Vortrag des Klägers im Klageverfahren gerechtfertigt werden kann.

3. Dies kann aber dahingestellt bleiben, da die Anordnung jedenfalls ermessensfehlerhaft ist. Denn die Fahrerlaubnisbehörde muss bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 9 FeV das ihr eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausüben. Im Rahmen des durch § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV eröffneten Ermessens muss die Fahrerlaubnisbehörde anhand aller Umstände des konkreten Falls prüfen, ob die sich aus der begangenen (Anlass-)Straftat (sowie ggf. weiteren Umständen) ergebenden Eignungszweifel hinreichend gewichtig sind, um die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen, und ihre diesbezüglichen Erwägungen auch offenlegen (VGH BW, U.v. 11.10.2017, a.a.O. Rn. 38).

Bei der Beantwortung der Frage, ob die bestehenden Eignungszweifel ein hinreichendes, die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigendes Gewicht aufweisen, muss die Behörde im Rahmen ihrer Ermessensausübung zudem Wertungswidersprüche zu anderen die Fahreignung bzw. die Möglichkeiten einer Begutachtung betreffenden Vorschriften vermeiden. So darf sie nicht außer Acht lassen, dass nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem mit Punkten bewertete Verkehrsverstöße grundsätzlich noch keine Eignungsüberprüfung auslösen (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 3 StVG).


Hierzu sind folgende Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ergangen (B.v. 7.8.2014 - 11 CS 14.352 - juris Rn. 26 - 28):

   "Für ein Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde außerhalb des Punktsystems bestehen nach der Rechtsprechung hohe Anforderungen. Je schwerer eine Verletzung gesetzlicher Vorschriften in Beziehung auf die Verkehrssicherheit wiegt oder je häufiger der Betroffene gegen gesetzliche Vorschriften verstößt, desto geringere Anforderungen sind an die Ermessensbetätigung zu stellen. Umgekehrt kann eine Gutachtensanordnung wegen eines einmaligen erheblichen oder wegen wiederholter weniger nichterheblicher Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften nur Bestand haben, wenn die Fahrerlaubnisbehörde über eine schematische Bezugnahme auf die Verkehrsverstöße hinaus tatsächliche Ermittlungen und Erwägungen angestellt hat, die eine solche Entscheidung im Einzelfall zu tragen vermögen.

In diese Betrachtung hat weiter das vom Gesetzgeber eingeführte Punktsystem (§ 4 StVG, §§ 40 ff FeV, Anlage 13 zur FeV) einzufließen. Das Punktsystem beinhaltet die Bewertung von Verkehrszuwiderhandlungen (Straftaten und Ordnungswidrigkeiten) mit einer nach Art und Schwere der Verstöße festgelegten Punktzahl und das Ergreifen abgestufter Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde bei Erreichen oder Überschreiten bestimmter Punkteschwellen. Es bezweckt eine Vereinheitlichung der Behandlung von Mehrfachtätern und soll dem Betroffenen Gelegenheit geben, aufgetretene Mängel durch Aufbauseminare und verkehrspsychologische Beratung möglichst frühzeitig zu beseitigen. Das abgestufte und transparente System rechtfertigt die Annahme, dass Personen, die 18 Punkte oder mehr erreicht haben, als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen sind. Aus dem Punktsystem ergibt sich aber auch, dass der Gesetzgeber bewusst die weitere Straßenverkehrsteilnahme von Kraftfahrern mit einem nicht unerheblichen "Sündenregister" in Kauf genommen und die Entziehung der Fahrerlaubnis von der zuvor eingeräumten Möglichkeit, Angebote und Hilfestellungen wahrzunehmen, abhängig gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 2.6.2013 - 11 CS 03.743 - juris). Hiervon darf nur abgewichen werden, wenn dies die Verkehrssicherheit und damit die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer gebietet. Durch die Abweichung vom Punktsystem auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG wird im öffentlichen Interesse sichergestellt, dass ungeeignete Kraftfahrer schon vor Erreichen von 18 Punkten im Verkehrszentralregister von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr wirksam ausgeschlossen werden können oder besondere Eignungszweifel durch weitergehende Maßnahmen, wie z.B. eine medizinisch-psychologische Untersuchung, sofort geklärt werden können. Ein Verlassen des Punktsystems auf der Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG muss aber die Ausnahme bleiben und vom Vorliegen besonderer Gründe abhängen. Maßnahmen außerhalb des Punktsystems wie die Entziehung der Fahrerlaubnis oder zumindest die Anordnung zur Beibringung eines Eignungsgutachtens sind deshalb nur in besonderen Ausnahmekonstellationen zulässig, wenn ein Fahrerlaubnisinhaber beispielsweise durch die beharrliche und häufige Begehung von - isoliert betrachtet auch nicht gewichtigen - Verkehrszuwiderhandlungen oder durch einen erheblichen Verkehrsverstoß verkehrsauffällig geworden ist und sich aus einem derartigen Verhalten Fahreignungsmängel oder zumindest Eignungsbedenken in charakterlicher Hinsicht ableiten lassen (vgl. VGH BW, B.v. 18.03.2010 - 10 S 2234/09). Die Fahrerlaubnisbehörde muss dabei im Einzelnen unter Auswertung aller konkreten Umstände näher begründen, warum sie aus besonderen Gründen im Einzelfall, der sich erheblich vom Normalfall sonstiger Verkehrsteilnehmer mit einem Punktestand abheben muss, aufgrund einer Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers oder wegen der Art, der Häufigkeit oder des konkreten Hergangs der Verkehrsverstöße Eignungsbedenken hegt, die sofortige weitergehende Aufklärungsmaßnahmen etwa durch eine medizinisch-psychologische Untersuchung gebieten, ohne dem Betroffenen die Chance zu belassen, zuvor die abgestuften Hilfsangebote des § 4 StVG wahrzunehmen.

