Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Beschluss vom 04.01.2006 - 12 U 202/05 - Kein Vertrauen auf Freibleiben des rechten Fahrstreifens beim Anfahren vom Fahrbahnrand

KG Berlin v. 04.01.2006: Kein Vertrauen auf Freibleiben des rechten Fahrstreifens beim Anfahren vom Fahrbahnrand


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 04.01.2006 - 12 U 202/05) hat entschieden:
  1. Der vom Fahrbahnrand oder aus einer Parklücke Anfahrende darf nicht darauf vertrauen, dass der rechte Fahrstreifen frei bleibt, sondern muss stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen. Kommt es in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Anfahren vom Fahrbahnrand zu einer Kollision mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs, das nach rechts den Fahrstreifen wechselt, ohne den Anfahrenden rechtzeitig erkennen zu können, so haftet der Anfahrende allein; denn der Schutzzweck des § 7 Abs. 5 StVO dient nicht dem ruhenden Verkehr oder dem Schutz vom Fahrbahnrand anfahrender Verkehrsteilnehmer.

  2. Der Verzicht eines vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmers auf sein Vorrecht gegenüber einem vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmer hat keine Bedeutung für andere, gegenüber dem Ausparkenden bevorrechtigte Fahrzeuge.

Siehe auch Anfahren vom Fahrbahnrand und Verzicht auf das Vorfahrtrecht - Vorrangverzicht


Zum Sachverhalt: Der Kläger verlangte im Berufungsverfahren nur noch 20 % des ursprünglich mit der Klage geltend gemachten Anspruchs.

Er meinte, er habe sich mit äußerster Sorgfalt langsam aus der Parklücke herausgetastet und habe den Unfall nicht vermeiden können, was sich aus der Beweisaufnahme und den Akten des Polizeipräsidenten in Berlin ergäbe; zu Unrecht habe das Landgericht ihm danach ein Verschulden angelastet, obwohl er nicht habe wenden wollen. Auch die Zeugin Sch. habe bekundet, er sei „ganz langsam“ aus der Parklücke herausgefahren und der Unfall sei noch vor dem Mittelstreifen geschehen.

Der Beklagte zu 3) habe dagegen in für ihn unklarer Verkehrslage überholt und beim Einscheren nach rechts nicht darauf geachtet, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht behindert oder geschädigt würden.

Das Berufungsgericht beabsichtigte, die Berufung als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... a) Zutreffend hat das Landgericht auf die Sorgfaltspflichten beim Anfahren vom Fahrbahnrand (§ 10 StVO) hingewiesen, die auch gelten, wenn der Kläger - wie die Beklagten in der Klageerwiderung vorgetragen haben - von einem Parkbereich auf dem rechten Bordstein, also von einem anderen Straßenteil, auf die Fahrbahn eingefahren ist.

§ 10 StVO ordnet an, dass der Verkehrsteilnehmer, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen.

Vom Anfahrenden wird damit äußerste Sorgfalt gefordert (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., StVO § 10 Rdnr. 10 m. w. N.).

Diese äußerste Sorgfalt hat der Kläger nicht eingehalten; zutreffend hat das Landgericht auf den gegen ihn sprechenden Beweis des ersten Anscheins hingewiesen, den er nicht erschüttert oder widerlegt hat; so hat der Kläger nicht seine Behauptung bewiesen, der Beklagte zu 3) hätte zunächst hinter dem Fahrzeug der Zeugin Sch. angehalten und er - der Kläger - habe sich dessen versichert bevor er angefahren sei (vgl. Seite 3 der Klageschrift); dies haben die Beklagten in der Klageerwiderung bestritten und die Ch. Sch. hat als Zeugin derartiges in ihrer Aussage vom 6. September 2005 vor dem Landgericht nicht bestätigt („Nach meinem Gefühl waren hinter mir vielleicht zwei oder drei Autos. Jedenfalls war das überholende Fahrzeug nicht das Fahrzeug, das direkt hinter mir war“, Seite 2 des Protokolls).

Demgegenüber hat die Zeugin erklärt, der Kläger sei auf die Gegenfahrbahn gefahren, sie könne jedoch nicht genau sagen, ob der Unfall vor der Mittellinie oder hinter der Mittellinie stattgefunden habe; die Zeugin hat das Fahrverhalten des Klägers als Wenden in die Gegenrichtung gedeutet und in ihrer Skizze in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht entsprechend dargestellt.