Wann ein solcher Ausnahmefall gegeben ist, der in Anwendung der vorstehenden Grundsätze die Entziehung der Fahrerlaubnis oder die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zur Klärung von charakterlichen Fahreignungszweifel erfordert, obwohl der Betroffene die Schwelle von 18 Punkten noch nicht erreicht hat, ist schließlich eine Frage der Würdigung der Umstände des Einzelfalls und lässt sich nicht verallgemeinernd und entsprechend fallübergreifend beantworten."

Die Anordnung vom 21. Oktober 2019 lässt einzelfallbezogene Ermessenserwägungen hinsichtlich der Auseinandersetzung damit, dass die Nötigung nicht einmal mit Punkten zu bewerten ist, vermissen, weshalb ein Ermessensausfall vorliegt. Es wird lediglich pauschal ausgeführt, dass die einmalige unangemessene Reaktion des Klägers darauf schließen lasse, dass er wiederholt "Straftaten bzw. erhebliche Straftaten" begehe. Im weiteren Absatz würdigt das Landratsamt, dass der Kläger durch das Versperren die Konfliktsituation bewusst herbeigeführt habe und es sich nicht um ein Augenblickversagen handele. Diese Würdigung ist aber bereits im Begriff der Nötigung selbst enthalten, da diese ein Vorsatzdelikt darstellt. Weiter wird ausgeführt, dass der Kläger nicht in einer unverschuldeten Situation unangemessen reagiert habe. Wäre dies der Fall gewesen, so würde aber schon nicht der Tatbestand einer Nötigung vorliegen. Konkrete Erwägungen, warum die Tat Verhaltensmuster deutlich werden lässt, dass jenseits des Punktesystems solche charakterlichen Eignungsmängel vorliegen, die ausnahmsweise die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigen, wurden in der Anordnung nicht erwähnt. Die Formulierung: "Auf Grund der beschriebenen vorliegenden Verhaltensmuster verstärken sich die Fahreignungszweifel so erheblich, dass nach Abwägung der Gesamtumstände das... eingeräumte Ermessen derart reduziert ist, dass wir die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens...anordnen", lässt darauf schließen, dass nicht erkannt wurde, dass eher ein Ausnahmefall denn der Regelfall für die Anordnung eines Gutachtens vorliegt, zumal sich die Beschreibung der "Verhaltensmuster" auf die tatbestandliche Aufzählung der Nötigungssituation beschränkt. Nicht aufgeführt wird, welche Besonderheiten den Einzelfall vom Regelfall im Sinne einer deutlich erhöhten Gefährlichkeit für den öffentlichen Straßenverkehr abheben. Hierzu genügt die Wiedergabe des Tatbestands der Nötigungshandlung nicht, zumal die Amtsrichterin kein Fahrverbot verhängt hat.



Die im Schreiben vom 28. April 2020 geäußerten Erwägungen des Landratsamts stellen Ermessenserwägungen dar, die unter Umständen ausreichend sein könnten, wären sie in der Begutachtensanordnung tatsächlich erfolgt. Die vom Landratsamt erst in diesem Schreiben geäußerten Ermessenserwägungen waren auch nicht in der "Zitierung" oder in der "Aufzählung" entbehrlich, da es sich um über den Tatbestand der begangenen Nötigung hinausgehende Erwägungen handelt. Diese müssen entgegen der Ansicht des Landratsamts in der Anordnung selbst genannt werden, ansonsten wäre die Anordnung auf Ermessensfehler nicht überprüfbar (vgl. auch VGH BW, U.v. 11.10.2017 - 10 S 746/17 - juris, wonach die Erwägungen offenzulegen sind). Das Gericht sieht in der Darstellung der Straftat selbst keinen Fall, der die Annahme einer Ermessensreduktion auf Null rechtfertigt. Eine Auseinandersetzung mit dem Punktesystem erfolgte erstmals mit Schreiben vom 8. April 2020, auch die Erwägungen darüber, dass der Kläger sein Fehlverhalten nicht einräumte und durch wiederholte Äußerungen bei Vorsprachen und in Anzeigen und Beschwerden seine Uneinsichtigkeit zeigte, sind in der Anordnung nicht erwähnt. Das Gericht teilt die Ansicht des Landratsamts, dass eine rechtmäßige Ermessenserwägung sein kann, dass ein Fahrerlaubnisinhaber sein diesbezügliches Fehlverhalten nicht einsieht und die Gefahr besteht, dass durch rücksichtsloses Interpretieren seiner Freiheiten Rechte im Straßenverkehr verletzt werden können. Dies muss aber in der Anordnung zum Ausdruck kommen und schwingt nicht schon im Tatbestand des Blockierens eines Rettungsfahrzeugs, das erst noch zu einem möglichen weiteren Einsatz fahren muss (der sich noch nicht angekündigt hat), mit.

4. Nach alledem durfte der Beklagte aufgrund der Nichtbeibringung des geforderten Gutachtens nicht auf die Nichteignung des Klägers schließen. Vielmehr sind die Gutachtensaufforderung vom 21. Oktober 2019 und der Entziehungsbescheid vom 28. Januar 2020 rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Die Rechtswidrigkeitsfolge erstreckt sich auch auf die Aufforderung, den Führerschein abzuliefern, und die Zwangsgeldandrohung.

Es wird zudem darauf hingewiesen, dass die Klageerhebung auf Grund des angeordneten Sofortvollzugs im Bescheid keine aufschiebende Wirkung entfaltet und der Kläger vor Rechtskraft der Entscheidung nicht berechtigt ist, ein fahrerlaubnispflichtiges Fahrzeug zu führen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung basiert auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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