Es kann dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich Wenden wollte oder nicht, jedenfalls steht nach der Aussage der Zeugin fest, dass der Kläger in Richtung Mittellinie gefahren ist und sein Fahrzeug nicht möglichst weit rechts zum Einordnen in den fließenden Verkehr bewegt hat. Ferner steht nach der Aussage der Zeugin fest, dass der Kläger „langsam aus der Parklücke herausgefahren“ ist (Seite 2, Abs. 4 des Protokolls). Damit hat er sich nicht - wie er meint - mit größter Sorgfalt hineingetastet in die Fahrbahn. Denn „Hineintasten“ im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO (Pflichten des Wartepflichtigen gegenüber dem Bevorrechtigten, die für die hohen Sorgfaltspflichten nach § 10 StVO entsprechend gelten) bedeutet nicht langsam fahren, sondern zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten (BGH NJW 1985, 2757; Senat NZV 1999, 85 = KGR 1999, 315; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Auflage, StVO § 8 Rdnr. 58); das bedeutet ein Vorrollen um jeweils nur wenige Zentimeter, danach ein Anhalten und ein mehrfaches Wiederholen dieses Vorgangs über einen längeren Zeitraum. Der Wartepflichtige genügt dieser Pflicht nicht, wenn er einfach bis zum Übersichtspunkt ohne Unterbrechung vorrollt (vgl. Senat, KGR 2003, 235 = VRS 105, 104 = NZV 2003, 575; KGR 2000, 135 = DAR 2000, 260 = NZV 2000, 377 = VM 2000, 67 Nr. 77).

Konsequenterweise lässt sich der Kläger im Berufungsverfahren auch den überwiegenden Haftungsanteil mit 80 % anrechnen.

b) Soweit der Kläger meint, in Abwägung zu seiner eigenen Sorgfaltspflichtverletzung müssten die Beklagten zu 20 % mithaften (§ 17 StVG), teilt der Senat diese Auffassung nicht.

Gegenüber der Sorgfaltspflichtverletzung des in den Verkehr einfahrenden tritt die Betriebsgefahr des im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeuges im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVO zurück (vgl. Senat, VM 2001, 27 Nr. 31 = KGR 2001, 27 = DAR 2001, 34 L; ständige Rechtsprechung, vgl. Hentschel, a. a. O., StVG § 17 Rdnr. 18).

Umstände und Tatsachen, aus denen ein Mithaftungsanteil der Beklagten wegen einer Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zu 3) abzuleiten ist, sind nicht festzustellen.

Den Beklagten zu 3) trifft ein Mitverschulden am Unfall weder unter dem Gesichtspunkt eines Überholens in unklarer Verkehrslage (nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO verboten) noch wegen eines sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsels (§ 7 Abs. 5 StVO).

aa) Zunächst ist hervorzuheben, dass der Beklagte zu 3) zwar das verkehrsbedingt wartende Fahrzeug der Zeugin Sch. im Rechtssinne „überholt“ hat, nicht aber das Fahrzeug des Klägers. Denn „Überholen“ im Sinne des § 5 StVO ist der tatsächliche absichtslose Vorgang des Vorbeifahrens an einem anderen Verkehrsteilnehmer, der sich in derselben Richtung bewegt oder verkehrsbedingt wartet (vgl. Hentschel, a. a. O., StVO § 5 Rdnr. 16 m. w. N.). Das Fahrzeug des Klägers hat im Unfallzeitpunkt weder verkehrsbedingt gewartet noch sich in derselben Richtung wie das vom Beklagten zu 1) geführte Kraftfahrzeug bewegt, sondern ist mit seiner linken vorderen Ecke und Seite gegen die vordere rechte Front des vom Beklagten zu 3) geführten Kraftfahrzeugs geraten.

Auch bezwecken selbst Überholverbote nicht den Schutz des aus einem Grundstück durch eine Lücke in einer Kolonne in die Fahrbahn einfahrenden Verkehrsteilnehmers (vgl. Senat, Urteile vom 12. Februar 1998 - 12 U 5603/96 -, NZV 1998, 376 = VersR 1999, 1382 = VM 1998, 76 Nr. 94 = KGR 1998, 229).

Entsprechendes gilt erst recht gegenüber vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmern.

Abgesehen davon, dass das Verbot, in unklarer Verkehrslage zu überholen, nicht den Kläger als Ausparkenden schützt, liegen auch die Voraussetzungen für ein solches Überholverbot im Streitfall nicht vor: Eine „unklare Verkehrslage“, die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO das Überholen verbietet, liegt vor, wenn nach allen Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf; sie ist insbesondere dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden; dies ist der Fall, wenn an einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, dies der nachfolgende Verkehr erkennen konnte und dem nachfolgenden überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war. Dagegen liegt eine unklare Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt, selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet haben sollte (ständige Rechtsprechung, vgl. Senat DAR 2002, 557 = VRS 103, 403 = KGR 2003, 3 = NZV 2003, 89 = VersR 2003, 259, Ls. = MDR 2003, 507).

All dies ist hier nicht gegeben.

bb) Auch aus einem etwaigen sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 3) nach rechts folgt keine Mithaftung der Beklagten; denn die Sorgfaltsvorschrift des § 7 Abs. 5 StVO schützt nicht den Ausparker: Wer vom Fahrbahnrand anfährt oder von einem anderen Straßenteil in die Fahrbahn einfährt, hat sich nach § 10 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Der Anfahrende darf nicht darauf vertrauen, dass der rechte Fahrstreifen frei bleibt, sondern muss stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen. Kommt es in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Anfahren vom Fahrbahnrand zu einer Kollision mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs, das nach rechts den Fahrstreifen wechselt, ohne den Anfahrenden rechtzeitig erkennen zu können, so haftet der Anfahrende allein; denn der Schutzzweck des § 7 Abs. 5 StVO dient nicht dem ruhenden Verkehr oder dem Schutz vom Fahrbahnrand anfahrender Verkehrsteilnehmer (Senat, DAR 2004, 387 = VRS 106, 443 = KGR 2004, 282 = NZV 2004, 623; OLG München, NJW-RR 1994, 1443; Hentschel, a.a.O., StVO § 7 Rdnr. 17; Haarmann VersR 1986, 667; DAR 1987, 145).

c) Schließlich kann sich der Kläger auch nicht mit Erfolg auf die von ihm auf Seite 2, letzter Absatz, seiner Berufungsbegründung zitierten Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte dafür berufen, dass die Beklagten ihm 20 % seines Schadens zu ersetzen hätten.

In dem von ihm zitierten Urteil des OLG Düsseldorf, VersR 1978, 582, sind lediglich Ausführungen zum Anscheinsbeweis gegen den vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmer enthalten und nichts zu einer etwaigen Mithaftungsquote des Unfallgegners.

Das Urteil des OLG Frankfurt, VersR 1974, 92, ist von den Besonderheiten des dortigen Falles geprägt; es behandelt einen Auffahrunfall nach Anfahren vom Fahrbahnrand, wobei der Auffahrende ein Schuldbekenntnis unterschrieben hat und im Berufungsverfahren - aus welchen Gründen auch immer - freiwillig seine Mithaftung zu 1/3 akzeptiert hat.

Das OLG Schleswig, VersR 1979, 362, behandelt ebenfalls einen Auffahrunfall, wobei es dem Auffahrenden allein wegen der Betriebsgefahr des auffahrenden Fahrzeugs eine Mithaftung von 20 % angelastet hat; diese Rechtsprechung aus dem Jahre 1978 ist - wie vorstehend unter 1. b) ausgeführt - nach heutiger ständiger Rechtsprechung überholt.

2. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass der Verzicht eines vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmers (hier. Zeugin Schäfer) auf sein Vorrecht gegenüber einem vom Fahrbahnrand Anfahrenden keine Bedeutung hat zu Lasten anderer, gegenüber dem Ausparkenden bevorrechtigter Fahrzeuge (vgl. Senat, DAR 1971, 237; MDR 1981, 1023 = VersR 1982, 583).

Auch die Polizeibehörde hat lediglich ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen den Kläger wegen Verstoßes gegen § 10 StVO eingeleitet, nicht dagegen ein Verfahren gegen den Beklagten zu 3). ..."